UrsprungGeschichte der Hausnummer

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Mehr als eine Zahl: die Hausnummer. (Bild: GI)

Mehr als eine Zahl: die Hausnummer. (Bild: GI)

Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein gab es in den meisten Orten Europas keine Hausnummern. Man kennt sich mit Namen, Fremde aber müssen sich mühsam durchfragen. Als Wegweiser dienen Familienwappen und Handwerksschilder an den Hauswänden, auch haben viele Häuser Eigennamen, die zwar als offizielle Adresse gelten, aber nicht immer eindeutig sind. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts heißen gleich sechs Häuser in der Wiener Innenstadt „Zum goldenen Adler“ - und weitere 23 Häuser in den Vorstädten. Das stört nicht nur die Boten.

Mit Leiter und Farbtopf

In Paris gibt Martin Kreenfelt de Storcks das Adressbuch „Almanach de Paris“ heraus. Dabei orientiert er sich mehr schlecht als recht an den Nummern der Straßenlaternen. Was fehlt, ist ein eindeutiges System. De Storcks beschließt selbst Hand anzulegen. Mit einer Leiter und einem Farbtopf bewaffnet zieht er nachts durch die Straßen und pinselt unter den argwöhnischen Blicken der Anwohner kurzerhand Nummern oberhalb der Haustüren auf die Wände.

Paris wird dann auch die erste Stadt, die ganz offiziell ihre Häuser zählt. Schon 1507 tragen die Gebäude auf dem Pont Notre-Dame Ziffern. In der nachrevolutionären Hauptstadt werden um 1790 ganze Straßenzüge in Sektionen zusammengefasst, um die Erhebung der Grundsteuer zu erleichtern. Bis heute haben sich die zweifarbigen Schilder erhalten, die neben der Hausnummer auch die Ziffer des Arrondissements zeigen.

Das Pariser Verfahren ist Vorbild für viele Städte Europas. Der Verwaltungsstaat strebt nach mehr Kontrolle der rasch wachsenden Städte. „Die Nummern der Häuser sollten vor allem den staatlichen Zugriff auf die in ihnen lebenden Untertanen ermöglichen“, sagt der Stadthistoriker Anton Tantner. In seinem Buch „Die Hausnummer“ widmet er sich diesem lange vernachlässigten Detail urbaner Geschichte. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht nur um eine Fußnote der Baugeschichte. Hinter ihr verbirgt sich ein modernes Ordnungssystem, das nicht zufällig im hierarchisch organisierten Absolutismus entsteht. Oft ist es das Militär, das die Nummerierung der Städte durchsetzt. In Böhmen und Österreich soll das „Konskriptionssystem“ der Armee die Rekrutierung wehrfähiger Männer erleichtern. In anderen Städten drängt die Polizei auf die Häuserzählung. In München erhält 1770 der Maler Franz Gaulrapp den Auftrag, die Häuser der Stadtviertel getrennt zu nummerieren. Dabei zählt er nicht einzelne Straßen, sondern ganze Bezirke durch. Das Verfahren hat Erfolg. Die Hofburg in Wien oder die Burg auf dem Hradschin in Prag erhalten die Nummer eins, von hier ausgehend winden sich die Zahlenkolonnen schneckenförmig durch die Straßen der umliegenden Bezirke. Die Redewendung von der „ersten Adresse“ hat hier ihren Ursprung.

Der Dom erhält die 2583 ½

Um die Hausnummer von anderen Inschriften, etwa dem Baujahr, zu unterscheiden, wird ihr oft die Abkürzung für das lateinische Wort „numero“ vorangestellt, ein großes N mit einem hochgestellten kleinen o. In Köln erhält der Dom die Nummer 2583 ½. Der Zusatz ½ bedeutet keineswegs, dass es sich um ein halbes Gebäude handelt, auch wenn sich der Dom zu dieser Zeit noch im Bau befindet. Stattdessen weist er auf ein Grundstück mit einem öffentlichen Gebäude hin, für das keine Steuern zu zahlen sind. In Teilen Böhmens setzen die Habsburger die Nummern zur Diskriminierung ein. Häuser von Juden werden nicht mit arabischen, sondern mit römischen Ziffern gekennzeichnet. Der Kulturkritiker Walter Benjamin nannte das Zahlensystem denn auch ein „Kontrollnetz, das seit der französischen Revolution das bürgerliche Leben immer fester in seine Maschen eingeschnürt hat“.

In vielen Städten regt sich Widerstand gegen dieses Raster, das sich nach und nach über die Städte Europas legt. Die neuen Nummern werden mit Unrat beworfen oder kurzerhand von der Wand gekratzt. Der Pariser Chronist Louis-Sébastien Mercier berichtet von Protesten gegen die nivellierende Wirkung der Nummern. Adlige Hausbesitzer zeigen sich wenig erfreut, erst an dritter oder vierter Stelle nach den Adressen von Hausbesitzern aus niederen Ständen genannt zu werden. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weigern sich die Bewohner des Pariser Arbeiterviertels Saint-Antoine, „die kalte officielle Nummer“ als Adresse anzugeben und nennen ihr Haus beim Namen.

Ausgerechnet im reformfreudigen Preußen lässt man sich mit der Nummerierung besonders lange Zeit. Für Bernhard Wittstock ist Berlin ein Kuriosum in der Geschichte der Häuserzählung. Der 53-Jährige ist im Berliner Vermessungsamt Mitte mit der Nummernvergabe beschäftigt. Seit Jahren forscht er in den Archiven über die Geschichte der Nummerierung und hat mittlerweile Quellen, Urkunden und Belege aus mehr als 200 Städten zusammengetragen.

Seine Ergebnisse hat er in dem monumentalen regionalgeschichtlichen Werk „Die Berliner Hausnummer: Von den Anfängen des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart im deutschen und europäischen Kontext“ auf nicht weniger als 2828 Seiten veröffentlicht. „Anders als in vielen Städten lässt sich in Berlin kein militärischer Anlass für die erste Hausnummerierung feststellen“, sagt der Vermessungsingenieur.

Nummern im Hufeisensystem

Vier Säulen macht der Nummernforscher aus, die für die Einführung des Zahlensystems verantwortlich waren: die Einquartierung von Soldaten, die Eintreibung von Steuern, die Brandschutzversicherung sowie die Volkszählung. Pionier der Nummerierung Berlins ist der Königliche Geheime Kriegsrath Philipp Eisenberg, der als Polizeidirektor und Stadtpräsident über Einfluss bei Hofe verfügt. Der König genehmigt die Nummerierung „um so lieber, da die bemittelten Eigentümer die hierdurch entstehenden Kosten gern selbst übernehmen und für den armen Bürger hierunter keine Lasten entstehen werden.“ Dem Staat auch nicht - eine Reglung, die bis heute in Kraft ist.

Innerhalb der Berliner Stadtmauer nummeriert man die Straßen im Hufeisensystem. Auf einer Straßenseite zählen die Zahlen von eins an hoch bis zum Ende der Straße, von dort wird in umgekehrter Richtung weitergezählt, so dass am Ende die kleinste Ziffer der höchsten gegenüberliegt. Weil aber die Straßen bald über die alten Stadtmauern hinaus verlängert werden, müssen die Häuser immer wieder neu nummeriert werden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts zählt man deshalb auf einer Straßenseite die geraden auf der anderen die ungeraden Nummern aufwärts in einer Richtung. Weil die Hufeisen-Zählweise in vielen Straßen erhalten blieb, existieren in Berlin beiden Systeme nebeneinander.

Die „blechernen kleinen Tafeln“, die einst das „Königlich-Preußische neu revidierte March-Reglement vor Seiner Königlichen Majestät“ forderte, weichen um 1800 Nummern-Blechen mit goldenen Zahlen auf blauem Grund, die mittig über der Haustür angeheftet werden. Das Märkische Museum bewahrt die ovale Hausnummer 76 mit eingestanzten Ecken, die einst an der Residenz Bismarcks in der Wilhelmstraße prangte. Später setzten sich auch in der Stadt die im Umland üblichen schwarz-weißen Nummern durch. Mit der Nostalgie ist spätestens seit Einführung der beleuchteten Hausnummer Schluss, die in Berlin seit 1975 vorgeschrieben ist.

Eine Zahl kommt zu Weltruhm

Der frühneuzeitliche Widerstand gegen die Nummern ist lang erloschen, heute gelten sie als schmückendes Design-Element. So ein Blickfang muss durchaus nicht immer die Nummer eins zeigen, an die Unternehmen so gerne ihre Firmenrepräsentanzen legen - wie jüngst der Medienkonzern Bertelsmann an der Berliner Prachtmeile „Unter den Linden“. Die aus der Zeit der Bezirksnummerierung stammende Kölner Hausnummer 4711 etwa liegt heute in der Glockengasse Nummer vier. Und was wäre die Londoner Downing Street ohne die Zehn, die ein Schildermaler auf die Tür gepinselt hat? Vermutlich nur ein Hauseingang. Erst die Zahl macht sie zur Adresse.

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