PsychologieIrrtümer über Kinder-Erziehung

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Sind sie nicht süß? (Bild: Jupiter)

Sind sie nicht süß? (Bild: Jupiter)

Dass Mütter und Väter in der Erziehung jede Menge falsch machen, ahnten wir ja längst. Nicht nur, dass ihre Kinder an der Süßigkeitenschranke der Supermarktkasse durch unmögliches Verhalten auffallen. Berge von Erziehungsratgebern und Sendeformate wie die „Super Nanny“ legen nahe: Ohne Expertenhilfe kommen Eltern heutzutage kaum klar.

Der deutsche Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann erklärt sich die Probleme mit einer tiefreichenden Verunsicherung: „Die modernen Eltern sind in Erziehungsfragen unentschlossener, als es je eine Generation vorher war. Sie wissen unheimlich viel, und sie wissen nichts.“

Elternschaft ist auch deshalb so schwierig, weil sie, als eigener Lebensabschnitt, recht neu ist. Noch vor hundert Jahren lebten in einer Familie fünf Kinder. Wer erwachsen war, war selbstverständlich auch Mutter oder Vater. Doch die Geburtenzahlen sind gesunken, Familien werden immer später gegründet. Elternschaft ist damit zu etwas Besonderem avanciert, zu einem eigenen Lebensabschnitt, der an intuitiver Selbstverständlichkeit verloren hat. Im diffusen Feld zwischen ultraliberalem Laisser-faire und rohrstockgestützter Steinzeitpädagogik haben sich über die Jahrzehnte etliche Missverständnisse verfestigt.

Die Frage nach der richtigen Erziehung ist eine Dauerdebatte um die Entscheidung: Freiheit, oder nicht Freiheit? Die Begeisterung an der antiautoritären Erziehung ist bereits in den 70er Jahren geschwunden - auch wenn diese, zurecht, an so manchem Grundfest gerüttelt hat. 79 Prozent der Deutschen glauben einer aktuellen Studie zufolge, dass Kinder in den letzten zehn Jahren „eher zu liberal“ aufgewachsen sind. Was also ist richtig? Und vielmehr, was ist falsch? Eine kleine Anleitung zum Glücklichsein.

Lob motiviert.

In manchen Fällen kann Lob auch kontraproduktiv sein, wie eine Studienreihe an der FU Berlin gezeigt hat. Schüler, die für gute Leistungen gelobt und gleichzeitig darauf hingewiesen wurden, wie stolz der Lehrer auf sie sei, lernten anschließend weniger als ihre Klassenkameraden. Ähnlich erging es Mädchen, die für ihre besonderen Leistungen im „Jungenfach“ Physik Lob erfuhren. Die Studienautoren folgern, dass Lob nur dann etwas bringt, wenn es den - auch von den Jugendlichen selbst internalisierten - Stereotypen nicht widerspricht: Schüler wollen vom Lehrer autonom sein, Mädchen wollen nicht in Jungenfächern glänzen - und umgekehrt.

Trennungskinder haben schlechtere Karten.

Zahlreiche Forschungsprojekte an US-Universitäten belegen, dass Kinder von Soloeltern an sich keine negativen Konsequenzen für ihre Entwicklungen zu tragen haben. In den Bereichen Eigenverantwortung und Flexibilität würden sie sogar häufig höhere Fähigkeiten an den Tag legen. Kinder, die ständig dem Stress einer kaputten Elternbeziehung ausgesetzt sind, sind gefährdeter für psychische Störungen als Trennungskinder, wo Eltern einen klaren Schnitt gesetzt haben und die Modalitäten klar ausgehandelt haben, so die einhellige Meinung von Kinderpsychologen. Egal, in welchem Ausmaß ein Besuchsrecht vereinbart wurde, wichtig ist dabei eine klare Strukturierung und Regelmäßigkeit - Spontaneität und wechselnde Modalitäten sind Gift.

Man soll sich seinen Kindern total widmen.

Ja. Aber am besten nur 30 Minuten lang. Das ist besser, als den ganzen Tag widerwillig mit halber Aufmerksamkeit bei ihnen zu sein. Lassen Sie die Kinder planen, was in dieser halben Stunde passieren soll. Und: Lassen Sie sich helfen, auch wenn Schwiegereltern oder wohlmeinende Freunde noch so sehr dagegen sein mögen: Entlasten Sie sich, indem Sie Kinderkrippen und Spielgruppen nutzen, bei denen Kinder etwas anderes erleben als immer nur das eigene Zuhause. Das befördert die Selbstständigkeit des Kindes. Gleiches gilt übrigens auch für die Berufstätigkeit von Müttern. Zahlreiche Studien haben bewiesen: Ist ein Kind nicht völlig auf die Mutter fixiert, sondern baut zu weiteren Bezugspersonen eine Vertrauensbasis auf, profitiert davon seine soziale Kompetenz.

Mithilfe verdient Belohnung.

Damit Kinder als gleichberechtigte Familienmitglieder aufwachsen, darf und soll man von ihnen erwarten, ihrem Alter entsprechend zur alltäglichen Hausarbeit beizutragen. Wenn ein Sechsjähriger morgens Brötchen holt, ist das kein Grund, dass er sich dafür beim Bäcker einen Lutscher kaufen darf. Auch eine Vierjährige braucht man nicht mit der Aussicht auf ein Eis zu ködern, damit sie nach dem Essen ihren Teller in die Küche trägt. Auf diese Weise werden sie Handgriffe im Haushalt nie als selbstverständlich begreifen.

Ein Löffelchen für Mami . . .

Finger weg! Problematische Essgewohnheiten entstehen paradoxerweise meist nur, wenn sich Eltern mit der Ernährung ihrer Kinder übertriebene Mühe machen. Wer auf Mäkeleien zu sehr eingeht, tagtäglich Extrawürste brät und Spatzenesser mit Tricks zum Essen überlistet, brockt sich einen Machtkampf ein, der Eltern auf den Magen schlägt und Kindern den Appetit verdirbt. Die Eltern entscheiden, was sie ihrem Kind wann und wie anbieten. Ob und wie viel es davon essen will, bestimmt hingegen allein das Kind.

Eltern sind wie gute Freunde.

Gerade junge Eltern malen sich gerne aus, wie sie mit ihren Kindern eines Tages durch die Discotheken ziehen. So schön und verständlich der Wunsch nach solch einem Freundschaftsverhältnis ist: Kinder wären damit überfordert. Sie wollen in ihren Eltern keine Kumpel sehen, sondern Beschützer, auf deren Stärke sie sich verlassen können. Auch in der Pubertät wünschen sie sich häufig - wenn auch versteckt -, dass ihre Eltern noch die „Großen“ bleiben. Wenn Eltern und Kinder jetzt noch ständig gemeinsam auftreten, ist diese Symbiose selten im Interesse des Kindes entstanden. Meist kann hier ein Elternteil schlicht nicht loslassen und drängt sich aus dieser Angst auf.

In harmonischen Familien streiten die Kinder weniger.

Wenn sich Geschwister oft streiten, ist das eher ein Indiz dafür, dass sie sich Zuhause geliebt und geborgen fühlen. Weil Reibereien mit Bruder oder Schwester das soziales Kompetenztraining sind, streiten sich liebevoll betreute Geschwister im Durchschnitt 30 Prozent ihrer gemeinsam verbrachten Zeit. Fühlen sie sich hingegen unsicher oder werden ihnen harte Strafen angedroht, halten Geschwister fast immer zusammen. Wenn die Kinder ein Herz und eine Seele sind, ist das zwar für die Eltern angenehm, aber es ist gesünder, wenn sie sich auch mal verbal verhauen.

Langeweile ist schädlich.

In der schlimmen Ahnung, im Kampf gegen ein gelangweiltes Kind ohnehin den Kürzeren zu ziehen, schlagen Eltern allerlei sinnvollen Zeitvertreib vor („Spiel doch mit den Bauklötzen, den Barbies, räum doch mal dein Zimmer auf...“) oder erkaufen sich ihre Ruhe mit der Erlaubnis fernzusehen. Falsch. Denn Langeweile auszuhalten, lohnt sich. Aus ihr entstehen oft die besten Ideen, weil das Unterhaltungs-Vakuum Kinder zur Kreativität zwingt. So erreichen Eltern einen gewaltigen Entwicklungssprung: die wertvolle Fähigkeit, sich selbst zu beschäftigen.

Kinder sollen stillsitzen.

Die Erfindung des Stuhls bescherte Familien ein Dauerthema: Eltern wollen, dass darauf still und möglichst aufrecht gesessen wird. Kinder hingegen nutzen das Ruhemöbel lieber zum Kippeln und Hampeln. Fachleute finden: Die Kinder haben Recht. Eine Studie der Universität Frankfurt mit 1000 Grundschülern ergab: Schulkinder (die täglich bis zu neun Stunden sitzen müssen), reagieren auf das Ausbremsen ihres natürlichen Bewegungsdrangs nicht nur mit Nervosität, sondern auch mit Haltungsschäden.

Starkes Selbstbewusstsein ist das Ergebnis guter Erziehung.

Eltern haben zwar Einfluss auf die Selbstwertentwicklung ihrer Kinder, besonders in den ersten fünf Lebensjahren. Forschungen haben aber gezeigt, dass mindestens 50 Prozent der Persönlichkeitsmerkmale, die mit dem Selbstwertgefühl zusammenhängen, genetisch bedingt sind. Auch ist der Satz „Je stärker das Selbstbewusstsein, desto größer der Erfolg in Schule und Beruf“ in vielen Fällen ein Irrglaube. Es gibt auch ein Zuviel an Selbstbewusstsein. So sind Menschen mit einem sehr starken Selbstwertgefühl nicht unbedingt Überflieger. Sie neigen vielmehr dazu, ihre Leistungen zu überschätzen sowie auf Kritik aggressiv zu reagieren - und kommen damit oft nicht gut an.

Schmutzige Ausdrücke muss man unterbinden.

Kinder sind begeistert, welch große Wirkung sie mit „Pipi, Kacka, Popo“ erzielen können. Auch wenn sie den Sinn ihrer Sprüche kaum oder noch gar nicht verstehen, reizt es sie, Tabus zu verletzen. Dabei lässt sich das Treiben am ehesten beenden, wenn man sich - auch wenn es schwer fällt - gar nicht darüber aufregt. Kindergärten machen heutzutage gute Erfahrungen damit, ein „Schimpfzimmer“ einzurichten, in dem Kinder Schmuddelwörter sagen dürfen. Schlagartig verlieren sie die Lust daran. Indem Kinder Zoten reißen, signalisieren sie aber auch Interessen - und zwar an Aufklärung. Provoziert ein Kind über einen längeren Zeitraum mit seinen Ausdrücken, sollte man dem Bedürfnis nach Aufklärung nachkommen.

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