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WirtschafteliteDas Todesspiel

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John Heartfields berühmte Fotomontage zum "Sinn des Hitlergrußes"

John Heartfields berühmte Fotomontage zum "Sinn des Hitlergrußes"

Der Sinn des Hitlergrußes: Millionen stehen hinter mir. Kleiner Mann bittet um große Gaben.“ So ist John Heartfields (eigentlich: Helmut Herzfelde) bekannte, auf dieser Seite abgebildete Fotomontage vom Oktober 1932 unterschrieben. Man sieht Hitler mit nach hinten abgewinkelter rechter Hand, in die eine graue, offensichtlich großindustrielle Eminenz Tausend-Mark-Scheine hineinlegt. Die Botschaft ist klar: Es ist das deutsche „Kapital“, das Hitler stützt, das seinen Aufstieg finanziert - weil er dessen Interessen bedient, sprich: dem Marxismus und der Arbeiterbewegung einen bedingungslosen Vernichtungskampf liefert.

Diese sogenannte Agenturtheorie, eine der frühesten Faschismustheorien überhaupt, hat 1935 der bulgarische Genosse Georgi Dimitroff auf dem siebten Weltkongress der Kommunistischen Internationale auf eine klassische Formel gebracht: „Der Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ Bertolt Brecht hat diese Definition dann einige Jahre später in seinem „Arturo Ui“ in Dramenform gekleidet.

Diese Agenturtheorie ist modifiziert worden, hat auch im linken Lager Konkurrenz bekommen - etwa durch die Bonapartismustheorie, die ein prekäres Gleichgewicht zwischen aufsteigender Arbeiterklasse und absteigender bürgerlicher Klasse als Voraussetzung einer faschistischen Machtübernahme definiert: Um ihre soziale Machtstellung zu erhalten, ist die (noch) herrschende Klasse bereit, ihre politische dranzugeben. Aber im Wesentlichen lieferte sie bis 1989 den Interpretationsrahmen für Entstehung und Etablierung des Nationalsozialismus.

Gerade auch die Geschichtswissenschaft der DDR kultivierte diese Theorie, und weil das „bürgerliche“ Lager sich lange schwertat, ihr etwas ähnlich Schlagkräftiges entgegenzusetzen, wurde sie auch bei Linken im Westen attraktiv. Aus Sicht der DDR hatte die Agenturtheorie einen besonderen Charme. Da in der BRD die gesellschaftlichen Bedingungen fortbestanden, die einst den Faschismus ermöglicht hatten, ließ sich mit dieser Theorie auch die bürgerlich-liberale Demokratie grundsätzlich in Frage stellen. Als „Formen bürgerlicher Herrschaft“ beschrieb der Marburger Politologe Reinhard Kühnl Liberalismus und Faschismus in einem Bestseller der 70er Jahre.

Diese Zeiten sind vorbei, aber die Frage bleibt virulent: Wie viel Schuld trugen die damaligen Eliten (die Großunternehmer und andere) an der Zerstörung der Weimarer Republik und an der nationalsozialistischen Machtübernahme? Rekapitulieren wir das Geschehen. Das „Berliner Tageblatt“ läutete zur Jahreswende 1932 / 33 in einem fiktiven Rückblick das Totenglöcklein für die Karriere des „Führers“: „Überall, in der ganzen Welt sprachen die Leute von . . . wie hieß er doch mit Vornamen: Adalbert Hitler?“ Bekanntlich saß der Autor einem Irrtum auf: Einen knappen Monat später geschah das, was niemand für möglich gehalten hatte: Hitler wurde Reichskanzler.

Dabei hatte er durchaus einiges für sich gehabt, der Optimismus der Republikfreunde, dass Hitler allenfalls eine Fußnote der Historie sein würde. Die Investitionstätigkeit stieg nach mehrjähriger Flaute wieder - was mittelfristig den Rückgang jener Massenarbeitslosigkeit erwarten ließ, die der NS-Agitation bislang den Brennstoff geliefert hatte. Die Partei selbst zeigte Auflösungserscheinungen, wurde von Flügelkämpfen zerrissen. Massive Verluste der NSDAP in der Reichstagswahl vom November 1932 zeigten, dass der „Führer“ sein manipulatives Fluidum einzubüßen begann. Vor allem aber: Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte es bislang strikt abgelehnt, den „böhmischen Gefreiten“ zum Kanzler zu ernennen - mit dem Hinweis, dass dieser die Macht dazu missbrauchen werde, eine „Parteidiktatur“ zu errichten.

Warum gab Hindenburg seine Weigerung doch noch auf? Diese Frage führt in einen Sumpf von bauernschlauen Schachzügen, von Lügen, Intrigen und privaten Racheaktionen. Schlüsselfigur in diesem Todesspiel war der Zentrumsabtrünnige und im Parlament nur von der republikfeindlichen DNVP unterstützte frühere Reichskanzler Franz von Papen. Er konnte es nicht verwinden, von seinem einstigen Förderer, General Kurt von Schleicher, aus dem Amt gedrängt und beerbt worden zu sein.

Gezielt unterminierte Papen Hindenburgs Vertrauen in den Nachfolger und sondierte Möglichkeiten einer Koalition mit den Nazis. Zur Hilfe kamen ihm dabei der politisch minderbegabte Präsidentensohn Oskar von Hindenburg sowie der wendige Staatssekretär Otto Meißner, die beiden wichtigsten Berater des Präsidenten.

Im Lauf des Januar zog sich das Netz um Schleicher zu. Seine Bemühungen, mit SPD und Gewerkschaften ins Geschäft zu kommen, schürten das Misstrauen der Konservativen. Auch die Sozialdemokraten, die den Kanzler des geplanten Verfassungsbruchs verdächtigten, übten bedingungslose Opposition. So scheiterte der General mit dem Vorhaben, seiner Regierung politischen Rückhalt zu verschaffen. Als in Berlin Gerüchte über einen Militärputsch Schleichers kursierten, war es um diesen geschehen. In frostiger Atmosphäre weigerte sich Hindenburg, dem Kanzler die gewünschte Order zur Reichstagsauflösung zu geben. Das war de facto der Rausschmiss.

Mittlerweile war es Papen gelungen, den Widerstand des Reichspräsidenten gegen einen Kanzler Hitler zu beseitigen. Der hatte für seinen Eintritt in die Regierung die eigene Kanzlerschaft und die Übernahme zweier Schlüsselressorts durch Gefolgsleute zur Bedingung gemacht. Um seiner eigenen Zukunft als Hitlers Vizekanzler war Papen bereit gewesen, diesen mörderischen Preis zu zahlen. „»Feine Leute« und drei Nazis - Kabinett des Großkapitals“, titelte dazu die SPD-Zeitung „Vorwärts“. Am Montag, 30. Januar 1933, gegen halb zwölf Uhr vereidigte Hindenburg Adolf Hitler auf die Reichsverfassung - also einen Mann, der stets glaubhaft versichert hatte, diese Verfassung unter allen Umständen beseitigen zu wollen.

Wir kommen auf die Eingangsfrage zurück: Hat das Großkapital, wie es die kommunistische Agenturtheorie will, die „Machtergreifung“ bewerkstelligt - mit Hitler als Marionette seiner ökonomischen Interessen? Es gibt in diesem Zusammenhang eine exemplarische Debatte aus den heißen 70er Jahren zwischen dem „bürgerlichen“ US-Historiker Henry A. Turner und seinem marxistischen deutschen Kollegen Dirk Stegmann. Gegenstand ihrer Diskussion war vor allem eine Petition vom November 1932, in der 23 Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft an den Reichspräsidenten appellierten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Die Eingabe war auf Initiative des Keppler-Kreises zustande gekommen, in dem sich NS-freundliche Industrielle und Bankiers zusammengefunden hatten. In dieser Auseinandersetzung siegte Turner auf ganzer Linie - ihm gelang der Nachweis, dass der Initiative mehr oder weniger ein Misserfolg beschieden war: Von den Angehörigen der mächtigen „Ruhrlade“ unterschrieb nur Fritz Thyssen, der für seine einschlägigen Sympathien bekannt war. Gerade die einflussreichsten Industrievertreter aber - Krupp, Siemens, Bosch - zeigten den Bittstellern die kalte Schulter. Und eine Wirkung der Eingabe in dem Sinne, dass sich Hindenburg von ihr habe beeindrucken lassen, ist nirgendwo nachzuweisen.

Der entscheidende Nachteil der Agentur-theorie ist ihre empirische Schwäche. Wer sie vertritt, muss nachweisen, dass große Teile des deutschen „Kapitals“ Hitler und seine Partei von Anfang an unterstützt, ihren Durchbruch zur Massenbewegung gesteuert, schließlich die „Machtergreifung“ geplant und durchgesetzt haben. Dieser Nachweis kann auf all den genannten Stufen nicht erbracht werden.

Das entlastet die Wirtschaftseliten kaum - die Zerstörung der Weimarer Demokratie geht auch auf ihr Konto. Zweifellos wünschte sich die Mehrheit der deutschen Großunternehmer eine Regierung, die mit Gewerkschaften und Sozialisten aufzuräumen und eine autoritäre Transformation des politischen Systems - samt der Rückkehr zur Monarchie - versprach. Aber die marxistische Theorie wird dadurch nicht richtiger. Außerdem vernachlässigt sie, dass neben einem nazifizierten Mittelstand und Teilen der Armee starke vorindustriell geprägte Kräfte eine NS-Regierungsübernahme wünschten.

Die Katastrophe des 30. Januar war nicht zwangsläufig - bis zuletzt gab es Alternativen. Als konkretes Ereignis war sie das Resultat der Fehlentscheidungen von naiv-intriganten, unfähigen, verantwortungslosen Politikern und grauen Eminenzen - und eines Staatsoberhauptes, das seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Die Rede von der „Machtergreifung“ ist irreführend: Die Macht wurde Hitler auf einem silbernen Tablett serviert.

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