Horror im „Folterkeller“

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Die Hochhaus-Schänke in der Siedlung Finkenberg.

Die Hochhaus-Schänke in der Siedlung Finkenberg.

„Soziale Brennpunkte“ existieren in fast jedem Kölner Stadtteil. In Porz-Finkenberg, einem Viertel nahe des Flughafens, lebt jeder dritte Einwohner von Sozialhilfe. Drei Monate lang hat Tim Stinauer Jugendliche aus Finkenberg begleitet. In einer zehnteiligen Serie schildert er Begegnungen und Gespräche.

Levent schlägt so heftig zu, dass er zu schwitzen beginnt. Vor ihm, auf dem Boden des Kellers in einem Hochhaus, liegt Benjamin auf dem Bauch. Levent hat dem Jungen befohlen, sich die Hose bis zu den Fußknöcheln herunterzuziehen. Ein Ledergürtel peitscht auf Benjamins blanken Hintern. Immer wieder. Levent bekommt Durst. „Bleib liegen. Ich hol mir was zu trinken. Wenn du abhaust, bist du tot. Ich finde dich.“ Levent verlässt den Keller, kehrt nach ein paar Minuten mit einer Flasche Wasser zurück. Benjamin hat sich nicht gerührt. Levent trinkt die Flasche leer und misshandelt sein Opfer noch brutaler als zuvor.

Wenn der 17-Jährige erzählt, wie er vor Monaten einen Jugendlichen im „Folterkeller“ von Porz-Finkenberg gequält hat, muss man genau zuhören. Levent (Namen aller Jugendlichen geändert) spricht schnell, hektisch. Er verschluckt Silben und ganze Wörter. Er sagt „schabdemtypschlageben“ statt „Ich habe dem Typen einen Schlag gegeben.“ Er sagt „Bombe“ und „Ohrlatschen“ und meint Schläge mit der Faust oder der flachen Hand ins Gesicht. Seine Stimme ist emotionslos.

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Porz-Finkenberg, genannt „Das Demo“. Ein Viertel im Stadtteil Eil, das in den 70er Jahren als „Demonstrativ-Bauvorhaben des Bundes“ aus dem Boden gestampft wurde. 16-stöckige Hochhäuser neben Einfamilien-Bungalows, eine „ausgewogene Sozialstruktur“, „menschenfreundliches Wohnen“, eine überdachte Geschäftspassage, Abenteuerspielplätze, Springbrunnen, akkurat gestutzte Blumenbeete. Sauber, gepflegt, vorbildlich.

So sollte alles mal werden.

Und so ist es geworden:

Vom Regen gewaschene graue Plattenbauten, Sperrmüllberge vor den Hauseingängen, zerbrochene Gehwegplatten. Moos verstopft die Wasserdüsen der Springbrunnen. Vor der Rutsche auf dem Kinderspielplatz liegen Scherben und Jägermeisterflaschen. Auf dem Fußweg neben dem Spielplatz, in einem armbreiten Spalt zwischen zwei Gehwegplatten, klemmt eine tote Ratte. Überall liegt Taubendreck.

Zusammengesunken sitzt Levent auf seinem Stuhl in einem Café in Porz. Die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, den Oberkörper über das Glas Cola Light gebeugt. Er sieht ein bisschen aus wie Til Schweiger. Die kurzen Ärmel seines weißen T-Shirts spannen über den muskulösen Oberarmen. In der rechten Hand dreht er sein Handy zwischen den Fingern. Unruhig wippen die Beine unter dem Tisch auf und nieder. „Das war scheiße von mir, Mann, klar. Ich wollte einen auf cool machen. Ich wollte, dass die anderen Jungs im Viertel davon erfahren. Man macht das nur, um zu zeigen, dass man stark ist. Superbehindert so was.“

Der „Folterkeller“ ist berüchtigt in Finkenberg. Horrorgeschichten kursieren. Mit nacktem Rücken seien Opfer an die heiße Heizung gebunden worden, erzählen die Jugendlichen, Zigarettenglut habe man auf ihrer Haut ausgedrückt. Neu hinzugezogene Nachbarsjungen, Dealer, die das Marihuana nicht rausgerückt haben und wahllos aufgegriffene Jugendliche, die zu schwach waren, sich zu wehren, seien in den engen, dunklen Raum geschleift worden.

Der Weg dorthin führt durch einen Hausflur, dann 30 Treppenstufen abwärts in einen düsteren Vorraum vor eine braune, verbeulte Stahltür. Der Lichtschalter an der Wand funktioniert nicht. Die Tür ist nicht verschlossen. Wer sie öffnet, dem steigt beißender Gestank in die Nase - ein Gemisch aus Kot und Urin. Ein enger dunkler Gang, an dessen Ende schwaches Tageslicht ein helles Viereck auf den Steinboden malt, führt in den „Folterkeller“. Zehn Quadratmeter groß, ein kleines, vergittertes Fenster nahe der Decke und kein elektrisches Licht. Auf dem Boden Cola- und Kölschflaschen, Zigarettenkippen, Spielkarten und eine angeschimmelte Matratze. Sonst nichts. „Wenn da unten einer brüllt, hört das auf der Straße kein Schwein“, sagt Levent.

Verdammte Arschlöcher“, schimpft Franz Homscheid. Mit einem Eimer Wasser spült der 64-Jährige eine Urinlache aus seinem Schreibwarenladen. Vergangene Nacht hat wieder jemand gegen die Eingangstür gepinkelt. „Jeden Tag der gleiche Ärger.“ Der Urin ist unter dem Türspalt durchgesickert und vor dem Regal mit den Schulheften in einem kleinen See zusammengeflossen. „Das ist ein Trauerspiel hier, echt!“, flucht der 64-jährige Kölner mit dem gezwirbelten Schnäuzer und zieht seine Hose noch ein Stück höher. Das schwarz-weiß gestreifte Polohemd quetscht den Bauch zusammen wie eine Radlerhose die Oberschenkel. Damit die eiserne Tür durch den Urin nicht verrostet, hat Homscheid unten und an den Seiten Streifen aus blauem Blech um den Rahmen schlagen lassen. Erfolglos. Der Lack ist längst abgesplittert, der Türrahmen rostbraun verfärbt.

Eine vier Zentimeter lange Narbe zieht sich von der Stirn bis zur Nase. Andenken an eine Schlägerei vor fünf Jahren. Sinan, 17, ist schlecht rasiert. Blonde Bartstoppeln bedecken Kinn und Schläfe, ein heller Flaum breitet sich über der Oberlippe aus. Mit sieben Freunden steht Sinan vor dem Discounter in der Ladenpassage. Rumhängen, labern, „abkacken“, wie er sagt. Die Polizeiakte des pummeligen Hauptschülers umfasst beinahe 40 Strafanzeigen, gibt er zu. Körperverletzung, räuberische Erpressung, Einbrüche, Drogen. „Wenn mein Vater wüsste, dass ich kiffe, würde der mich totschlagen. Wenn ich nicht so viel Scheiße gebaut hätte, hätte ich heute vielleicht einen guten Job, Dolmetscher oder so. Ich kann Kurdisch, Türkisch, Deutsch und Französisch“, sagt der 17-Jährige. Stattdessen denkt er über eine Ausbildung zum Automechaniker nach. Eine Werkstatt hatte ihm schon eine Lehrstelle zugesichert, doch Sinan lehnte ab: „Zu wenig Kohle“.

Zwei schlaksige Jungs kommen auf Sinans Gruppe zu, die Schirme ihrer Baseballkappen tief vors Gesicht gezogen. „Braucht ihr was?“, nuschelt einer. Sinan spuckt ihm vor die Füße. „Verpiss dich, Hurensohn.“ Die beiden Drogendealer gehen weiter. Nach 50 Metern springen ihnen zwei Polizisten aus einem Gebüsch in den Weg. „Stehen bleiben!“ Die stämmigen Beamten packen die beiden an der Schulter, drücken sie gegen die Hauswand. Sinan zündet sich eine Marlboro an, er grinst. „Siehst du? Mit Leuten, die ich nicht kenne, mache ich keine Geschäfte.“

Die Polizisten tasten die Verdächtigen ab, von den Füßen die Beine rauf bis zur Hüfte. Ein Beamter sieht Sinan und seine Gruppe und ruft: „Und ihr verpisst euch! Haut ab hier! Sofort!“ Sinan stellt sich aufrecht, er drückt sein Kreuz durch. „Kann man das nicht freundlicher sagen?“ Der Mann in Uniform lässt von dem Dealer ab. „Ich bin gewohnt, dass man tut, was ich sage! Entweder ihr verpisst euch oder ich hau euch auf die Fresse!“ Erschrocken lassen zwei kleine Mädchen ihre Fahrräder fallen und weichen zurück. Auch die Jungs gehen ein paar Schritte zur Seite. „Und da soll man hier nicht asozial werden?“, fragt Sinan leise. Er spuckt die Zigarette auf den Boden, seine Stimme zittert, dann brüllt er: „Da soll man hier nicht Scheiben eintreten, damit die Scheißbullen Arbeit bekommen? Wie geht ihr mit uns um? Sind wir der letzte Dreck für euch?“

Etwa 6100 Menschen leben „im Demo“. Die Stadt Köln hat das Viertel vor vier Jahren zum „Sanierungsgebiet“ erklärt und einen Sanierungsplan erstellt. Passiert ist wenig. „Nur Gerede, immer nur Gerede. Getan wird nix. Wir sind weit weg von Köln. Wir interessieren die Politiker nicht“, glaubt der Wirt der „Hochhaus-Schänke“ in der Fußgängerzone.

60 Prozent der Finkenberger sind Ausländer, die meisten Türken, außerdem viele Spätaussiedler aus Russland. 34 Prozent im Viertel leben von Sozialhilfe (zum Vergleich: stadtweit 7,5 Prozent), jeder Vierte ist jünger als 18 Jahre.

Timur ist 13 Jahre alt. In seinem rechten Ohr trägt er einen goldenen Ring. Die Jugendlichen „im Demo“ nennen ihn „kleiner Gangsta“. Sein Markenzeichen ist die falsch herum aufgesetzte weiße Baseballkappe. 15-mal ist der Junge bei der Polizei aktenkundig geworden. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die tatsächliche Zahl seiner Straftaten dürfte „im dreistelligen Bereich“ liegen, sagt ein Polizeibeamter, der in Köln auf Jugendkriminalität spezialisiert ist. „Aber viele Taten lassen sich ihm nicht eindeutig zuordnen oder werden erst gar nicht zur Anzeige gebracht.“

Timur ist schmächtiger und kleiner als andere in seinem Alter. Er hat Autos geknackt, Fahrräder gestohlen, Fensterscheiben eingeworfen, Schüler ausgeraubt, sie verprügelt, misshandelt, eine alte Frau zusammengeschlagen. Alles aus Langeweile, sagt er. Und Schule? „Voll unnötig, ich will ausschlafen.“

Breitbeinig steht er da, mitten auf der verkehrsberuhigten Konrad-Adenauer-Straße, die Hände in den Hosentaschen. Sein grauer Trainingsanzug von Nike ist mindestens eine Nummer zu groß. „Wat willste maache?“ Timur spuckt auf den Gehweg und wischt mit seinem Turnschuh über das Pflaster. „Im Demo wird man so. Das ist der Umgang.“

In vier Monaten wird er 14, dann ist er strafmündig, dann droht der Jugendknast. Viele im Viertel warten nur darauf, dass die Polizei den „kleinen Gangsta“ endlich von der Straße fischt.

Levent hat das schon hinter sich. Ein Richter hat ihn zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, 50 Sozialstunden und Anti-Aggressions-Training. Sechs Misshandlungen, darunter der Exzess im Keller, und einen bewaffneten Raubüberfall auf seinen Stammkiosk hat der 17-Jährige eingeräumt. „Aber das ist jetzt vorbei“, sagt er. Sein Plan: „Die Sozialstunden machen, dann den Hauptschulabschluss - und dann mal sehen.“

Lesen sie morgen

im Lokalteil:

„TIMUR, DER KLEINE GANGSTA“. An dem 13-Jährigen beißen sich Sozialarbeiter und Polizei die Zähne aus.

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