Nagelbomben-AnschlagNeue Aufnahmen von der Keupstraße legen Verdacht auf Mitwisser nahe

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Bisher unbekannte Bilder aus einer Überwachungskamera auf der Keupstraße vom Tag des Anschlags

Bisher unbekannte Bilder aus einer Überwachungskamera auf der Keupstraße vom Tag des Anschlags

München – Fast elf Jahre nach dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße, bei dem mehr als 20 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, sind noch immer nicht alle Hintergründe der Tat aufgeklärt. Umstritten ist insbesondere die Frage, ob die mutmaßlichen Bombenleger vom NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, tatsächlich als Einzeltäter gehandelt haben, wie es die Bundesanwaltschaft im Münchner NSU-Prozess behauptet – oder ob es noch Mitwisser etwa aus der Kölner Naziszene gab, die den Tätern damals geholfen haben.

Neue Nahrung erhält die Diskussion jetzt durch Ausschnitte von Überwachungsvideos, die an jenem 9. Juni 2004, als die Bombe in der Keupstraße explodiert, unweit vom Tatort entstanden sind. Es handelt sich um bislang unbekannte Aufnahmen zweier Kameras, die am Gebäude des Musiksenders Viva in der Schanzenstraße angebracht waren. Sie zeigen einen Mann und eine Frau, die sich dort auf der Straße auffällig verhalten – und zwar genau in dem Zeitraum, als die mutmaßlichen NSU-Täter in dieser Gegend unterwegs sind. Die Unbekannten beobachten die Straße und Passanten, von Zeit zu Zeit telefonieren sie mit ihren Handys. Erst als einer der Täter mit dem Fahrrad, auf dessen Gepäckträger die Bombe deponiert ist, an ihnen vorbeigegangen ist, verlassen sie die Straße.

Mehrere Stunden nach dem Anschlag tauchen sie aber noch einmal dort auf und beobachten erneut das Geschehen auf der Straße. Zufall? Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses im nordrhein-westfälischen Landtag bezweifeln dies. Sie wollen demnächst das Überwachungsvideo im Ausschuss vorführen und dazu Vertreter von Polizei und Verfassungsschutz befragen. Dabei soll die Frage geklärt werden, warum sich die Ermittler nie darum bemüht haben, das auffällige Pärchen aus der Schanzenstraße zu finden und zu befragen.

Die Möglichkeit dafür hätte es gegeben, denn die Überwachungskameras in der Schanzenstraße haben die Gesichter der beiden deutlich eingefangen. Angebracht sind die Kameras über dem Eingang zum Bürogebäude des TV-Senders Viva. Kamera eins schaut den Bürgersteig der Schanzenstraße hinauf Richtung Norden, Kamera zwei blickt in Richtung Keupstraße. Allerdings stimmt der Time-Code auf der Aufnahme nicht, er hinkt der realen Zeit um fast 20 Minuten hinterher.

So ist es tatsächlich bereits kurz nach halb drei, als Kamera eins einen jungen Mann einfängt, der von Norden kommend zwei Fahrräder den Gehweg auf der Schanzenstraße hinunter schiebt. Er passiert den Eingang zum Viva-Gebäude und geht weiter Richtung Keupstraße. Vermutlich handelt es sich dabei um Uwe Böhnhardt, der die später zur Flucht benutzten Fahrräder in der Nähe des Tatorts abstellt. Eine knappe Viertelstunde später kommt er wieder zurück. Die Fahrräder sind nun verschwunden, dafür hält er in der rechten Hand ein auffällig großes Stück Papier.

Zehn Minuten später – es ist jetzt 14.57 Uhr, genau eine Stunde vor der Bombenexplosion in der Keupstraße – fängt die Kamera eins ein Pärchen ein, das zum Viva-Gebäude schlendert. Es kommt aus der Richtung, in der zuvor Böhnhardt verschwunden ist. Die unbekannte Frau hat mittellanges blondes Haar und trägt ein dunkles Shirt mit Spaghettiträgern. Ihr Begleiter hat ein dunkles T-Shirt an mit der Aufschrift „Costa Rica“. Beide sind etwa um die 30 Jahre. Beide haben Handys am Ohr.

In Nürnberg wurde am 9. Juni 2005 der türkische Döner-Imbissbetreiber Ismail Yasar ermordet. Obwohl es genug Hinweise gab, stellten die Ermittler keinen Zusammenhang zwischen dem Mord und der Keupstraße her. Sowohl in Nürnberg als auch in Köln waren die Täter mit Rädern gesehen worden. Eine Zeugin in Nürnberg erkannte die Verdächtigen auf dem Keupstraßen-Video wieder. Doch es kam zu keiner neuen Fallanalyse durch die Polizei. Ein Nürnberger Beamter erinnerte sich später: Man könne nicht „Äpfel mit Birnen vergleichen“, hätte es aus Köln geheißen.

Ein Hinweis auf einen Zusammenhang kam damals auch vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ – und damit Jahre vor der Enttarnung der NSU. Doch die Antwort der Polizei war entschieden: Da bestehe kein Zusammenhang. (dl)

Als sie den Eingang zum Viva-Gebäude erreichen, gehen sie hinein, kommen aber nach einer halben Minute wieder heraus. Sie stehen auf dem Gehweg, sprechen miteinander, schauen die Straße hinauf und hinab, beobachten die Passanten. Dann geht der Mann ein paar Meter weg von der Frau, schaut in die eine Richtung, die Frau in die andere. Beide telefonieren wieder. Gegen 15.06 Uhr geht der Mann los, die Straße hinauf. Vorher hat er noch ein Papier aus der Handtasche der Frau genommen, er hält es jetzt in der Hand wie 20 Minuten zuvor Böhnhardt. Ein heimliches Zeichen?

Die Frau bleibt zurück, stellt sich an die Fassade des Viva-Gebäudes und tippt etwas in ihr Handy. Auch sie hält ein auffällig großes Stück Papier in der Hand. Drei Minuten später, um 15.09 Uhr, fängt Kamera eins Böhnhardt ein. Er kommt die Straße hinunter, aus der Richtung, in die der unbekannte Mann zuvor verschwunden ist. Böhnhardt trägt eine Tüte. Als er sich der Frau nähert, hebt sie kurz den Kopf und schaut ihn an. Dann tippt sie weiter auf ihr Handy.

Nur 40 Sekunden nach Böhnhardt taucht ein zweiter junger Mann im Bild auf, der ein Fahrrad schiebt. Es ist vermutlich Uwe Mundlos. Auf dem Gepäckträger des Fahrrads ist die Bombe platziert, die eine Dreiviertelstunde später in der Keupstraße detonieren wird. Als er die unbekannte Frau erreicht, schaut sie nicht hoch. Auch er blickt sie nicht an, geht an ihr vorüber.

Kurz zuvor ist auf dem Film von Kamera eins zu sehen, wie 20 Meter hinter Mundlos und seinem präparierten Fahrrad plötzlich der Begleiter der unbekannten Frau aus einem Torweg heraustritt. Der Mann im „Costa Rica“-Shirt schlendert hinter Mundlos her, bleibt dann aber stehen, als er seine Begleiterin erreicht. Immer noch hat er das Stück Papier in der Hand. Der Mann und die Frau sprechen kurz miteinander, dann blicken sie Mundlos mit seinem Fahrrad nach und verschwinden schließlich im Viva-Gebäude.

Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich ein Bistro. Als kurz vor 16 Uhr die Bombe in der nahen Keupstraße explodiert, laufen viele Menschen, offenbar aufgeschreckt von dem Knall, aus dem Viva-Gebäude heraus. Die Überwachungsfilme der beiden Kameras zeigen, wie sie in Richtung Keupstraße schauen, aufgeregt miteinander reden oder mit ihren Handys telefonieren. Auffällig ist, dass sich das unbekannte Pärchen nicht vor der Tür sehen lässt. Erst 20 Minuten nach der Explosion verlassen die beiden das Gebäude, schauen sich kurz um und begeben sich dann in Richtung Keupstraße.

Rückkehr am Abend

Es ist nicht das letzte Mal an diesem Tag, dass die blonde Frau und der Mann im „Costa Rica“-Shirt von den Überwachungskameras in der Schanzenstraße aufgenommen werden. Abends gegen 19.30 Uhr sind sie plötzlich wieder da. Sie treten aus dem Viva-Gebäude heraus. Sie bleiben noch gut zehn Minuten auf dem Gehweg stehen, telefonieren, beobachten Passanten und Einsatzkräfte. Um 19.42 Uhr gehen sie schließlich davon.

Auch wenn das Gericht im Münchner NSU-Prozess weiterhin von der These ausgeht, Böhnhardt und Mundlos hätten den Bombenanschlag in der Keupstraße allein begangen, ziehen selbst Ermittler inzwischen die Möglichkeit in Betracht, dass die beiden in Köln Helfer gehabt haben könnten. Wo hatten sie etwa die Bombe her? Wo übernachteten die beiden mutmaßlichen NSU-Terroristen in Köln? Wohin brachte Böhnhardt die beiden Tüten, die er 50 Minuten vor der Explosion in der Hand hatte, als er das Viva-Gebäude passierte? Zur Antwort auf all diese Fragen könnte das geheimnisvolle Pärchen, das die Überwachungskameras in der Schanzenstraße eingefangen haben, der Schlüssel sein.

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