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„Arti TV“Sender will von Köln aus unabhängig und objektiv über Türkei berichten

Lesezeit 5 Minuten
Chefredakteur Celal Baslangic (r.) und zwei Kollegen in der Regie des neuen Senders

Chefredakteur Celal Baslangic (r.) und zwei Kollegen in der Regie des neuen Senders

Köln – Dass er in Deutschland ist, vergisst er oft. Celal Baslangic ist seit mehr als 40 Jahren Journalist, er arbeitete in der Türkei für viele Medien, war unter anderem Redaktionsleiter bei der Zeitung „Cumhuriyet“. Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 reifte in ihm die Erkenntnis, dass er sein bisheriges Leben würde aufgeben müssen: „Wir haben als Journalisten in der Türkei keine Lebensräume mehr gefunden.“

Unabhängige, objektive Berichterstattung

Mit einigen Mitstreitern begann Baslangic deshalb noch in der Türkei die Planungen für „Arti TV“, einen Sender, der unabhängig und objektiv über die Türkei berichten soll. Für dieses Projekt hat er seine Heimat verlassen und ist nach Deutschland gekommen. Ein Land, zu dem er vorher keinen Bezug hatte und dessen Sprache er nicht spricht. Doch seine Gedanken sind ohnehin in der Türkei. Der Chefredakteur pendelt jeden Tag zwischen seiner Wohnung und dem Sender, nur wenn er unterwegs ist, merkt er, dass er nicht mehr in seiner Heimat ist. „Immer, wenn ich den Dom sehe, weiß ich, dass ich in Deutschland bin“, sagt der 61-Jährige und lacht.

Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Nach den Ereignissen im vergangenen Sommer verhängte die Regierung den Ausnahmezustand, viele Journalisten wurden verhaftet, zurzeit sitzen nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ 156 im Gefängnis. Rund 150 Medien wurden geschlossen und mehr als 700 Presseausweise annulliert. Kritische Journalisten stehen unter Generalverdacht. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 151 von 180.

Köln ist ein gut geeigneter Standort

An diesem Freitag geht „Arti TV“ nach intensiven Monaten der Vorbereitung auf Sendung. In einem schmucklosen Zweckbau in einem Industriegebiet in Dellbrück sitzt die Redaktion, sie hat Räume von den Kollegen des alevitischen Senders TV 10 gemietet. Der ist seit September 2016 in der Türkei verboten, die Redaktion wurde aufgelöst. Nun senden sie aus Deutschland. Köln sei außerdem ein guter Standort, weil viele türkischstämmige Menschen hier leben und die Anbindung so gut sei, sagt Balslangic.

Die Zeit drängt. Es sind nur noch wenige Wochen bis zum 16. April. An diesem Tag werden die Türken über das umstrittene Verfassungsreferendum von Präsident Recep Tayyip Erdogan abstimmen. Für die rund 40 bis 50 Journalisten, die zum Teil aus der Türkei kommen und zum Teil einen türkischen Migrationshintergrund haben, ist das erklärte Ziel, möglichst viele Landsleute zu einem „Nein“ bei der Abstimmung zu bewegen. Bereits seit 8. Februar dieses Jahres wird aus den Redaktionsräumen die Webseite „Arti Gercek“ betrieben, was frei übersetzt „Mehr als die Wahrheit“ heißt. Sowohl das Internetangebot als auch „Arti TV“ (auf Deutsch etwa „Plus TV“) sollen Nachrichten in einer sachlichen Sprache liefern. „Jeder, der für Demokratie und Frieden eintritt, kann mit uns zusammenarbeiten“, sagt Baslangic. Es sei ihnen besonders wichtig, vielseitig zu sein. Der Sender solle keine einheitliche politische Position vertreten. „Natürlich hat jeder von uns eine bestimmte politische Haltung, aber die Türkei braucht zurzeit etwas anderes. Wir wollen nicht unsere Unterschiede betonen, sondern unsere Gemeinsamkeiten.“ Es sei entscheidend, den Menschen in der Türkei die Möglichkeit zu geben, sich objektiv zu informieren und die Wahrheit zu erfahren. Sechs bis acht Stunden Programm wollen sie jeden Tag machen, das dann die restlichen Stunden des Tages wiederholt wird. Gerade am Anfang wollen sie sich auf Nachrichten und politische Berichterstattung konzentrieren. Kollegen in der Türkei, in Kanada und in Schweden unterstützen sie mit Beiträgen.

Programm richtet sich an Menschen in der Türkei

Das Programm von „Arti TV“ richtet sich direkt an die Menschen in der Türkei, aber natürlich freuen sich die Macher auch über Zuschauer aus Deutschland. Sie werden das Programm über den Satellit Hotbird verbreiten, damit erreiche man besonders in kurdischen Gebieten viele Menschen. Außerdem wird das Programm im Internet gestreamt. Finanziert wird „Arti TV“ von der Stiftung Arti Media, die ihren Sitz in den Niederlanden hat. Sie wird von Unternehmern aus der Türkei finanziert, die eine Medienlandschaft fördern wollen, die alle Facetten der Gesellschaft abbildet. Das Budget beläuft sich zurzeit auf 70- bis 100.000 Euro, so Celal Baslangic. Langfristig wolle man das Angebot auch durch Werbung finanzieren.

Im Büro des Chefredakteurs läuft in den Tagen vor dem Sendestart schon das Testprogramm. Menschen halten Schilder in die Kamera, auf denen nur ein Wort zu lesen ist: hayır – türkisch für Nein. Es ist ein Werbeclip zum Referendum. Celal Baslangic setzt all seine Hoffnungen darauf, dass die Mehrheit seiner Landsleute so abstimmen wird. Er ist optimistisch: Momentan deute alles daraufhin, dass Erdogan sein Präsidialsystem nicht durchsetzen könne.

Der Ausgang des Referendums hat nicht nur für die gesamte Türkei, sondern auch für den Chefredakteur ganz persönlich eine große Bedeutung. Seine Hoffnung ist, eines Tages mit dem Redaktionsteam, der Webseite und dem Sender in die Türkei zurückzukehren und dort wieder den Journalismus machen zu können, für den er nun von einem Industriegebiet in Köln aus kämpft.

Unzensierte Berichte

Das zweisprachige Online-Medium „Özgürüz“ sorgt seit Januar dieses Jahres in Deutschland für kritische Informationen über die Türkei und speziell über die Politik von Staatspräsident Erdogan. Für das Projekt arbeitet das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv mit dem nach Deutschland geflohenen türkischen Journalisten Can Dündar und mit Hayko Bagdat zusammen. Özgürüz heißt: „Wir sind frei“.

Für den WDR bietet COSMO mit „Türkei unzensiert“ ebenfalls eine Plattform für unabhängige Informationen aus der Türkei. Reportagen, Analysen und Debattenbeiträge erscheinen dort stets in deutscher und in türkischer Sprache.

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