Serie „Momentaufnahme“Müder Engel vor dem Kölner Dom

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Die Station unserer Momentaufnahme-Spezial-Folge: die Domplatte.

Die Station unserer Momentaufnahme-Spezial-Folge: die Domplatte.

Köln – Hinsetzen, Leute beobachten, Geschichten spinnen - wer macht das nicht gern. Wir haben haben daraus eine Serie gemacht. Unsere Autoren und unsere Fotografin Martina Goyert gucken nicht nur. Sie hören zu, schreiben auf, fragen nach, was passiert. Das ist die Idee hinter der Serie „Momentaufnahme“. Das Spiel dauert 90 Minuten, irgendwo in Köln.

Ihre ganz besondere Zwischenstation für eine Spezial-Folge außer der Reihe: Die Domplatte.

10.30 Uhr - Ein müder Engel steht im Getümmel vor dem Dom und versucht zu lächeln. Der Engel winkt zwei asiatischen Touristinnen, die glucksend weitergehen. Der Engel hat rotgeäderte Augen und Wasser in den Knöcheln. „Ich stehe seit eineinhalb Jahren hier“, sagt Engel Dani (27), der aus Rumänien kommt. Oft arbeite er von 7 Uhr bis 19 Uhr auf der Domplatte, um Geld für Sprachkurse, Studium und Familie zu verdienen.

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Danis Gesichtshaut reagiert mit Ausschlag auf das ständige Schminken, „aber die dicken Beine sind das Schlimmste“. Neben Dani steht Engelchen Florina (19), seine Schwester, ein paar Meter weiter lässt sich Danis Freundin Terca fotografieren. Terca verdingt sich als Froschkönigin. Sie ist 21, seit zwei Jahren in Deutschland. Sie hat zwei Kinder, ihr Mann hat sie verlassen. Kindergeld bekomme sie keins. „Deswegen stehe ich hier.“

10.33 Uhr - Das Minischwein war gerade noch in der Tasche, jetzt taucht es in Magic Thoms Hand auf. Schülerin Mathilda staunt. „Boah, wie geht das?“ Besondere Begegnungen speichert der Zauberer mit dem Schweizer Wappen und dem Kölner Dom am Revers im Kopf ab. Magic Thom will ein Buch schreiben - über sein Leben als Straßenkünstler.

In Köln tauchen er und sein magisches Köfferchen immer wieder auf, in seiner Heimatstadt Basel kaum noch. „Die Deutschen sind offener“, sagt der 44-Jährige.

Theresa und Joan beachten ihn nicht, als sie zur Domführung schreiten. Dass ihre Flüssefahrt in Wien gestartet ist und in Amsterdam endet, bekommen die Rentnerinnen aus New York noch auf die Reihe. Aber wo waren sie gestern noch mal? „Koblaans?“ „Yes, Koblenz.“

10.36 Uhr - Ralf Bayartz fährt den Rüssel des Steigerwagens aus, um Handwerker zum porösen Mauerwerk der Domfassade zu fahren. Die Handwerker spannen Netze, um Steinschlag zu verhindern. Im Korbwagen liegen bis zu 20 Zentimeter lange Steinbrocken. Vor dem rechten Haupteingang, der weiträumig abgesperrt ist, hat sich ein Steinstaubteppich gebildet. Der Wind trägt feinste Staubkörnchen auf die Menschen vor der Kathedrale, egal, ob sie zum Beten gehen oder zum Power-Shoppen. Ein Mann mit Rastahaaren ruft von unten: „Ich will auch mal mit hochfahren, bitte, bitte!“

Hochzeitsfoto mit zwei Engeln

10.38 Uhr - Alles, was Stanislaw Wylembeka besitzt, passt in einen schwarzen Koffer. Er hat sich auf den Trolley gesetzt, lehnt sich an den Dom und nippt ab und zu an seiner Rum-Flasche. Wylembeka hat keine Wohnung und fragt sich gerade, wo er heute Nacht schlafen soll. Der Mann mit dem rotgeäderten wie gebräunten Gesicht möchte sich etwas in den Nähe des Doms suchen. Bis dahin muss er noch etwas Geld zusammenkriegen. In seinem Pappbecher sind zwei, drei Euro. „Ist trotzdem gut“, sagt er.

Sein Vater und seine Großeltern stammen aus Polen, seine Mutter war Deutsche. Wie alt er ist und wie lange er schon auf der Straße lebt, sagt er nicht. Nur das: „Ich habe jahrzehntelang ordentlich gearbeitet.“

10.40 Uhr - Markus und Jennifer Effertz liegen in den Armen von Engel Dani und lassen sich fotografieren. Bis eben hieß Jennifer noch Hilbig - die zwei haben vor einer halben Stunde geheiratet. Sie waren gerade im Dom, gleich geht es in die nächste Kirche. In Zündorf heiraten Markus und Jennifer um 14 Uhr kirchlich. Danach wird mit der Familie und Freunden gefeiert.

10.41 Uhr - Sergej Tursay hat seine Habe vor dem Haupteingang des Doms geparkt. Auf einem Fahrrad mit Anhänger hat er Gepäck, Schlafsack und zwei Gitarren verstaut. Ein Stoffbärchen ziert den Lenker, einen Wimpel mit dem Bild von Papst Franziskus hat er auf dem Anhänger montiert. Gleich dreimal verbeugt er sich vor dem Dom und sagt: „Ich gläubig, ich gläubig.“

Sergej kommt aus Russland, spricht wenig Englisch und noch weniger Deutsch. Seit zehn Jahren lebt er in Deutschland, spielt Gitarre auf öffentlichen Plätzen und trinkt. „Ich bin Alkoholiker, ich bin oft nervös“, sagt er. Dann hantiert er an der Manteltasche seines Fahrrads, holt eine Wodkaflasche hervor und nimmt einen kräftigen Schluck. Man muss ein bisschen schlucken, wenn Sergej sagt, dass er erst 46 Jahre alt ist.

10.50 Uhr - 80 Erkelenzer wollen es heute richtig wissen. Sie umringen die Stadtführer Rainer, Hartmut, Joachim und Klaus, die gleich mit ihnen zu einer Brauhausführung losziehen werden. „Ein Kölsch bei der letzten Führung trinke ich mal, aber man darf seine Muttersprache nicht verlieren“, sagt Hartmut. In der Gruppe planen einige genau diesen Verlust. Zumindest deuten die Bier-Fachgespräche darauf hin.

11.13 Uhr - André (27) hat eine Fettcreme auf die Brust geschmiert und eine durchsichtige Plastikfolie drübergelegt. Mit seiner Freundin Yasmin wartet er auf einen Tätowierungstermin auf der Neusser Straße. Das Studio „Monsters under Your Bed“ (Deutsch: Monster unter deinem Bett) habe einen Wahnsinnsruf. André hat zwei Totenköpfe auf der Brust, heute lässt er sich einen dritten stechen - einen mit Herz im Mund.

Ein Mann mit Cola-Bier in der Hand sieht Andrés Tattoo und sagt: „Bombe. Bei den Hells Angels kannste dir sowas auch machen lassen, aber das ist geil.“ André bedankt sich höflich. Er arbeitet als Programmierer und hat sehr gute Manieren.

11.27 Uhr - Rafael (zweieinhalb) sitzt im Kinderwagen und guckt auf den Dom. „Will in die große Burg rein“, sagt er zu Mama Sabine und Oma Birgit. „Das ist eine Kirche“, verbessert Sabine. Sabine und Birgit aus Dortmund sind beide rot-weiß gekleidet, „abgesprochen haben wir uns nicht“, sagt Birgit.

Mutter und Tochter waren gerade am Fühlinger See. „Mein Bruder will da zelten und feiern, aber er hat die Zeltstangen vergessen. Die haben wir ihm vorbeigebracht“, sagt Sabine. Jetzt gehen sie noch bummeln. „Will jetzt endlich in die Burg“, sagt Rafael. Also los.

Shoppen und hübsche Männer gucken

11.36 Uhr - Yael (zwei Monate) sitzt vor dem linken Domeingang im Fahrradanhänger und schläft. Als sein Bruder Naim Fladenbrot und Oliven aus dem Anhänger holt und Yael das Fladenbrot ins Gesicht hält, zieht Yael eine Grimasse und klappt die Augen auf. Naim lacht, Yael kräht. Mutter Clémence hat Naim und Opa Jean-Paul gerade vom Bahnhof abgeholt. Jean-Paul lebt in Paris, Noel durfte ihn allein besuchen. Jetzt essen die vier vor dem Dom zu Mittag.#

11.44 Uhr - Afson hat gerade ihre Freundin Kania vom Hauptbahnhof abgeholt. Die zwei gebürtigen Iranerinnen gehen zum Shoppen in die Stadt – Kania braucht ein neues Täschchen. Vorher fotografieren sie sich vor dem Dom. Was sie sonst noch vorhaben heute? „Ein bisschen hübsche Männer gucken, besseres Wetter gibt es dafür ja nicht“, sagt Afson.

11.52 Uhr - Ann aus Arizona fragt Steiger-Fahrer Ralf Bayartz, wie hoch der Kölner Dom sei? „157 Meters“ sagt Bayartz faktensicher. Ob sie auch mal mit hochkommen können? „No, sorry.“ Ann geht lachend in den Dom. Sie ist nur für einen halben Tag in Köln. „Wir machen eine 15-tägige Europatour und gucken uns 17 Städte an“, sagt sie.

12 Uhr - Mittagspause für die Domhandwerker. Ralf Bayartz nimmt uns im Korb des Steigerwagens mit nach oben. Aus 60 Metern Höhe ist die Domplatte kein verwirrendes Gewusel mehr. Die Menschen sehen aus wie Ameisentrupps, die genau wissen, was sie zu tun haben.

Ein Trupp trippelt in den Dom, ein anderer hinaus, ein dritter Richtung Hohe Straße. Auf den Treppen vor dem Haus von Köln-Tourismus haben sich zwei größere Kolonien gebildet, die größte Kolonie wartet vor dem Eingang zur Dombegehung.

„Ich gucke immer nach unten und sehe alles und nichts“, sagt Bayartz. Bis Ende nächster Woche wird noch an der Fassade gearbeitet. „Ein bisschen gefährlich hier“, sagt der 46-Jährige. Wegen der Höhe? „Nein. Weil der Wagen 27 Tonnen wiegt. Unter uns liegen Tiefgarage und U-Bahn - und in Köln weiß man ja nie so richtig, ob alles hält.“

Dazu die ganzen Menschen: An einem durchschnittlichen Tag kommen 10.000 in den Dom und 15.000 pro Stunde auf die Hohe Straße. Die Domplatte muss einiges ertragen.

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