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Schockierendes ExperimentTöten für zehn Euro

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Zehn Euro gegen das Leben dieser Maus?

Zehn Euro gegen das Leben dieser Maus?

Bonn – Die E-Mail, die den „Kölner Stadt-Anzeiger“ am 7. Mai 2012 erreicht, kommt von einer gewissen Maxi Mustermann. „Ich möchte anonym bleiben“, schreibt sie und berichtet von einem seltsamen Experiment. Zusammen mit knapp 1000 Studenten habe sie vor kurzem in der Bonner Beethovenhalle an einem wirtschaftswissenschaftlichen Versuch teilgenommen. Jeder Proband habe dabei vor einem Computer sitzen und Entscheidungen treffen müssen. Keine virtuellen, sondern solche über Leben und Tod. Und am Ende seien Hunderte Mäuse getötet worden.

Maus oder Mäuse?

„Die Teilnehmer sollten in den Rollen als Käufer und Verkäufer Preisverhandlungen über ein Gut führen“, beschreibt die Anonyma den Versuchsaufbau. „Das Gut, um das es ging, war eine lebendige, junge, gesunde Maus.“ Das Tier befand sich in dem Rollenspiel in der Obhut des Verkäufers, der mit einem Käufer über das Leben des Nagers verhandeln sollte. Im Spiel waren 20 Euro, die beide Verhandlungspartner unter sich aufteilen durften. „Sobald sich zwei Probanden über einen Preis geeinigt hatten, sollte als Ergebnis die Maus vergast werden“, schreibt Mustermann. „Dafür erhielten die Probanden dann das Geld.“ Einigte man sich nicht, gingen die Teilnehmer leer aus – und die Maus blieb am Leben. Nach ihrer Beobachtung seien sich Käufer und Verkäufer „in 90 Prozent aller Fälle“ einig gewesen, schreibt Mustermann: „In diesem Experiment wurden also sicher »spielerisch« 450 Mäuse zum Tode durch Vergasung verurteilt.“ Für sie eine schockierende Vorstellung.

Prof. Armin Falk leitet das Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung der Uni Bonn. Im Interview gibt er uns Antworten zu dem verstörenden Experiment.

Professor Falk, Ihr Bonner Experiment schlägt seit der Veröffentlichung in „Science“ weltweit Wellen. Wie haben Sie die letzten Wochen erlebt?

Armin Falk: Egal, wo ich im Moment hinfahre: Überall werde ich auf den Versuch angesprochen. Zum einen wohl deshalb, weil es ein ziemlich untypisches Experiment war. Zum anderen wegen der Aussage der Studie. Die lautet, kurz gesagt: Der Markt verändert das moralische Verhalten von Menschen.

Ihr Versuch zeigt, dass 45 Prozent von 1000 zufällig ausgewählten Menschen bereit sind, eine Maus für zehn Euro sterben zu lassen. Hat Sie das schockiert?

Falk: Von der Zahl war ich überrascht. Ich hätte gedacht, man muss den Leuten dafür zumindest mehr als zehn Euro bieten.

Welche Gruppe Ihrer Probanden war denn der Versuchung des Geldes am wenigsten erlegen?

Falk: Es gab tatsächlich viele, die das selbst für 100 Euro nicht gemacht hätten. Und es gab Unterschiede: Frauen haben zum Beispiel weniger Deals abgeschlossen als Männer, Vegetarier weniger als Fleischesser, politisch links Stehende weniger als Rechte. Auch Menschen mit einem hohen Intelligenzquotienten haben eher die Maus leben lassen und dafür aufs Geld verzichtet.

Weil Intelligenz vor unmoralischem Handeln schützt?

Falk: Ich glaube zwar, dass aufgeklärte Konsumenten kritischer sind. Aber das Intelligenz und Bildung grundsätzlich vor unmoralischem Verhalten schützen, denke ich nicht. Das zeigt allein die Geschichte des Dritten Reichs.

Die Pointe Ihres Versuchs ist, dass Menschen in einem Markt noch viel eher zu unmoralischem Handeln neigen. Im Marktumfeld ließen 75 Prozent der Probanden die Maus sterben. Woran liegt das?

Falk: Weil in einem Markt viele Mechanismen wirken, die dazu führen, dass man die eigene Verantwortung vergisst, verdrängt oder verlagert. Etwa, indem wir uns an anderen Marktteilnehmern orientieren, nach dem Motto: Wenn die das machen, wird das schon okay sein. Zum anderen verschwinden Schuldgefühle eher, wenn man sie mit anderen teilt. Der Einzelne erlebt sich in einer arbeitsteiligen Situation nicht mehr als entscheidend, die Verantwortung wird diffus.

Was kann man als Verbraucher aus Ihrem Experiment lernen?

Falk: Man sollte sich selbst öfter fragen: Welchen Konsum möchte ich eigentlich mitverantworten? Man sollte sich klar machen, dass etwa die Produktion von Billig-T-Shirts oft eine Form moderner Sklaverei ist, an der wir uns nur beteiligen, weil das Elend sehr weit weg ist. Außerdem könnten wir sensibler dafür werden, dass es in allen Gruppen immer die latente Gefahr gibt, sich hinter anderen zu verstecken.

Das Gespräch führte Michael Aust

Der Mann, der sich diesen provozierenden Versuchsaufbau ausgedacht hat, sitzt Anfang Juni 2013 in seinem Büro in der Bonner Adenauerallee. Der 45-Jährige heißt Armin Falk, ist Professor am Laboratorium für angewandte Wirtschaftsforschung der Uni Bonn – und zurzeit ein gefragter Mann. Denn seine Studie, die im Mai im renommierten Wissenschaftsjournal „Science“ veröffentlicht wurde, hat in der Fachwelt eingeschlagen wie ein „Sprengkörper“, wie „Die Zeit“ formulierte. Nicht nur Ökonomen diskutieren zurzeit über die These, die Falk und seine Mitautorin, die Bamberger Volkswirtschaftlerin Nora Szech, mit ihrem Versuch belegt haben wollen.

Unmoralisch durch den Markt

Die lautet: Der Markt verführt uns zu unmoralischem Handeln. Was wir alleine im Traum nicht tun würden, das nehmen wir als Marktteilnehmer oft ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf. Wir kaufen T-Shirts, die zu Dumping-Preisen in Bangladesch produziert werden, und essen Fleisch aus Massentierhaltung. Warum? Weil es den Markt gibt, so die provokante These. Wir allein würden unsere Kleidung und Lebensmittel niemals so produzieren lassen. „Wir haben untersucht, ob Menschen bereit sind, einem Dritten Schaden zuzufügen und damit unmoralisch zu handeln“, sagt Falk. „Morals and Markets“, Moral und Märkte, haben die beiden Forscher ihren „Science“-Aufsatz betitelt. Darin schildern sie den Versuchsaufbau so, wie die anonyme Teilnehmerin ihn beschreibt – allerdings erweitert um ein wichtiges Detail: So wurde den Probanden erst nach dem Experiment verraten, dass die Tiere, um die es ging, sogenannte „überzählige Mäuse“ in ausländischen Laboren waren. Solche Mäuse werden für die medizinische Forschung gezüchtet; werden sie nicht mehr gebraucht, werden sie üblicherweise eingeschläfert. Durch sein Experiment sei daher kein einziges Tier gestorben, das nicht ohnehin getötet worden wäre, betont Falk, es seien sogar Hunderte am Leben erhalten worden.

Der Versuch, für den die Forscher im Frühjahr 2012 sechs Säle in Bonns größtem Konzerthaus anmieteten, bestand aus zwei Szenarien. Zum einen sollten die Probanden allein entscheiden, ob sie zehn Euro bekommen wollen, wenn dafür eine junge, gesunde Maus sterben müsste – verzichteten sie auf das Geld, würde das Tier überleben. Im zweiten Szenario sollten sie gemeinsam mit anderen, jeweils in der Rolle als Verkäufer oder Käufer, über die Aufteilung von 20 Euro miteinander verhandeln. Die wären nur in dem Fall ausgezahlt worden, wenn sich „Käufer“ und „Verkäufer“ über den Preis für den Tod der Maus geeinigt hätten. Wie in einem normalen Markt gaben viele Verkäufer gleichzeitig ihre Preisvorschläge an mehrere Käufer ab. Die „Käufer“ konnten sich also an mehreren Angeboten orientieren – und Runde pro Runde individuell zuschlagen. Kamen keine Angebote mehr, war das Spiel beendet.

Zusammen wird es einfacher

Das Ergebnis des Versuchs, das jetzt veröffentlicht wurde, erschreckte sogar die Studienautoren: Auf sich allein gestellt, nahmen 45 Prozent der Teilnehmer die zehn Euro an und den Tod der Maus in Kauf. Bei den Verhandlungen mit anderen entschieden sich sogar drei Viertel der Teilnehmer für die sprichwörtlichen Mäuse – und gegen die Maus. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass viele Akteure im Marktgeschehen gegen ihre eigenen moralischen Standards verstoßen“, sagt Falk. Bemerkenswert: Der Preis, den die Verkäufer für „ihre“ Mäuse erhielten, sank von Runde zu Runde des Experiments. Am Ende gaben viele Probanden das Leben der Maus schon für weniger als fünf Euro preis. „Wenn mehrere Akteure beteiligt sind, wird es offenbar einfacher, seine moralischen Standards zurückzustellen“, interpretiert Nora Szech. Die Forscher erklären sich das Ergebnis ihrer Studie mit den Bedingungen, die erst ein Markt mit sich bringe: Zum einen schaffe er eine Distanz zwischen uns und den Folgen unserer Entscheidungen. „Wir würden in Deutschland nie eine Firma akzeptieren, die unter solchen Bedingungen T-Shirts produziert wie manche Fabriken in Bangladesch“, sagt Falk. Die Tatsache aber, dass die Produktion an weit entfernten Orten stattfinde und die Werbung mit schönen Bildern arbeite, dränge die „Nebenkosten“ des Produkts in den Hintergrund. „Aber im Grunde verstoßen wir gegen unsere eigenen Standards.“ Zudem stifte der Markt eine Art Sünder-Gemeinschaft: Schuld, so scheint es, wird leichter, wenn sie auf viele Schultern verteilt wird (siehe Interview). „Händler verweisen in diesem Zusammenhang gern auf den Spruch: Wenn ich nicht kaufe oder verkaufe, tut es jemand anderes“, sagt Falk. Das Experiment spiegele nur den Alltag der meisten Verbraucher wieder: Allein befragt, wären wir wohl alle gegen Sweatshops und Mastfarmen. Doch als Konsument im Markt sind den meisten von uns moralische Fragen angesichts von Schnäppchenpreisen herzlich egal. Warum das so ist, dafür liefern Szech und Falk in ihrer Studie gute Erklärungen.

Nicht die Marktwirtschaft in Frage stellen

Aber was wäre eine Lösung? Märkte haben schließlich auch positive Wirkungen: Sie bringen Menschen zusammen, lassen die Wirtschaft wachsen und bekämpfen so auch Armut. Sie wollten keineswegs die Marktwirtschaft als solche in Frage stellen, betonen auch Falk und Szech in „Science“. Allerdings sollte man sich fragen, „in welchen Bereichen Märkte sinnvoll sind – und wo nicht“. Auch mehr Transparenz könne helfen: Vermutlich würden weniger Leute Eier aus Legebatterien kaufen, wenn neben dem Verkaufsstand ein Video über die Produktionsbedingungen gezeigt würde, glaubt Falk.

Von den Absichten der Forscher ahnten die Probanden während des Experiments nichts. Viele von ihnen waren danach geschockt, dass solche Versuche möglich sind. Vor allem, weil sie erst später beim sogenannten Debriefing erfuhren, dass die Tiere nicht eigens für sie getötet werden sollten. Besorgte Versuchsteilnehmer hatten da schon den Bonner „General-Anzeiger“ und die Tierschutzbeauftragte der Stadt Bonn alarmiert. Durch ein paar Anrufe ließ sich jedoch klären, dass die Studie von der Ethik-Kommission der Uni genehmigt worden war, weil die Tiere aus der medizinischen Forschung stammten. „Ich hätte das nie gemacht, wenn wir eigens dafür hätten Mäuse züchten müssen“, sagt Armin Falk. Vor kurzem sei er in das Labor gefahren, in dem die überlebenden Nager seither gehalten werden. Ohne das Experiment wären sie aus Kostengründen getötet worden, jetzt zahlen die Ökonomen für ihre Unterbringung. „Wir haben uns diesen Raum voller Mäuse angeguckt, die wir gerettet haben“, sagt Falk. Ein gutes Gefühl sei das gewesen.

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