Abo

Interview über SZ-Mitbegründer"Für mich war die Wahrheit wichtig"

Lesezeit 20 Minuten
Im Interview spricht Maria-Theresia von Seidlein erstmals über die NS-Vergangenheit ihres Großvaters Franz Josef Schöningh.

Im Interview spricht Maria-Theresia von Seidlein erstmals über die NS-Vergangenheit ihres Großvaters Franz Josef Schöningh.

Der ganze Flur zum Konferenzraum, in dem Maria-Theresia von Seidlein ihre Gäste empfängt, hängt voller Filmplakate. Die Medienunternehmerin, bis 2008 Mitgesellschafterin des „Süddeutschen Verlags“ und heute Chefin der 1992 von ihr mitbegründeten „S&L Mediengruppe“, würde selbst gut in die Szene eines Hollywood-Films passen, in der sie gerade von der Ranch kommt. Spitz zulaufende Wildleder-Stiefel, Bluejeans und Tweed-Sakko, die Haare straff zurückgebunden – den Auftritt von Seidleins umgibt etwas Jugendlich-Burschikoses. „Die Mücki“ – ihr Spitzname – „die Mücki macht das schon“, sagt sie und zitiert ihre beiden jüngeren Brüder. So sei es halt immer schon gewesen. Nur geht es diesmal um etwas besonders Heikles: den Umgang der Geschwister mit bislang unbekannten Informationen über die Kriegsjahre ihres Großvaters Franz Josef Schöningh, des Mitbegründers der „Süddeutschen Zeitung“.

Frau von Seidlein, Franz Josef Schöningh, Ihr Großvater mütterlicherseits, ist 1960 gestorben. Haben Sie überhaupt noch eine persönliche Erinnerung an ihn?

Maria-Theresia von Seidlein: Ich war beim Tod meines Großvaters drei Jahre alt, mein Bruder Lorenz ein Jahr, unser jüngster Bruder Rupert war noch gar nicht geboren. Aus meinem eigenen Erleben als kleines Mädchen sind mir von Großvater nur Bilder im Zusammenhang mit der Jagd im Gedächtnis geblieben, seiner großen Leidenschaft. Ich weiß noch, wie er einmal ein totes Reh aus dem Kofferraum seines VW-Käfers geholt und vor mich hingestellt hat. Das fand ich total spannend. Alles andere kenne ich aus Erzählungen meiner Mutter Karen von Seidlein.

Es gibt Bilder von Ihrer Mutter an der Hand des Vaters, den sie sehr bewundert haben muss. Wie hat sie über ihn gesprochen?

von Seidlein: Sie hat ihn geliebt, abgöttisch geliebt. Wir haben von ihr nie ein schlechtes Wort über den Großvater gehört. Er war immer das Familien-Idol. Ein großes Porträt von ihm hängt bis heute in meinem Büro.

Und es bleibt auch da hängen, obwohl Sie inzwischen von der unrühmlichen Vergangenheit Ihres Großvaters in der Zeit des Nationalsozialismus wissen?

von Seidlein: Auf jeden Fall. Er war ja kein Schlächter, kein zweiter Himmler, kein zweiter Hans Frank, dem er im Generalgouvernement Polen von 1941 bis 1944 unterstanden hatte. Sondern Schöningh war ein Mann, der durch die Umstände in eine moralische Zwickmühle geriet.

Davon haben Sie aber erst 2003 erfahren?

von Seidlin: Ja. Bis dahin kannten wir nur die Version unserer Mutter, Großvater sei Forstverwalter in Galizien gewesen. Da er – wie gesagt - leidenschaftlicher Jäger war, lag das nahe und klang plausibel. Als Kind glaubt man seinen Eltern, das ist ja klar. Und so hatten meine Brüder und ich das abgespeichert.

Bis Knud von Harbou bei Ihnen auftauchte, der Sohn des ehemaligen Kreishauptmanns von Sambor/Tarnopol im damals ostpolnischen Galizien, Mogens von Harbou, der sich 1946 vor einer drohenden Auslieferung an Polen als mutmaßlicher Kriegsverbrecher in Dachau erhängt hat.

von Seidlein: Mogens von Harbou und mein Großvater waren Freunde. Nach Harbous Freitod war seine Witwe Lili einige Jahre mit meinem Großvater liiert. Es gab also eine lang zurückreichende Verbindung zwischen den Familien. Ich weiß noch ganz genau, wie Knud von Harbou zu uns kam. Es war an Weihnachten 2003. Meine Brüder, die im Ausland leben und auf Besuch nach Deutschland gekommen waren, und ich saßen unterm Christbaum. Da überbrachte Knud uns eine schockierende Neuigkeit: „Euer Großvater war der Stellvertreter meines Vaters als Kreishauptmann.“ Für mich hieß das: Er war im Auge des Hurrikans. Denn nirgends in Europa hatte es eine solche jüdische Bevölkerungsdichte gegeben wie in Galizien. Inzwischen weiß ich, dass dort die ganze jiddische Stedl-Kultur Osteuropas zu Hause war. In manchen Orten lebten bis zu 70 Prozent Juden. Die sind komplett eliminiert worden. Die Deutschen haben in Galizien unvorstellbar grausam gewütet.

Ihr Großvater auch?

von Seidlein: Was er wann genau getan hat, ist durch die Quellen auch nach Harbous akribischer Suche nicht eindeutig zu belegen. Unwahrscheinlich, dass er persönlich an Erschießungen beteiligt war. Aber von dem Moment an, in dem wir von seiner Stellung als stellvertretender Kreishauptmann hörten, war uns klar, dass Großvater zumindest ein sehr detailliertes Wissen gehabt haben musste.

Das war auch Harbous Arbeitshypothese, als er sich 2003 an Sie wandte?

von Seidlein: Ja. Die Einzelheiten konnte er dann erst Jahre später im Zug seiner Recherchen offenlegen. Nachdem wir ihn dazu ermutigt hatten, eine Biografie unseres Großvaters zu schreiben, kam er alle paar Monate zu uns und erzählte uns die jeweils neuesten Horrorgeschichten: „Also, das könnt ihr euch nicht vorstellen! Unglaublich, was ich da wieder entdeckt habe…“ Er hat sich bis zur Selbstzerfleischung in diese Abgründe eingegraben. Für ihn war das umso bedrängender, als es dabei ja auch um seinen Vater ging.

Was waren das für Dinge, die Harbou für so „unvorstellbar“ hielt?

von Seidlein: Was meinen Großvater betrifft, so gehörte es zu seinen originären Aufgaben als stellvertretender Kreishauptmann, Ghettos für die Juden einzurichten.

Sie „umzusiedeln“.

von Seidlein: Später war das ein Tarnwort für Deportation und Vernichtung. An der Vorbereitung dazu hat mein Großvater mitgewirkt. Er schreibt auch, wie schwierig es gewesen sei, eigene Stadtviertel für die Juden abzugrenzen, und er hat sich Gedanken gemacht, wie dieses Problem zu lösen sei.

Harbou gibt als ersten Hinweis Schöninghs auf seinen Einsatz eine Notiz vom Februar 1942 wieder:  „Heute hatte ich Freude. Da M. (Mogens von Harbou, d.Red.) mir die delikate Aufgabe der Judenumsiedlung wohl im Vertrauen auf meine Fingerspitzen anvertraut hat, hab ich sie halt angepackt. So etwas ist schwer, wenn ein Drittel der Bevölkerung aus Juden besteht, die Stadt denkbar verbaut ist, so dass geschlossene Viertel schwer, eigentlich gar nicht geschaffen werden können… Das Ergebnis ist verblüffend: ohne Lärm, ohne falsche Hast, ohne Grausamkeit, wenn auch mit Härte wird das Ziel erreicht.“

von Seidlein: Scheinbar ganz technisch, ganz emotionslos. So klingt das. Kurze Zeit später, das hat Harbou auch herausgefunden, wussten sein Vater und mein Großvater dann Bescheid über die Massendeportation und Vernichtung der Juden, die als „Endlösung“ auf der Wannsee-Konferenz Anfang 1942 in Berlin beschlossen worden war.

Wie sind Sie mit diesem – wie Sie sagen – „schockierenden“ Wissen  über Ihren Großvater umgegangen?

von Seidlein: Ich habe immer versucht, dazu ein Stück weit auf Distanz zu bleiben. Aber mein jüngerer Bruder Lorenz, der in Australien lebt, hat es sich unglaublich zu Herzen genommen. Er hat sich völlig in das Thema reingefressen, so dass seine Frau am Ende gedroht hat, ihn zu verlassen, wenn nicht sofort die ganze Bibliothek mit Literatur über den Holocaust, die sich mein Bruder zugelegt hatte,  aus dem Haus verschwände. Meine Schwägerin sagte, sie wolle keines dieser Bücher mehr sehen.

Was hat Ihr Bruder getan?

von Seidlein: Er hat sich für seine Frau entschieden. Als wir uns danach einmal trafen, sagte er zu mir: „Denk nicht, ich sei ein besserer Mensch geworden, weil ich mich mit diesem ganzen Grauen beschäftigt habe.“

Und Sie?

von Seidlin: Für mich und meine Brüder war die Wahrheit wichtig. Wir wollten wissen, was war.

Geht es Ihnen mit diesem Wissen denn nun besser?

von Seidlein: Nein. Ganz ehrlich: Mir wäre es am liebsten gewesen, ich hätte das alles nie erfahren. Aber wenn du es nun mal erfahren hast – was machst du dann? Du hast eigentlich nur zwei Möglichkeiten: das Ganze ignorieren, in der Schublade verschwinden lassen. Oder heraus damit! Ganz nüchtern, damit jeder, der das möchte, sich selbst ein Urteil bilden kann.

Die Wahrheit wird euch frei machen, heißt es. Fühlen Ihre Brüder und Sie sich freier nach der Veröffentlichung der Biografie über Ihren Großvater?

von Seidlein: Nicht freier, nicht besser, nicht schlechter. Weil es für uns außer Frage stand, das Buch herauszugeben. Wir wollten die Wahrheit über diese dreieinhalb Jahre von Ende 1941 bis 1944 nicht verschweigen. Andererseits ist die polnische Eskapade nicht das ganze Leben meines Großvaters. Es war sein Schicksal, nach Galizien gelangt zu sein. Sein erklärtes Ziel war es, 1941 der drohenden Einberufung zu entgehen. Unsportlich, wie er war, ohne militärischen Rang oder soldatische Erfahrung war ihm klar, dass es für ihn an der Front verdammt unangenehm geworden und dass seine Überlebenschance gen Null gegangen wäre. Darum hat er alles dafür getan, nicht Soldat zu werden. In dieser Situation tat sich für ihn durch eine familiäre Connection die Chance auf diesen Verwaltungsposten in Ostpolen auf. Also, ich meine, da hätte jeder zugegriffen. Hundertprozentig.

Waren Sie sich in der Familie einig darin, an die Öffentlichkeit zu gehen?

von Seidlein: Meine Brüder und ich ja. Meinem Vater war der Gedanke eher unangenehm: „Muss man das denn wirklich alles ans Licht der Öffentlichkeit zerren? Es reicht doch, wenn wir wissen, was los war.“ Er hat sich nicht total gesperrt, aber wäre es nach ihm gegangen, hätte es sicher kein Buch gegeben.

Was hätte wohl Ihre Mutter gesagt?

von Seidlein: Hätte sie noch gelebt, wäre die Veröffentlichung vollkommen undenkbar gewesen. „Ja, ja, das war alles so“, hätte sie gesagt. „Aber bitte, hört jetzt auf damit! Quält mich nicht!“ Es hätte ihr das Herz gebrochen.

Warum erscheint eine Schöningh-Biografie eigentlich nicht im Schöningh-Verlag, der ja sogar die renommierte Forschungsreihe der „Kommission für Zeitgeschichte“  im Programm hat?

von Seidlein: Wir haben das überlegt, wollten aber jeden Anschein familiärer Befangenheit vermeiden.

Fühlen Sie sich heute von Ihren Eltern getäuscht oder hintergangen?

von Seidlein: Irgendwie schon. Aber, Herr Kilz, Sie zumindest kannten ja meine Mutter:  unglaublich weich, harmoniebedürftig! Trotzdem hat es uns Kinder getroffen, dass uns das alles verschwiegen worden war! Wider besseres Wissen, wie vor allem mein Bruder Lorenz meinte. Und das in einer Familie, von der wir gedacht hatten, sie handhabe die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit besonders bewusst und perfekt.

Wie kamen Sie zu dieser Ansicht?

von Seidlein: Ich erinnere mich, dass wir Geschwister gelegentlich darüber diskutiert haben, warum wir so betont, ich würde fast sagen, obsessiv antifaschistisch erzogen wurden.

Und warum?

von Seidlein: Heute glaube ich, dahinter stand bei meiner Mutter eine Form von Schuldbewusstsein, das sie ihr ganzes Leben begleitet hat. Ein typisches Beispiel: Sie hat uns Kinder mit acht, zehn Jahren ins KZ nach Dachau geschleppt. Natürlich konnten wir danach tagelang nicht schlafen. Sie aber legte größten Wert darauf, uns das zu zeigen. Und die ersten Bücher, die ich zum Lesen von ihr bekam, waren immer so Anne-Frank-Geschichten. Eine andere Szene werde ich auch niemals vergessen: Mein jüngster Bruder Rupert ging in der Grundschule in eine Klasse mit Iris Knobloch, der Tochter der späteren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden. Als Klassenbeste hatten die beiden ständig Gerangel, und einmal hat mein Bruder sie auf dem Schulhof so richtig vermöbelt. Wie Kinder das so machen. Aber da stand dann tatsächlich der Vorwurf des Antisemitismus im Raum. Meine Mutter war wie elektrisiert. Sie regte sich wahnsinnig auf und trat mit meinem Bruder den Gang zu den Knoblochs an, um sich in aller Form zu entschuldigen. Ich musste auch mit. Das war eine Situation wie in „Gott des Gemetzels“, die aber in ein sehr nettes, freundliches Gespräch mündete.

Sie sprechen vom  „Schuldbewusstsein“  Ihrer Mutter. Sie glauben also,  dass sie über ihren Vater und seine Vergangenheit Bescheid wusste?

von Seidlein: Ich bin überzeugt: Meine Mutter wusste zumindest, dass ihr Vater in Polen Dinge getan hatte, die nicht an die große Glocke gehören. Und darüber wird sie auch meinen Vater informiert haben.

Haben Sie ihn zur Rede gestellt?

von Seidlein: Natürlich. Er räumte ein, er habe schon gewusst, dass sein Schwiegervater in Tarnopol nicht bloß der Förster gewesen war. Aber er habe das Ausmaß nicht gekannt, in dem die deutsche Zivilverwaltung im Generalgouvernement Polen an der Judenvernichtung beteiligt gewesen war, ja gewesen sein musste. Das glaube ich ihm. Denn selbst in der historischen Forschung ist das erst in den 90er Jahren zum Thema geworden.

Bei allem kindlichen Vertrauen in die Lesarten der eigenen Eltern – hatten Sie wirklich nie Zweifel an der Legende vom unbedarften Leben Ihres Großvaters im Osten? Es gab doch zum Beispiel diesen Dokumenten-Koffer, den Sie Harbou übergeben haben.

von Seidlein: Das stimmt. Der war schon immer da gewesen, stand bei uns auf dem Speicher herum und wurde bei jedem Umzug mitgeschleppt. Schon als Kind hatte ich in dem Koffer herumgekruschtelt, weil er allerhand Alben mit alten Fotos und solche spannenden Sachen enthielt. Aber meine Mutter wollte das nicht. Als Harbou zu uns kam, habe ich ihm gesagt, „da oben muss irgendwo noch dieses Ding sein“. Mein Vater hat Harbou dann die Auswertung des Inhalts genehmigt. Wesentliche Dokumente, auf die sich sein Buch stützt, stammen aus diesem Koffer. Ich habe sie mir dann auch mal angesehen, wie sie schön säuberlich in einer langen Reihe dalagen. Aber es gibt einen entscheidenden weißen Fleck: Alles aus der Zeit, als Großvater in Galizien war, fehlt. Das muss irgendjemand aussortiert haben.

Ihr Großvater selbst?

von Seidlein: Oder meine Großmutter, ja.

Somit fehlt Ihnen auch jede Auskunft darüber, was Ihr Großvater damals empfunden haben mag, ob er sich schuldig fühlte. Haben Sie versucht, sich in ihn hineinzuversetzen?

von Seidlin: Wissen wir, wie wir uns verhalten hätten? Sie? Ich? Das ist die Frage, die ich mir immer wieder stelle. Ich bin mir beispielsweise ganz sicher, dass ich den Verwaltungsposten in Sambor/Tarnopol auch angenommen hätte. Warum denn nicht? Aber danach: Wenn ich gewusst und gesehen hätte, was dort mit den Juden passiert – wie hätte ich gehandelt? Hätte ich den Mut eines Berthold Beitz oder Oskar Schindler gehabt? Aus anderen Quellen ist bekannt, dass Schöningh und Harbou sich Heimaturlaub genommen haben, wenn wieder einmal eine „Unternehmung“ gegen die Juden anstand. Sie wollten offenbar so weit weg davon sein wie möglich. Manchmal sage ich mir: Vielleicht hätte Großvater einige Juden mehr retten können, so wie er das bei Jindrich Bronner getan hat…

… einem Juden, der im Wirtschaftsamt von Tarnopol arbeitete. Als Bronners Tarnexistenz als „Arier“ aufflog, verhalfen Harbou und Schöningh seiner Familie und ihm zur Flucht. In einer Art Leumundszeugnis schrieb Bronner 1951, dass Schöningh „mit eigener Lebensgefahr unseren Glaubensgenossen half, den Häschern der Gestapo zu entkommen.“

von Seidlein: Dazu muss man wissen: Auf Hilfe für Juden stand im Generalgouvernement – anders als im deutschen Reichsgebiet – die Todesstrafe.

In Schöninghs Aufzeichnungen heißt es einmal: „Es wird jetzt bitterernst und man muss genau wissen, wo man stehen wird“. Und: „Man kann nur entschlossen beiseite treten oder mitlaufen.“  Vor diese Alternative gestellt, hat er sich fürs Mitlaufen entschieden.

von Seidlein: Na ja, er hat schon zur Seite treten wollen. Die Stelle im Generalgouvernement war für ihn ja der Versuch dazu. Was dort mit den Juden geschah, wusste er vor seinem Amtsantritt sicher nicht.   

Bei Ihnen überwiegt insgesamt das Verständnis für Ihren Großvater?

von Seidlein: Das Einzige, was ich mir an seiner Stelle überlegt hätte: Wenn ich schon früh klar erkenne, was läuft; wenn ich unabhängig bin, vermögend und – nach der privaten Trennung – familiär unabhängig, warum sich dann nicht vom Acker machen? Also, ich glaube, ich hätte das getan. Ich wäre nicht in Deutschland geblieben. Aber okay, er hat sich anders entschieden – für sein gutes Leben, für seinen Job bei der katholischen Zeitschrift „Hochland“. Als es dann nach dem Verbot des „Hochland“ 1941 enger wurde, war es zu spät. Da kam er nicht mehr raus.

Nach dem Krieg wurde Schöningh bei der Entnazifizierung durch die Alliierten als „nicht betroffen“ eingestuft. Aus den Unterlagen, aber auch aus Zeugenaussagen vor Gericht ergibt sich aber, dass er dafür falsche Angaben gemacht, seine Rolle konsequent verschleiert und sich lediglich als „Angestellten“ in der Zivilverwaltung bezeichnet hat. Harbou sagt, Schöningh habe „alle hereingelegt“.

von Seidlein: Das hat er für meine Begriffe etwas scharf formuliert.

Wie würden Sie es denn nennen? „Ich bin von 1942 an … als Angestellter tätig gewesen. Das Amt eines stellvertretenden Kreishauptmanns habe ich nicht bekleidet, wohl aber auf Wunsch und im Einverständnis mit dem Kreishauptmann von Harbou diese Funktion bei ihm ausgeübt“, sagt Schöningh vor Gericht. Was ist das anderes als eine Täuschung?

von Seidlein: Er hat sich systematisch kleiner gemacht, als er war. Das stimmt.

Wie erklären Sie es sich eigentlich, dass das alles nach dem Krieg unter dem Teppich geblieben ist, obwohl es selbst in der Redaktion der „Süddeutschen“ schon Ende der 1940er Jahre Hinweise auf eine Verstrickung Schöninghs gab?

von Seidlein: Zum einen glaube ich, dass tatsächlich die Legende von der „sauberen Zivilverwaltung“ gegriffen hat. Erst 30, 40 Jahre später wurde offenbar, dass jeder höherrangige Mitarbeiter im Generalgouvernement schmutzige Hände gehabt hatte, haben musste. Zum anderen hatte in den Nachkriegsjahren keiner ein wirkliches Interesse an schonungsloser Aufarbeitung der Geschehnisse.

Als Knud von Harbou Sie 2003 zum ersten Mal mit der Vergangenheit Ihres Großvaters konfrontierte, waren Sie noch Gesellschafterin des Süddeutschen Verlags. Was hat es für Sie als Mitherausgeberin einer liberalen, der Aufklärung verpflichteten Zeitung bedeutet, dass auf ihrem Mitbegründer plötzlich dieser Schatten lag?

von Seidlein: Nicht viel, wenn Sie mich so fragen. Zum einen lagen die Ergebnisse von Harbous Recherchen noch gar nicht im Detail vor. Zum anderen hatten die Geschehnisse im Leben meines Großvaters, so fand ich, wenig zu tun mit der späteren Entwicklung der Zeitung. Das war eine andere Welt, eine komplett andere Geschichte.

Aber erschüttert es nicht den Gründungsmythos der Süddeutschen?

von Seidlin: Sie haben zumindest insofern Recht, als Franz Josef Schöningh von den Alliierten schwerlich die Lizenz bekommen hätte, wenn seine Funktion während des Kriegs in vollem Umfang bekannt gewesen wäre.  Andererseits hat das Gründerteam letztendlich einen guten Job gemacht, und der Aufstieg der Süddeutschen zur heutigen Bedeutung fand ohnehin erst nach 1960 statt, dem Todesjahr Schöninghs.

Schöninghs Mitgesellschafter bei der SZ, der Sozialdemokrat Edmund Goldschagg und der katholische Zentrums-Mann Alfred Schwingenstein, waren ausgewiesene Antifaschisten.

von Seidlein: Das war Franz Josef Schöningh auch. Er war definitiv kein Nazi, sondern – im Gegenteil – ein erklärter Gegner. Das ist wirklich „waterproof“. Lesen Sie nach, was er über Hitler, die Nazis und die NS-Herrschaft schon in den 30er Jahren geschrieben hat!

Das haben wir getan: „Sadistische Kobolde, heulende Wolfsmenschen, Narren, Shakespearesche Narren, nur ohne seine Tiefe“, nannte Schöningh die Nazi-Größen und schrieb 1934 in seinen privaten Notizen: „Wann werden die Fieberträume dieses Volkes vorüber sein, wann werden die Spukgestalten sich in das Nichts auflösen, das sie sind?“

von Seidlin: Sehen Sie! An seiner Antipathie gegen die Nazis gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel. Er ist halt in diese prekäre Lage gekommen. Wissen Sie, der Großvater meines ehemaligen Partners, Walter Krüger, stand als Wehrmachts-General mit der Ersten Panzerdivision vor Leningrad. Es ist allseits bekannt, was dort passiert ist: Die Deutschen ließen durch ihren Belagerungsring sehenden Auges eine Million Menschen elend verhungern. Und Krüger war der Kommandeur, er gab die Befehle! Als ich seinem Enkel von der Geschichte mit meinem Großvater erzählte, sagte er: „Mücki, mach dich nicht fertig! Es ist einfach so: Unsere Großeltern sind durch Blut gewatet.“ Da hat er Recht. Leider. Nach dem Krieg hat Schöningh dann jedenfalls alles versucht, das Gespenst der NS-Ideologie zu bannen.

Wenn Sie den Gründungsmythos der Süddeutschen unberührt sehen – wie steht es mit dem Familien-Mythos, auf der Seite der Guten gestanden zu haben?

von Seidlein: Nach allem, was ich inzwischen weiß, glaube ich: Diese Unschärfe gilt für praktisch jede Familie aus dem gehobenen Bürgertum, die keine jüdischen Verwandten hatte oder zum unmittelbaren Kreis des Widerstands gehörte. Weil sie alle irgendwie im Nazi-Staat mitgemischt hatten, hatten sie auch alle Dreck am Stecken. Und je höher die gesellschaftliche Stellung, desto näher waren die Leute an den Größen des Regimes dran. Ein Freund meines Großvaters väterlicherseits war Rudolf Heß, der Stellvertreter Hitlers. Es existiert ein Foto von der Beerdigung meiner Großmutter, auf dem Heß am Grab steht. Aber die Familie hätte es immer bestritten, mit den Nationalsozialisten verbandelt gewesen zu sein: „Wir? Um Gottes willen! Wir waren doch keine Nazis! Nie im Leben!“ – „Und wie kommt Heß dann auf Omas Beerdigung?“ – „Tja, also, ähm…“ Großes Schweigen. Der kollektive Verdrängungsreflex.

Hat sich Ihr Blick auf die 68er und deren Aufbegehren gegen die Väter-Generation und das Verdrängen der Schuld verändert?

von Seidlein: Ich kann das Revoltieren gegen den Filz der Nachkriegszeit heute besser verstehen, zumal die Blockaden damals viel größer waren als heute. Es hat schon etwas Absurdes, dass diese grauenvollen Taten jetzt noch die Enkel-Generation einholen.

Eine Vererbung von Traumata?

von Seidlein: Die Aufarbeitung konnte in der ersten Generation gar nicht vollständig sein. Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg hätte nicht funktioniert, wenn man die alten Eliten nicht in das politische, soziale und kulturelle Leben integriert hätte. Irgendwie verstrickt waren eben fast alle, auch wenn nur wenige das Pech hatten, an einen Ort wie Tarnopol geschickt zu werden, so wie mein Großvater. Das war „tough luck“, ein Riesenmist. Das Einzige, wo ich mich zu einem Vorwurf ihm gegenüber durchringen könnte, das ist sein Schweigen nach dem Krieg. Dass er die Wahrheit nicht offengelegt hat, besonders gegenüber der eigenen Familie. Aber selbst da ist mein Gefühl, er wäre glücklich gewesen, wenn es ihm gelungen wäre, reinen Tisch zu machen. Ich glaube, er hätte es gerne gesagt. Nur aus seinem ganzen Agieren wissen wir: Er war kein Held – physisch nicht, aber auch nicht mental.

Höchstens ein Frauenheld vielleicht.

von Seidlein: Aber hallo! Den Frauen, dem Wein und dem guten Essen war er sehr zugetan. Schöningh war ein Bonvivant, ein Schöngeist, ein Intellektueller. Aber kein Kämpfer. Er war einfach nicht mutig genug. Und es hätte enormen Mut gebraucht, sich nach dem Krieg hinzustellen und zu sagen: „Ich habe alles gewusst. Ich war dabei, als die Juden in die Vernichtung getrieben wurden. Ich habe es gesehen.“

Auch wenn Sie sagen, Sie wollten sich als Enkel nicht über den Großvater erheben - mit der Herausgabe seiner Biografie richten Sie ein Stück weit über ihn, ob Sie das wollen oder nicht. Haben Sie mit Ihren Brüdern darüber gesprochen?

von Seidlin: Genau diesen Einwand haben wir befürchtet – verbunden mit dem Vorwurf, wir hätten kein Recht dazu, weil wir die damalige Zeit nicht selbst erlebt und obendrein als Gesellschafter der SZ vom Verhalten unseres Großvaters nach dem Krieg erheblich profitiert hätten. Aber wir wollten uns an dieser Stelle nicht irre machen lassen: In Kenntnis all der unfassbaren Gräuel konnten wir nicht darüber hinwegsehen, welchen Anteil unsere Familie daran hatte. Das war – nennen wir es eine innere Verpflichtung, eine Sache der Moral. Und vielleicht auch ein kleiner Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung.

Eine Art von Katharsis, von Zerstörung und Reinigung zugleich?

von Seidlein: Vielleicht. Die wichtigste Konsequenz aus alledem aber ist für mich der Vorsatz: So etwas darf sich nicht wiederholen. Nie, nie, nie! Und deshalb ist es unglaublich wichtig, mutig zu sein, einen klaren moralischen Kompass zu haben und sich einen Dreck darum zu scheren, was andere sagen oder denken könnten. Ich vermute, dass dieser Impuls auch in meiner Mutter lebendig war und dass sie uns deshalb schon als Kindern beigebracht hat, was Zivilcourage ist. Ich weiß noch, dass ich als Siebenjährige ganz stolz war, dieses Wort zu kennen und zu wissen, was es bedeutet: dass man Mut hat, aufsteht und seine Meinung sagt, auch wenn es einem schadet oder Kritik einbringt.

Empfinden Sie es als Rückhalt, dass sich auch andere Familien der Vergangenheit ihrer Vorfahren stellen, wie jetzt die Tochter Hans Filbingers?

von Seidlein: Ja, weil es ein Bekenntnis zur deutschen Realität ist. Und vielleicht ist die Zeit dafür gerade jetzt reif, weil die Generation der Großväter inzwischen tot ist und die Enkel sich trauen, Fragen an die Geschichte zu stellen, die sie den Akteuren zu Lebzeiten nicht stellen mochten. Dabei wird keiner, der die Geschichte meines Großvaters liest, am Ende sagen können: „War das ein Dreckschwein!“ Selbst „Verbrecher“ oder den Begriff „Mordgehilfe“, wie ihn der „Spiegel“ verwendet hat, finde ich unfair und unangemessen. Mein Großvater war kein Mörder. Letzten Endes war er einfach nur ein Feigling.

Das Interview führten Joachim Frank und Hans Werner Kilz

KStA abonnieren