Der sich nicht fügen wollte

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Nach der Tat fotografierte die Staatssicherheit den Panzer der Roten Armee in der früheren Karl-Marx-Stadt. Rechts im Bild ist der abgesprengte Reifen zu sehen.

Nach der Tat fotografierte die Staatssicherheit den Panzer der Roten Armee in der früheren Karl-Marx-Stadt. Rechts im Bild ist der abgesprengte Reifen zu sehen.

Aus Hass auf das Regime versuchte er, ein Denkmal in die Luft zu sprengen. Für die Tat bekam er das Urteil lebenslang, Isolationshaft und viele Schläge.

Das Wetter ist furchtbar am 9. März 1980. Es ist Sonntag und Schneeregen geht über Westsachsen nieder. Den ganzen Tag wird es nicht richtig hell. Abends läuft ein Krimi im DDR-Fernsehen, „Polizeiruf 110“. Auf solch einen Tag hat Josef Kneifel lange gewartet. Niemand wird draußen unterwegs sein. Keine Spaziergänger, keine Autofahrer. Wer kann, ist zu Hause im Warmen. Genau der richtige Tag, um die Bombe zu zünden. Gegen 21 Uhr verabschiedet sich Josef Kneifel von seiner Frau Irmgard. „Mach's gut, ich geh' jetzt.“

Sie leben in einem Häuschen in Niederlichtenau bei Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz), in der Erdbeersiedlung. Viel Garten, Rosen, ein Springbrunnen. Josef Kneifel holt den Sprengsatz aus dem Versteck im Pumpenschacht, befestigt die Papiernummernschilder an seinem aschgrauen Trabant, lädt die Bombe in den Kofferraum, steckt Handgranaten ein und einen Revolver. Sein Ziel ist das sowjetische Ehrenmal Ecke Dresdner und Frankenberger Straße, ein T-34 Panzer der Roten Armee auf einem Betonsockel mit der Inschrift: 8. Mai 1945. Ein Denkmal, wie es Hunderte in der DDR gab, direkt neben der Polizeikaserne. Josef Kneifel schiebt die Bombe unter die linke Panzerhälfte, stellt den Zünder, geht zurück zum Auto, steigt ein, im selben Moment zündet die Bombe. Die Detonation bricht aus dem Panzer ein 250 Kilo schweres Rad und schleudert es 50 Meter weit über die Straße auf das

Volkspolizeigelände. Der Panzer aber bleibt auf dem Sockel stehen. Überall platzen Fensterscheiben. „Der reale Sozialismus“, sagt Kneifel, „hat es geschafft, einen Bücherwurm zum Terroristen zu machen.“ 25 Jahre nach dem Anschlag erzählt er seine Geschichte. Die Geschichte des einzigen Bombenanschlages in der DDR. Die Geschichte eines Mannes, der den SED-Staat hasste wie kaum ein anderer. Und der dann bitter bezahlen musste für seine Tat. Da sitzt er nun an seinem Wohnzimmertisch in einem Haus in Nürnberg, Josef Kneifel, 62 Jahre alt, geboren 1942 in Niederschlesien. 1,78 Meter groß, 68 Kilo leicht, Haut und Knochen. Der Mann ist körperlich ein Wrack. Der kantige Glatzkopf voller kleiner Narben, die zertretenen Rippen schief zusammengewachsen, die Nieren in feuchtkalten Gefängniszellen zerstört, an den Unterarmen noch die Spuren der Handschellen.

Sein Leben war ein normales Leben in der DDR. Aufgewachsen bei Pflegeeltern in Sachsen, Schule, Fleischerlehre, später Lehre als Dreher. Arbeit im VEB „Erste Maschinenfabrik Karl-Marx-Stadt“. Mitglied in der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, außerdem „Freiwilliger Helfer der Volkspolizei“. Ansonsten liest er unendlich viel, vor allem deutsche Klassiker. Das Lesen verändert ihn. Er denkt nach, vergleicht, wird politisch. Als 1968 Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling ersticken, klebt Josef Kneifel Protestplakate. Die DDR, seine Heimat, ist längst nicht mehr sein Land, sie schnürt ihn ab. „Dieses ewige Schlangestehen“, sagt er, „dieses ständige Hetzen nach dem Selbstverständlichsten, die Entwürdigung der Bestechung und des Bestochenwerdens, um Alltäglichkeiten zu erhalten, die Demütigung vor den Ämtern, das Kuschen vor der Partei.“

1972 stellt er einen Ausreiseantrag. 1975 schimpft Kneifel öffentlich über die SED, die Blockparteien, die DDR-Gewerkschaften, die Sowjetunion mit ihren Gulags. Einige Wochen später erscheint die Kriminalpolizei, Kneifel gibt alles zu.

Am 28. August 1975 verurteilt ihn ein Gericht zu zehn Monaten Gefängnis. Er kommt nach Magdeburg, ins Außenlager Aldensleben. Sechs Monate davon in einer 7,5 Quadratmeter kleinen Zelle mit drei Schwerkriminellen. „Die zehn Monate damals haben mir die Seele verätzt“, sagt er heute. Nach der Haft will er in seinen Maschinenbaubetrieb zurück, man lässt ihn nicht. Er will seinen Ausweis, er bekommt ihn nicht. Er will Arbeit, findet aber keine, obwohl gute Dreher und Werkzeugmacher gesuchte Leute sind.

Josef Kneifel hat einen Freund, Horst K., der etwas von Waffen und Sprengstoff versteht - und der denkt wie er. 1978 fangen sie an, Pläne zu schmieden, im Herbst 1979 ist die Bombe gebaut. Niemand weiß etwas. Nur Josef, Irmgard und Freund Horst. Kneifels Sohn, damals 17, ist nicht eingeweiht. Weihnachten 1979 marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein. Das war der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ: im März 1980 zündet er die Bombe. Zehn Minuten nach der Tat ist Josef Kneifel zu Hause in Niederlichtenau, niemand hat ihn bemerkt. Die folgenden Wochen sind zeitweise fast 6000 Fahnder mit dem Fall „Operativer Vorgang Panzer“ befasst. Einen derartigen Anschlag hatte es noch nicht gegeben in der DDR. Dann, am 18. August 1980, schlägt die Polizei zu. „Normalerweise hätten die mich nie gekriegt“, sagt Josef Kneifel. Doch sein Sohn hatte zu Hause etwas aufgeschnappt und mit dem Pfarrer darüber gesprochen. Der hatte sich an seinen Superintendenten gewandt und die Stasi bekam alles mit, weil das Haus des Superintendenten verwanzt war.

Am 9. März 1981, ein Jahr nach der Tat, verurteilt das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt Josef Kneifel zu lebenslanger Haft. Seine Frau bekommt als Mitwisserin zwei Jahre Gefängnis, sein Freund Horst zwölf Jahre, der Sohn eine Bewährungsstrafe. Bei der Urteilsverkündung schreit Kneifel: „Genug den Namen des Volkes missbraucht, ihr Lakaien.“ Von da an verwandelt sich sein Leben in eine Hölle. Bis 1987 wird er in Isolationshaft gehalten, die längste Zeit im Keller der Strafvollzugseinrichtung Bautzen. Allein in einem feuchten vier Quadratmeter winzigen Loch. Ohne Fenster, ohne Tageslicht. Keine Bücher, kein Radio, kein Gespräch. Weil er sich nicht als „Strafgefangener“, sondern als „politischer Gefangener der Honecker-Bande“ gemeldet hat, wird er verprügelt und gegen das Zellengitter geworfen.

Bei einem Hofgang hat er eine Scherbe aufgenommen, in ein feuchtes Läppchen gewickelt und dann in seinem Enddarm versteckt. Damit ritzt er die Wände voll. Beschimpfungen gegen den SED-Staat. Berechnungen, Formeln, Periodensysteme, Volumina, Entfernung Erde Mond, Gedanken.

Wie viel Luft ist im Raum, wie viel atme ich in so und so viel Zeit ein? Sein Hass ist endlos, sein Körper nur noch ein zerschlagenes Bündel, gerade über 50 Kilo schwer. Anfang 1987 bricht er zusammen, wird zwangsernährt.

Sein Schicksal ist in der Bonner Bundesregierung längst bekannt. Im Juli desselben Jahres werden Josef Kneifel und seine Frau im Rahmen eines Austauschs von Agenten und Dissidenten in die Bundesrepublik entlassen. Sie ziehen nach Nürnberg. Er findet Arbeit im Maschinenbau. 1991 versagen seine Nieren endgültig, er wird Dialysepatient, 1993 geht seine Firma pleite. Seine Frau stirbt an Krebs, später sein Freund Horst. Josef Kneifel bekommt eine Entschädigung als politischer Gefangener.

Er lebt zwischen seinen Büchern und seiner Musik. Manchmal hält er Vorträge. „Ich war ein Durchschnittsmensch von bescheidener Bildung, sonst nichts“, sagt er über seine Vergangenheit. „Das Leben in der DDR war zu wenig. Der Kampf war mir mehr wert.“

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