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Der Wikipedia-Pionier aus Köln

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Magnus Manske in der Universität Köln

Magnus Manske in der Universität Köln

Was den Startschuss angeht, so ist sich Magnus Manske heute nicht mehr ganz sicher. Es könnte die Polymerase-Kettenreaktion gewesen sein, aber möglicherweise begann alles auch ganz simpel mit der Zelle. Der Biochemiker, der die erste Version der aktuellen Wikipedia-Software geschrieben hat, kann sich nicht erinnern. Was kaum verwunderlich ist, schließlich ist der Schlagabtausch der Artikel bei Wikipedia rasant wie das hohle Klacken eines Tischtennisballes während des Pingpong-Spiels. Das Wissen im Netz hat auch den Dinosaurier der Enzyklopädie zur Veränderung bewegt. Seit einigen Wochen zieht der Brockhaus dem oft belächelten Filius nach: Die Buchausgaben werden abgeschafft. Das Brockhaus-Wissen ist nun auch nur mehr im Internet zu haben. Wikipedia über Wikipedia: „Wikipedia ist ein Projekt zur Erstellung einer Online-Enzyklopädie in mehreren Sprachversionen. Der Begriff Wikipedia ist ein Kofferwort und setzt sich aus „Wiki“ (Hawaiisch für „schnell“) und „Encyclopedia“ zusammen. Hauptmerkmal ist, dass jedermann unmittelbar Artikel einstellen oder verändern kann. Dabei hat Bestand, was von der Gemeinschaft akzeptiert wird. Bisher haben international etwa 285 000 angemeldete und eine unbekannte Anzahl von nicht angemeldeten Benutzern Artikel zum interaktiven Projekt beigetragen. Mehr als 7000 Autoren arbeiten regelmäßig an der deutschsprachigen Ausgabe mit.“ Magnus Manske, der heute am Sanger-Institut in Cambridge forscht, hat den Ball sozusagen ins Spiel gebracht. Er war der Erste, der in der Internet-Enzyklopädie einen Artikel verfasste.

„Naja, einer der Ersten, nicht der Erste“, wird er später sagen, wer weiß das schon so genau. Und sich dabei verlegen räuspern, mild lächeln. Bescheidenheit. „Bescheidenheit ist eine Verhaltensweise von Menschen, wenig von etwas für sich zu beanspruchen, selbst dann, wenn die Möglichkeit der Vorteilnahme bestünde. Bescheidenheit als Lebensprinzip entsteht aus der Einsicht, dass alles Übermaß im Leben schädlich ist, gemäß dem altgriechischen Merkspruch: Nichts zu viel.“ So steht es im interaktiven Lexikon Wikipedia.

„Viele grundsätzliche Sachen waren noch offen. Sie müssen sich vorstellen, da gab es zwar den Unterpunkt Biologie, aber dazu gab es keinen einzigen Artikel.“ Magnus Manske redet schnell. Die Worte fusseln aus seinem Mund. Wenn er nicht redet, dann nickt er. Schnell. Vielleicht waren es auch die Mitochondrien. Unsicherheit. „Als Unsicherheit bezeichnet man einen bewusst wahrgenommenen Mangel an Sicherheit. Dieser Zustand äußert sich häufig sprachlich und in einer wechselnden Verhaltensweise.“

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Mit Akribie und Langsamkeit

Begonnen hat Manske ganz wissenschaftlich mit Akribie, Falsifizierung und einer gewissen Langsamkeit. Bei Nupedia, dem Vorgänger von Wikipedia, hat er Artikel eingereicht. „Bis die erschienen sind, dauerte es Monate, weil alles Korrektur gelesen wurde“, sagt Manske. Wer Ergänzungen zu einem Artikel hatte, musste die auch erst einreichen. „Am Ende hatte ich zwei Aktenordner Korrespondenz gesammelt für gerade mal zwei Artikel, die ich durchgebracht habe“, sagt der 33 Jahre alte Biochemiker. Dem damaligen Studenten war das zu zäh. Der Schlagabtausch hat ihn mehr interessiert. Die Möglichkeit, sein Wissen in dieser Sekunde über das Netz zu verbreiten und in der nächsten Sekunde ergänzt zu werden. Interaktion. „Interaktion bezeichnet das wechselseitige aufeinander Einwirken von Akteuren oder Systemen und ist verknüpft mit den übergeordneten Begriffen Kommunikation, Handeln und Arbeit.“

Arbeit ist ein weiter Begriff. Er kann sich durchaus überschneiden mit Freizeit. Zumindest ist das bei Magnus Manske so. Manchmal sitzt er nach der Arbeit vier bis fünf Stunden vor dem Interaktiv-Lexikon und puzzelt an neuen Artikeln herum, lädt Fotos zur Illustration hoch. Oder: Sucht. Nach weißen Flecken auf der Wiki-Landkarte, die immer schwerer zu finden sind. „Es gibt heute über jedes amerikanische Schiff, das im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, einen eigenen Artikel, jede Pokemon-Figur ist detailliert charakterisiert, jede Starwars-Folge“, stöhnt Manske. Im deutschen Wikipedia sei aber noch ein bisschen Luft. Vor allem in den Kultur- und Kunstwissenschaften. „Die Naturwissenschaften sind recht gut abgedeckt“, sagt Manske. Vollständigkeit. „Das Wort Vollständigkeit bezeichnet allgemein eine Zusammenstellung oder Aufzählung von allen Teilen, die zu einem Ganzen gehören.“

Alle Teile, das stimmt sicher nicht. Aber zumindest ist das Wiki-Netzwerk explodiert. Wie ein Feuerwerkskörper, der anfangs winzig ist und sich in Sekunden über den halben Himmel ausbreitet. Viel schneller, als die Wiki-Beginner um Jimmy Wales, amerikanischer Gründer der Internetenzyklopädie, sich das erträumt hatten. „Ein vager Traum waren 100 000 Artikel nach zehn oder 15 Jahren. Dann ging es so rasant, dass wir die 100 000 schon nach zwei Jahren erreicht hatten“, sagt Manske. Heute sind es 700 000 Schlagwörter allein in der deutschen Ausgabe. 500 deutsche Neueinträge kommen täglich hinzu. Die englische Version hat derzeit über zwei Millionen Artikel. Ein Heer Freiwilliger sei Dank. Das Wissen explodiert. Es wächst. Wachstum. „Als Wachstum bezeichnet man den zeitlichen Anstieg einer bestimmten Messgröße.“

In mehr als 250 Sprachen

Wissen schicken in alle Teile der Welt. Manske ist fasziniert davon, dass jeder von seinen Kenntnissen profitieren kann, im Kölner Studentenwohnheim, bei amerikanischen Zeitungen, in Schulen an der Elfenbeinküste. Wer etwas nicht weiß, der sucht bei Wikipedia. Mehr als vier Milliarden Mal wird auf den Server zugegriffen, das Wissenspuzzle gibt es heute in mehr als 250 Sprachen, Cherokee und Kiswahili sind auch dabei. Jeder profitiert. Jeder kann mitmachen. Der verblüffend einfache Trick mit der Arbeitsteilung ist auch Wikipedias größtes Problem. Zumindest zu Beginn der Wissenswelle rümpften Wissenschaftler die Nase ob der Richtigkeit der Einträge. Die Befürchtung: Wenn jeder mitmachen kann, leidet die Qualität. Eine Garantie der Angaben gebe es nicht.

Manske sieht diese Vorwürfe gelassen: „Fehler ausschließen kann man nicht. Das konnte auch der gedruckte Brockhaus nicht. Dadurch dass Wikipedia von so vielen Leuten kontrolliert wird, haben es Vandalen aber schwer.“ Schimpfwörter oder anderer Unsinn, mit welchen Scherzkekse täglich auf sich aufmerksam machen, würden von den Administratoren sofort gelöscht. Ein „Wikiscanner“ identifiziert Rechner, von welchen Diffamierungen oder werbende Inhalte verbreitet werden. Für die Nutzer bedeutet das: Sie sind gesperrt. Einen SPD-Mitarbeiter traf es mal, der über Markus Söder, Mitglied der Bayerischen Staatsregierung, schrieb: „In seiner politischen Arbeit tritt er für die Rettung der Mainzelmännchen, Kruzifixe in Klassenzimmer und Ausgehverbote für Jugendliche ein.“ Vandalismus. „Unter Vandalismus versteht man Zerstörungswut oder Zerstörungslust. Vandalismus ist bewusste illegale Beschädigung oder Zerstörung fremden Eigentums als Selbstzweck.“

Magnus Manske ist ein Ritter der Wissensverbreitung. Er liebt Wikipedias Idee. Einzig die Umsetzung findet er noch verbesserungswürdig. Deshalb wünscht er sich „stabile und geprüfte Versionen von Artikeln, die Vandalismus weiter erschweren und Wikipedia zuverlässiger machen werden“. Noch besser. Dabei ist Wikipedia gerade schon geadelt worden. Bei der Untersuchung des Wissenschaftlichen Informationsdienstes Köln erreichte Wikipedia die Durchschnittsnote 1,7. Die Brockhaus-Ausgabe kam auf 2,7. Erfolg. Auch darauf hat Wikipedia eine Antwort: „Erfolg ist ein als positiv empfundenes Resultat eigenen Handelns. Oder: Erfolg bedeutet, dass man im richtigen Augenblick die richtigen Fähigkeiten hat.“

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