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Eine verlorene Generation

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Die Gernsheimer Straße im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Ostheim

Die Gernsheimer Straße im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Ostheim

Köln - Das Hochhaus „Gernsheimer Straße 1“ in Ostheim ist das ideale Versteck. Von der 12. Etage des offenen Treppenhauses haben die Mitglieder der Jugendgang T.N.G.O.G. immer den besten Blick. Gesehen werden sie von unten nicht. „Wenn die Bullen uns suchen, sitzen wir meist hier oben“, sagt Juri (16). Die Zeichnungen an den Treppenhauswänden belegen, dass die jungen Männer oft lange Stunden in luftiger Höhe verbringen. Jedes Stockwerk ist beschmiert mit dem Schriftzug ihrer Gang. Die fünf Buchstaben bedeuten: „The New Generation Of Gernsheimer“.

Zuletzt suchten die Beamte an Weiberfastnacht nach den Jugendlichen. Fünf von ihnen sollen den 43-jährigen Waldemar W. an einer Telefonzelle vor den Augen seiner Kinder brutal zusammen geschlagen und beraubt haben. W. liegt immer noch in einem künstlichen Koma. „Durch die Tat haben die Jugendlichen eine Schwelle überschritten“, sagt Rolf Blandow. Er koordiniert für den Verein Veedel e.V. die Sozialarbeit für die Stadtteile Ostheim und Neubrück.

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Blandow und sein Kollege Günter Schmitz, der seit sechs Jahren in der Gernsheimer Straße als Sozialarbeiter tätig ist, kennen den harten Kern der T.N.G.O.G. genau. „Einige der jetzt Beschuldigten waren am Mittwoch vor der Tat noch bei mir, weil sie unbedingt noch einen Platz brauchten, um ihre Sozialstunden abzuleisten“, erinnert sich Schmitz. Die Sozialpädagogen haben den jüngsten Gewaltausbruch kommen sehen. „Seit dem Sommer nimmt die Gewaltbereitschaft zu“, sagt Blandow. Da eskalierte ein schon lange schwelender Streit zwischen den Mitgliedern der Ostheimer Gang und ihren Erzfeinden, den Vingster Ghetto Türken in einer Messerstecherei. Blandow: „Den ersten Höhepunkt erreichte der Konflikt am 1. November. Da wurde ein Brandanschlag auf den Offenen Treff in der Ruppiner Straße verübt. Die Gangs beschuldigen sich bis heute gegenseitig.“ Juri zeigt die Plätze, an denen die Gernsheimer den Vingstern eine Lektion erteilt haben. „Da hinten auf der großen Wiese finden meist die größeren Prügeleien statt. Da an der Ecke haben wir mal einen von denen abgestochen“, so der 16-Jährige. Er geht noch zur Schule.

Eigentlich will er Fußballprofi werden. Wenn das nicht klappt, vielleicht Koch. Er hat ein Praktikum in einer Krankenhausküche gemacht. Das hat ihm gut gefallen.

„Schreiben sie nichts Schlechtes über die Gernsheimer, sonst kriegen die hier alle keinen Ausbildungsplatz“, sagt Momo (19). Er macht seit eineinhalb Jahren eine Lehre als Elektriker in Deutz. Doch in den vergangenen vier Tage war er nicht bei der Arbeit. „Die Bullen haben mich doch gesucht, Mann“, sagt er. Er ist es, den die Polizei zwei Mal zur Fahndung ausgeschrieben hatte. Beim ersten Mal, weil er dabei stand, als Waldemar W. ins Koma geprügelt worden ist. Beim zweiten Mal, weil er nur 36 Stunden später einen mutmaßlichen Mittäter brutal zusammengeschlagen haben soll. „Da war gar nichts, Mann. Ich hab' dem nur eine Kopfnuss gegeben.“

Vor allem im rechtsrheinischen Köln droht der Kampf unter den Jugendlichen außer Kontrolle zu geraten. „Hier fliegt uns alles weg“, klagt ein Jugendarbeiter, der namentlich nicht genannt werden möchte. „Die Bewährungshelfer kommen an die ganz harten Jungs nicht mehr ran. Viele Eltern haben die Erziehung ihrer Söhne nahezu eingestellt.“ Die wenigsten Eltern bekommen überhaupt mit, dass sich ihre Kinder zum Beispiel via Internet zu Massenprügeleien verabreden.

Die Polizei hat stadtweit mehr als 130 Homepages im Visier, auf denen sich die Mitglieder von Jugendbanden virtuell austoben. 30 dieser Gruppen gibt es in Köln, sie nennen sich „Dog Park Gangster“, „Ghetto Brothers“ oder „Harlem Killers“. Der Berliner Diplom-Kriminologe Frank Josef Robertz vom Institut für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie warnt: „Die Jugendlichen stellen sich dort als Gewalttäter dar, versuchen so, sich das Ansehen in der Gruppe zu holen und geben sich Anregungen für weitere Straftaten.“ 14-Jährige posieren im Netz mit Pistolen, drohen verfeindeten Clans mit „Blutrache“ und vereinbaren Zeitpunkt und Ort der nächsten Prügelei.

Gerade noch rechtzeitig bekam die Polizei vorige Woche einen Tipp auf ein verabredetes Treffen konkurrierender Jugendbanden in einem Karnevalsfestzelt in Brück. Selbst im Flur des Kölner Landgerichts flogen vor einigen Wochen die Fäuste: Vor einem Sitzungssaal waren die Mitglieder konkurrierender Cliquen aneinandergeraten. Erst die Polizei konnte die Schläger trennen.

Wo die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen ihren Ursprung hat, sieht Sozialarbeiter Günter Schmitz in Ostheim regelmäßig im Sommer auf dem Bolzplatz. „Wenn sie ihre kurzen Hosen und T-Shirts tragen, sieht man die blauen Flecken und roten Striemen ganz deutlich. Die meisten Jugendlichen hier werden regelmäßig Opfer von häuslicher Gewalt.“ Mit jeder Tracht Prügel, die sie meist von ihren Vätern erhalten, entfernen sich die Jugendlichen ein Stück weiter aus ihrem normalen Umfeld. „An die Köpfe der Gang kommen wir gar nicht mehr ran. Die treffen sich am Kiosk oder an der Bushaltestelle, aber nicht bei uns“, sagt Schmitz. Er fordert schon seit langen Unterstützung von der Stadt: „Wir brauchen jemanden, der sich ausschließlich um die Intensivtäter kümmert und sie dort aufsucht, wo sich sich regelmäßig treffen.“

In Porz-Finkenberg hat sich dieses Konzept bewährt. Dort kümmern sich zwei Streetworker seit zwei Jahren abwechselnd primär um die Rädelsführer und leiten zum Beispiel eine Einzelfallbetreuung in die Wege. Der Porzer Sozialarbeiter Franco Clemens sieht in diesem Konzept den Schlüssel zum Erfolg. Er fordert: „Die Stadt muss dringend mehr in Prävention investieren.“ Das sieht sein Kollege Günter Schmitz genauso: „Wir brauchen hier, so wie in Porz, dringend auch eine Frau im Team. Ich werde schon schief angeguckt, wenn ich mich als Mann mit fast erwachsenen, muslimischen Mädchen auf der Straße nur unterhalte.“

Bei der Kölner Polizei kümmert sich ein eigenes Kommissariat um die 106 jungen Intensivtäter in der Stadt. 300 weitere Jugendliche hat die Polizei im Visier, die sich „im<“ der Intensivtäter bewegen. Diese haben je einen fest zugewiesenen Sachbearbeiter bei der Kripo, der die Jugendlichen auch regelmäßig zu so genannten „Gefährdeansprachen“ zu Hause besucht. Zu Intensivtätern zählt die Polizei Minderjährige, die mindestens fünf mittelschwere Straftaten begangen haben.

Der Kölner Rechtsanwalt Gunnar Borchardt, der zahlreiche junge Straftäter zu seinen Mandanten zählt, hält es für wünschenswert, dass diese Kriterien gesenkt und kriminelle Jugendliche schon eher in das Intensivtäter-Programm aufgenommen werden. Borchardt: „Man muss sich früh um sie kümmern.“

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