Rätseln unter Zeitdruck in der FreizeitDie Live-Escape-Games boomen

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Einmal Sherlock Holmes spielen – das geht in Live-Escape-Games.

Einmal Sherlock Holmes spielen – das geht in Live-Escape-Games.

Köln – Wir kennen keine Nora. Trotzdem suchen wir nach ihr. Fieberhaft. Ja, nahezu panisch. Denn Nora, so viel wissen wir, ist seit einigen Tagen verschwunden. Dabei wollte sie doch nur eben Professor Rumpeltin besuchen. Jetzt sind wir bei Rumpeltin zu Hause und durchstöbern seine Wohnung. Die Zeit drängt. Denn Rumpeltin könnte jeden Moment zurückkommen. Aber was ist nur mit Nora passiert?

Spiel unter Zeitdruck

Was wir hier machen, nennt sich Live-Escape-Game: Wir lassen uns mit fünf Leuten in einen Raum einsperren und müssen in einer vorgegebenen Zeit eine Aufgabe erfüllen. In unserem Fall wollen wir aus einem Raum ausbrechen, in anderen Spielen muss man auch mal eine Bombe entschärfen.

Um das zu schaffen, lösen wir Rätsel, die im Raum versteckt sind. „Diese Spiele sind gerade wahnsinnig populär“, sagt Rene Wittek, Psychologe und Geschäftsführer der Firma „Spielgestalter“. „Ich gehe davon aus, dass dieser Boom langfristig sein wird.“ Allein in Köln gibt es mittlerweile fünf Escape-Räume, ein weiterer ist in Planung.

Doch was treibt Menschen dazu, sich in einen Raum einsperren zu lassen und unter Zeitdruck eine Aufgabe zu erfüllen? Ist der Alltag nicht schon stressig genug? Was macht dieses Spiel mit uns?

Flucht aus dem Alltag

Auf der Suche nach Nora vergessen wir an diesem Dienstagabend im Spätsommer genau diesen Alltag. Und das liegt nicht nur daran, dass die kleine Uhr im Bildschirm immer weiter runtertickt. Wir sind einfach zu sehr in das Spiel vertieft. Wir fühlen uns, wie Schauspieler Benedict Cumberbatch in Sherlock Holmes oder Lisbeth Salander in Stieg Larssons Millennium-Büchern.

Mitten im Geschehen

Und das Beste ist: Heute gucken wir nicht auf den Bildschirm oder blättern Seiten um. Heute sind wir mittendrin. Heute sind wir die Detektive. Und dem kann sich keiner entziehen. Selbst der Fotograf beginnt nach fünf Minuten mit zu rätseln.

„Der Zeitdruck ist wichtig, damit die Spieler schnell beginnen, die versteckten Rätsel zu suchen und zu lösen“, sagt Rene Wittek. „Nach kurzer Zeit geraten sie dann in einen Flow-Zustand.“ Der Flow ist ein Zustand intensiver Vertiefung. Man nimmt die Zeit nicht mehr wahr und geht in dem Moment auf. „Wer im Flow ist, braucht keine Belohnungen, um weiterzumachen“, sagt Wittek.

Rausch-ähnlicher Zustand

Künstler oder Computerspieler geraten oft in diesen beinahe rausch-ähnlichen Zustand. „Die Menschen sind total euphorisch, wenn sie rauskommen – egal, ob sie es in der angegebenen Zeit geschafft haben, alle Rätsel zu lösen oder ich das Spiel nach 90 Minuten abbreche“, sagt David Ruda. Sein Live-Escape-Game „Breakout Cologne“, das Mitte August in Köln-Neuehrenfeld eröffnet hat, besuchen wir heute.

Wir wuseln durch den Raum, nehmen jeden Gegenstand in die Hand, untersuchen ihn, stellen ihn wieder zurück, nehmen die Bilder von der Wand, drehen und wenden sie, hängen sie wieder auf, ziehen Schubladen aus Schränken und Kommoden, tasten sie ab, schieben sie zurück. Manche Kisten wollen sich nicht öffnen lassen, manche Schubfächer klemmen und einige Gegenstände sind sogar mit einem Zahlenschloss zugesperrt.

Wir versuchen einen Sinn hinter all dem zu entdecken. Versuchen, irgendwie auf die Zahlenkombination zu kommen. Nur, um darin ein neues, versiegeltes Rätsel zu entdecken. Doch Schritt für Schritt kommen wir Nora und vor allem Rumpeltins Machenschaften auf die Schliche.

Mehr über das Spiel und Adressen gibt es auf der nächsten Seite.

Rollenspiel und Schnitzeljagd

Die Geschichte der Live-Escape-Games passt zu ihrem Konzept: Wo die Spiele ihren Ursprung haben, kann man nicht genau nachvollziehen. Viele sehen Computerspiele, in denen man sich durch Rätsellösen aus Räumen befreien muss, als Vorläufer.

Doch Scott Nicholson, Professor für Game Design an der Wilfried Laurier Universität in Brantford, Kanada, der als erster das Konzept der Escape-Games wissenschaftlich erforscht, sieht noch andere Vorgänger: Live-Rollenspiele, interaktives Theater oder sogar Schnitzeljagden.

Abenteuer unter Kontrolle

„Die 2007 in Japan entstandenen Live-Escape-Games, sind jedoch ein Abenteuer in der realen Welt. Und das ist eines ihrer größten Reize“, sagt Scott Nicholson. Und zwar Abenteuer unter kontrollierbaren Bedingungen: Denn der Raum ist in den meisten Fällen nicht wirklich abgeschlossen, man tut nur so. Wer sonst in seiner Freizeit auf der Suche nach einem Kick ist, stürzt sich am Seil von Brücken herunter oder fährt im Schlauchboot reißende Flüsse entlang.

Thinking Loud

Zum Spielen im Escape Room braucht es aber keine körperliche Fitness, nur Konzentration. „In jedem Mensch steckt ein kleiner Wissenschaftler“, sagt Wittek. Wir lösen gerne Rätsel. Und genau jetzt wollen wir Rätsel lösen und plappern wie wild durcheinander, rufen uns Dinge zu, benennen Kleinigkeiten, die komisch sein könnten. „Kommunikation ist bei dieser Art von Spiel sehr wichtig, man muss in der Gruppe über die Rätsel reden“, sagt Wittek.

Thinking Loud nennt er dieses Konzept aus der Psychologie, bei der jemand eine Hypothese laut äußert und der Rest der Gruppe versucht, diese Idee zu bestätigen oder zu verwerfen. „Nur so kommt man schnell voran.“

Die Räume bieten ganz verschiedene Rätsel – nicht nur mit Zahlen, sondern auch mit Bildern, Farben oder handwerklicher Art. Den Grund erklärt Scott Nicholson: „Letztlich hat jeder Mensch nur eine begrenzte Anzahl an Fähigkeiten. Und viele Gruppen sind in Live-Escape-Games erfolgreich, weil eine Person etwas beitragen kann, wenn eine andere nicht mehr weiterkommt.“ Denn darum geht es auch: die Gruppe zu unterstützen, etwas beizutragen, das hier zusammen zu erleben.

Und weil eben jeder etwas beitragen möchte, artet unser Spiel in Chaos aus. Zwei basteln hier herum, einer versucht eine pseudo-mathematische Formel zu lösen.

Keine Hierarchien

Aber keiner hat das Gefühl, wirklich zu genügen. Wir arbeiten noch nicht eng genug zusammen, obwohl wir seit Jahren Freunde sind. „Manchmal arbeiten zwei Spieler an einem Rätsel, das zwei andere schon längst gelöst haben“, sagt Spieleleiter David Ruda. Oft schreitet er dann ein und lässt auf dem Bildschirm einen verklausulierten Ratschlag aufploppen. „Escape-Games sind kein klassisches Teambuilding“, sagt Wittek.

Das wäre eher: Mit den Kollegen ein Floß bauen und erkennen, dass man gemeinsam etwas Stabiles zustande bringt. Der Vorteil der Escape-Games ist, dass klassische Hierarchien im Spiel schnell aufgebrochen werden und kreative Lösungen gefragt sind. „Da kann es passieren, dass eine stille Assistentin plötzlich das Zepter schwingt“, hat Wittek beobachtet.

Ob diese positiven Effekte sich in die Realität, ins Büro, Klassenzimmer oder Museum übertragen lassen, erforscht Scott Nicholson. Er will Leitfäden für Live-Escape-Games erstellen, mit denen diese pädagogischen Ziele besser erreicht werden können.

Ganz ehrlich: Zwei von uns hätten es nicht aus dem Breakout Cologne geschafft. Meiner besten Freundin und mir raucht nach 80 Minuten Rätseln und Zahlenchaos der Kopf so sehr, dass wir einfach nur noch weg wollen. Dass sich die Kellertür mit einem Klacken öffnet, verdanken wir nur den anderen, die das Ganze mit mehr sportlichem Ehrgeiz angehen. Aber vielleicht lassen wir uns auch nur deshalb hängen: Weil wir wissen, dass sie diesen Ehrgeiz besitzen.

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