Vintage versus RetroNeue Möbel? Nein, danke!

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Der Kölner Designhistoriker und -theoretiker René Spitz unterrichtet an der Rheinischen FH Köln.

Der Kölner Designhistoriker und -theoretiker René Spitz unterrichtet an der Rheinischen FH Köln.

Alles, was war, hat derzeit große Zukunft. Nicht nur in Köln öffnet ein Laden nach dem anderen, der in Lagerhallen alte Möbel verkauft. Oder solche, die alt aussehen. Meist gibt’s noch guten Kaffee dazu. Es werden mehr, weil die Nachfrage steigt nach verschwitzten Turnböcken, eingedellten AEG-Lampen und muffigen Kinosesseln. Natürlich ist es Ware aus zweiter Hand. Aber wer hier einkauft, tut dies nicht aus Spargründen. Im Gegenteil. Es sind gerade die Gebrauchsspuren, die offenbar ihren Wert haben und damit auch ihren Preis. Sie sind wie Narben, die von einem bewegten Leben erzählen: Vom endlich überwundenen Schulsport. Von einem fortschrittsgläubigen Industriezeitalter. Von Lichtspieltheatern, in denen man noch rauchen durfte. Kunden, die hier stöbern, haben ihren primären Hausratsbedarf längst gedeckt. „Es geht um ein tieferes Bedürfnis“, sagt der Designtheoretiker René Spitz, „um Selbstverwirklichung“.

Vintage versus Retro

Das Geschäft boomt unter dem Etikett Vintage. Die Definition bleibt diffus. Vintage steht für Wertsteigerung, die ein Möbelstück durch Alterung erfährt – was meist schon bei der Produktion berücksichtigt wird. Vintage gilt als erlesen und als Königsdisziplin der Retro-Kultur. Denn es meint nicht nur das Nachempfinden alter Stilformen, sondern auch die klassischen Originale. Schließlich steht Vintage für einen Trend, der eigentlich keiner ist. „Dafür ist es schon viel zu lange populär“, sagt Spitz. „Aus Sehnsucht nach Objekten mit Geschichte“, sinniert der Designtheoretiker, „die uns Halt und Zeitbezug geben, in einer Zeit, in der sich alles und jeder ständig selbst überholt“.

Der Kölner hat Platz genommen mitten in einem dieser Läden, die mit ihren eigenwilligen Öffnungszeiten das Angebot verknappen. Hierher finden nur Eingeweihte. Er ist angetan von den Fundstücken, deren Patina die Massenprodukte zu Unikaten adeln. Darunter eben auch die „Klassiker der Moderne“. Die machen inmitten der verrosteten Leuchtreklamen, abgewetzten Schemeln und ausgedienten Tischen ein besonderes Segment aus. Mit diesem Interieur, sagt Spitz, begeben sich die Kunden in die Ära vor der abgeklärten Postmoderne. In die Zeit, in der die Menschen reich an Visionen waren. In der Künstler, Designer und Architekten mit ihren Entwürfen eine bessere Zukunft versprachen. Sogar einen besseren Menschen. In der schön war, was funktionierte. Und was sozial war. Die Bauhäusler stehen für diese Grundidee. Oder Le Corbusier.

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Visionen auf dem Wühltisch

„Heute wissen wir, dass von dem, was gewesen ist, kein Heil zu erwarten ist. Deshalb wollen wir zurück zu dieser Zuversicht, möchten teilhaben an der historisch geborgten Authentizität.“ Diese Rückkehr, sagt Spitz, geht einher mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit. Warum Neues produzieren, wenn es massenhaft Altbewährtes gibt? Das Problem: Menschen streifen beim Blick zurück viele Visionen, die für sie gleichberechtigt nebeneinander stehen. Sie haben die Qual der Wahl. Sind orientierungslos. Was dazu führt, dass „wir häufig an der Oberfläche hängen bleiben, weil wir die vielen Visionen, Theorien und Designobjekte gar nicht studieren können.“

Statussymbole der Elite

Nun ist Oberfläche das, was sich schnell kopieren lässt. Bestes Beispiel sind die Superstars des Designs, wie der „Plastic Armchair“ von Ray und Charles Eames, die „Kaiser Idell Leuchte“ oder der „Jacobsen Egg Chair“. Sie alle haben, anders als von ihren Schöpfern gewollt, enormes ökonomisches Potenzial – spätestens seit den 80ern, in denen die Klassiker durch geschickte Inszenierungen erst zu solchen erhoben wurden. Zu Statussymbolen einer intellektuellen Elite.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki etwa diktierte der Nation von einem schwarzen Le-Corbusier-Sessel aus, was sie zu lesen hatte. Und die „Wagenfeld-Leuchte“ gehörte auf den Schreibtisch eines jeden Bankenchefs. Wer etwas auf sich hielt, bestückte sein Heim mit Vitra-Mobiliar.

Deshalb gibt es auch so viele Möbelstücke, die aussehen wie ein Klassiker, freche Kopien, aber auch schlicht solche, die sie offensichtlich nur zitieren.

Raubkopien und Kennerschaft

So kommt es, dass wir ratlos in Vintage-Läden stehen und uns fragen: Ist es jetzt das Original? Was spricht eigentlich gegen ein Imitat? Und wie viel darf es kosten? „Wichtig ist, was das Möbelstück dem Kunden wert ist“, sagt Spitz, da es in diesem „chaotischen Markt“ weder autoritäre Preislisten noch sonstige Anhaltspunkte für einen fairen Preis gebe. „Nichts spricht gegen einen Stuhl, der einem Eames nur ähnelt, wenn er denn dem Kunden so gefällt.“ Und 80 statt 400 Euro kostet.

Ein Sammler indes kommuniziert mit einem echten Klassiker nicht nur einen bestimmten Geschmack, sondern eine gewisse Kennerschaft. Schaut her: Ich weiß Bescheid über die alten Meister der Form. Ein Sammler geht häufig den sicheren Weg. Der führt nur übers Studieren, Vergleichen und Nachhaken: „Die Produkte einer lizenzierten Firma gewährleisten Qualität und Wertstabilität“, sagt Spitz und rät dazu, „sich auf dem Kaufbeleg bestätigen zu lassen, dass es sich um das Möbelstück eines lizenzierten Herstellers handelt.“

Designtheorien hin oder her: Wir haben Kölner besucht, die sich nach eigenen Vintage-Vorstellungen, nach ihrer Vision von schönem Wohnen eingerichtet haben.

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