Wunsch nach ReformenDarum ist kulturelle Bildung an Schulen so wichtig

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Intensive Wahrnehmung durch eigenes Filmen.

Köln – Es könnte ja alles auch ganz anders sein. Eine Schule, in der nicht die Noten im Vordergrund stehen, sondern die Entwicklung der Persönlichkeit. In der das Ich seinen ganz eigenen Weg im Miteinander findet und eigene Zugänge zur Welt entdeckt. In Deutschland, ach, mit seiner Schultradition und dem immerwährenden Drang, Leistungen zu bewerten, ist das noch weit, weit weg. Und doch gibt es Bewegung, die starren Fronten aufzuweichen. Die Vermittlung von Kultureller Bildung in die Schulen, wie sie in Köln in dem von Christa Schulte initiierten KultCrossing realisiert wird, ist ein paradigmatisches Beispiel hierfür.

Aber wie ist der Stand der Entwicklung der Schulen ganz allgemein? Debattiert wird schließlich schon lange, was Schule leisten soll. Schon in den 60er Jahren wurde hierüber gestritten und geschrieben. In der Vermittlung zwischen Schule und kultureller Bildung haben besonders die Ganztagsschulen eine gewisse Vorreiterrolle übernommen. Und hierbei waren es daher fast naturgemäß die Gesamtschulen, in denen die kulturelle Bildung Eingang fand, als eine Vermittlung zwischen Vormittags- und Nachmittagsprogramm.

Durch die veränderte Erwerbssituation mit mehr berufstätigen Elternteilen setzt sich nun vermehrt an anderen Schulen die Ganztagsschule stärker durch. Vor allem Grundschulen sind hier zu nennen. Und dies ist eine Chance, die kulturelle Bildung auch hier zu fördern.

Kulturelle Bildung als Vorbedingung für Chancengleichheit

Doch warum eigentlich braucht die Schule neben ihrem obligatorischen Fächerkanon mehr Kultur? Der Darmstädter Elitenforscher Michael Hartmann hatte bereits vor Jahren nachgewiesen, dass die Tatsache, dass ein Viertel eines Jahrgangs nicht schreiben kann und 15 Prozent ganz abgehängt sind, an der beschränkten kulturellen Bildung der betroffenen Schüler liegen müsse. Hartmann stützt sich dabei auf eigene empirische Forschungen, aber auch auf die soziologische Feldtheorie des einstigen Soziologie-Papstes in Frankreich, Pierre Bourdieus.

Wichtig sei ein gewisser „Habitus“, also Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die letztlich für soziale Selektion und Erfolg ausschlaggebend seien – Hartmann spricht von einem „klassenspezifisch“ bedingten Habitus. Damit meint er bereits in der Kindheit im Körper verankerte Gewohnheiten, die für das Auftreten und Handeln der Schüler verantwortlich seien. Sollte diese Analyse zutreffen, dass der kulturelle Habitus durch die soziale Herkunft bedingt ist, dann ist kulturelle Bildung in der Schule umso mehr eine Vorbedingung für Chancengleichheit.

Für den amerikanischen Sozialpsychologen Howard Gardner ist die schulische Bildung ohnedies verengt. Sie konzentriere sich fast ausschließlich auf sprachliche und logische Intelligenz, sagt er. Dabei müsse sie auch die musikalisch-rhythmische, bildlich-räumliche, körperlich-kinästhetische, inter- oder intrapersonelle oder interpersonelle Intelligenz fördern. Kulturelle Bildung könne genau diese Lücken schließen. Zudem würde man so den unterschiedlichsten Begabungen von Schülern besser gerecht werden.

Es geht um Ideen neuen Lernens

Heike Ackermann, Professorin für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung an der Universität Marburg und die akademische Leiterin des bundesweiten Weiterbildungsstudiengangs „Kulturelle Bildung an Schulen“, hat die Entwicklung von „KulturSchulen“ untersucht, die aufgrund eines landespolitischen Programms in Hessen mittlerweile 20 Schulen im Sekundarbereich I umfassen. Die Ergebnisse ihrer Forschung waren für sie selbst und ihre Arbeitsgruppe überraschend. Schulen ihres „Samples“ fanden zur Sinnhaftigkeit ihrer Schulentwicklung zurück und die Lehrpersonen hatten einen Perspektivenwechsel auf das Lernen ihrer Schüler vorgenommen.

Das heißt, hier geht es um die Aneignungsperspektive der Lernenden, nicht um das Lernangebot, nicht um die Prüfungsformate. Es geht um Ideen neuen Lernens und welche Qualitäten diese entfalten können. Es geht um die Art und Weise, mit und durch die Sinne zu lernen, ein neues und besseres Verständnis von Inhalten zu gewinnen und dabei zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen, die Bewertung erfahren können.

Es geht eben nicht mehr „nur“ um Kunst, Musik und darstellendes Spiel, die in der Schule bekanntlich als Nebenfächer gelten. Alle Fächer tragen selbstbewusst und aus ihrer fachlichen Perspektive zur kulturellen Bildung bei. Nehmen wir nur einmal das Fach Geschichte: Versteht sie es, die Möglichkeiten ästhetischer Stilmittel so zu nutzen, damit eine Emotionalisierung der Bevölkerung bis hin zur Aufhetzung deutlich werden. Macht sie die Selbstrepräsentationsformen von Herrschaft sichtbar? Hier liegt Potenzial brach, das etwa Architektur, Fotografie und Film innewohnt, sagt Heike Ackermann. Zugleich biete eine Einführung in diese Sparten Jugendlichen einen Zugang zu neuer intensiver Wahrnehmung – und zu anderen Ausdrucksmöglichkeiten.

Unterricht muss sich ändern

Kulturelle Bildung kann die Ausdrucksmöglichkeiten von Jugendlichen unterstützen. Damit wird die Lust gefördert, in vielfältiger Weise die Welt zu erfahren. Dies beinhaltet eine Sinndimension, einen Erfahrungsbezug zum eigenen Körper. Die reflexive Seite soll die Schüler stärken, sich selbst neu zu erfahren. „Der Unterricht muss sich daher grundlegend ändern“, fordert Ackermann.

Es soll sich bei kultureller Bildung nicht nur um ein additives Angebot handeln, sondern um ein Auffinden und Schürfen nach tieferen Möglichkeiten der Vermittlung, so dass Kindern und Jugendlichen ein anderer, auch die Kreativität inspirierender Zugang zur Welt ermöglicht wird. Der Perspektivenwechsel auf die Lernaktivitäten der Schüler ist zentral im Hinblick auf die Rückkehr zu einer Pädagogik, die auf den Einzelnen schaut und individuelle Entwicklung fördert.

Es geht also um die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen, die ihren eigenen Ideen folgen. Und darin liege, so Ackermann, auch eine Chance für Lehrkräfte, die ebenso für sich entdecken, „dass in ihren Fächern noch viel mehr steckt, als sie glauben“. Dann können sie fächerübergreifend arbeiten und die Unterrichtsinhalte miteinander stärker vernetzen. Somit schafft kulturelle Bildung auch eine Haltung „dazu bereit zu sein, Fächergrenzen viel stärker zu öffnen, so dass Inhalte aus unterschiedlicher Fachperspektive beleuchtet werden – und daran das Kulturelle und Spezifische deutlich wird.

Inhalte müssen emotional aufgeladen sein

Hierfür braucht es Anregungen und Angebote, die bereits in der Lehrerausbildung beginnen und durch Fort- und Weiterbildungen der Lehrkräfte, auch der Schulleiter, ergänzt werden“, wie dies in Hessen bereits der Fall ist. Mehr Aufmerksamkeit und höhere Lernmotivation, das ist es, was Kinder brauchen und Eltern lieben. Jeder weiß, dass sich Schüler danach sehnen, einen anderen Unterricht zu erleben.

Eigentlich weiß es jeder, aber inzwischen hat es die Hirnforschung auch belegt. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt, man lernt nur dann etwas, wenn das, was man lernen soll, auch emotional aufgeladen ist. „Es muss einem unter die Haut gehen, sonst bleibt es im Kopf nicht hängen.“ Es gibt drei Möglichkeiten, wie der Lernstoff bedeutsam wird und die Schüler berührt. Wenn es für sie wichtig ist oder ihnen Freude macht, nennt man das „intrinsische Motivation“, erklärt der Hirnforscher – „das ist die beste“.

Daneben gebe es eine zweitbeste Form der Motivation: „Die Kinder erlernen etwas, weil sie jemandem gefallen wollen, den sie bewundern.“ Sie lernen dann etwa Mathematik, obwohl sie Mathe eigentlich gar nicht mögen, damit sie jenen gefallen, die sie bewundern. Die dritte Methode ist an Bestrafung und Belohnung angelehnt, Sitzenbleiben oder gute Noten. „Und das ist die übliche Methode, mit der in der Schule gelernt wird“, so Hüther. „Es ist die ungünstigste, weil man lernt, wie man gute Noten bekommt, aber man muss sich nicht für Mathe interessieren.“

Lernstoff muss unter die Haut gehen

Und wie beurteilt der Hirnforscher die KultCrossing-Idee und überhaupt kulturelle Bildung? Wo würde er das einordnen? „Es ist die Kategorie eins“, sagt er. „Und das ist die richtige Form.“ Denn hier gebe es Leute, die aus verschiedenen Bereichen kommen und den Kindern zeigen, dass man Mathematik nicht um der guten Zensuren willen machen sollte, sondern weil sie einem hilft, das Leben besser zu verstehen.

Kultur interessiert Kinder, sagt Hirnforscher Hüther. Es gebe unglaublich interessante Kunst- und Kulturprojekte, die lebensnah sind und in denen Schüler die Erfahrung machen, dass sie auch in eine Rolle schlüpfen können und damit lernen, andere Perspektiven einzunehmen. Das ist sehr entscheidend, findet Hüther. Es sei für Schüler wichtig, andere als Lehrpersonen anzusehen als nur Lehrer. Wenn man Lernstoff in die eigene Erfahrung einbettet, kann er zu etwas werden, was unter die Haut geht. Genau das, was man sich von Bildung wünscht.

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