Gefragt ist die gesamte Gesellschaft

Lesezeit 4 Minuten

Ein neues Gespenst geht um in der deutschen Bildungslandschaft - scheinbar ebenso bedrohlich wie die bereits beklagte Inkompetenz: Ungerechtigkeit. Das Schulsystem im Lande der Dichter und Denker zementiere die soziale Ungleichheit, anstatt ihr entgegenzuwirken - und zwar stärker als in jedem vergleichbaren Industrieland. An Gymnasien treffe man weitaus mehr Akademikerkinder als Arbeitersprösslinge an. Und Kinder mit Migrationshintergrund erbrächten bei uns wesentlich schlechtere Leistungen als in anderen Staaten.

Vor lauter Schreck über derlei Diskriminierungen vergisst man gerne, die Fakten eines genaueren Blickes zu würdigen. Und so entgeht vielen, dass die aufrüttelnde Botschaft vor allem deswegen zustande kommt, weil Äpfel mit Birnen verglichen werden - und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zwar mögen in Bremen zwar weitaus mehr Migranten- und Arbeiterkinder die „höhere Schule“ besuchen als in Bayern, aber das nützt ihnen nicht viel - die Leistungen ihrer bayrischen Altersgenossen sind selbst dann im Durchschnitt besser, wenn sie an Haupt- oder Realschulen lernen. Nicht die Schulformquote ist letztlich entscheidend, sondern welche fachlichen Fähigkeiten tatsächlich vermittelt werden.

Auch der Verweis auf die angeblich vollakademisierten Länder ist windig. So beträgt zwar in Schweden die Gymnasialquote 90 Prozent, aber von deren 17 verschiedenen Varianten berechtigen nur drei (!) zum direkten Hochschulzugang, wären also unserem Abitur vergleichbar. Oder das Beispiel Finnland: Dort gibt es deshalb so viel sozialen Aufstieg, weil beispielsweise Krankenschwestern an Universitäten ausgebildet werden, darunter natürlich auch viele Arbeitertöchter.

Schließlich stünde Deutschland in der weltweiten Leistungsskala wie auch in Sachen Bildungsgerechtigkeit weitaus besser da, wenn seine Migrantensituation nicht eine besonders schwierige wäre: Andere „Sieger“-Länder haben entweder kaum Migranten (Finnland, Japan) oder nur besonders vorqualifizierte (Kanada) oder vorwiegend solche aus dem gleichen Sprachraum (Frankreich) bzw. mit spezifischem Integrationsinteresse (Israel). Ein oberflächlicher innerdeutscher wie internationaler Vergleich ist also offenbar trügerisch. Tatsächlich zeigt ein Blick auf den Mikrozensus, dass hierzulande durchaus erhebliche Bildungsmobilität besteht, und zwar überwiegend aufwärts.

Gleichwohl bleibt die Frage offen, ob die Schule noch mehr dazu beitragen kann, die soziale Bildungsbeteiligung auszuweiten, und zwar nicht nur oberflächlich oder kurzfristig. Drei Stichworte weisen bereits in die richtige Richtung: qualifiziertere Vorschulerziehung, frühe Sprachförderung, Ausweitung der Ganztagsschule. Das alleine wird aber nicht reichen - zusätzlich gilt es an zwei Tabus zu rütteln.

Ganztägiger Unterricht etwa könnte für viele Kinder ein echter Fortschritt sein - wenn die Schule ihnen auch genügend Ansporn bieten würde. Tatsächlich aber leiden nicht wenige Lehrer immer noch unter einer falsch verstandenen Kinderfreundlichkeit. Sie formulieren zu weiche Erwartungen, überlassen die Schüler zu viel sich selbst und bieten ihnen in Konflikten zu wenig Paroli. Gerade Kinder aus bildungsferneren Schichten benötigen solche Leitplanken aber in besonderem Maße, schließlich sind für sie die Schulstoffe besonders fremd und damit ängstigend. Sie brauchen nicht nur mehr Zeit und Begleitung als andere, sondern auch mehr Struktur und Halt in Situationen, in denen ihnen eher nach Weglaufen zumute ist denn nach gründlicher Auseinandersetzung. Und ihre Eltern können nicht ohne weiteres zum Rettungsanker Nachhilfe greifen.

Gute Lehrer alleine indes genügen nicht. Das andere Tabu, an das zu rühren wäre, ist die Ausblendung des Elternhauses in der Bildungsfrage. Viele Schulkinder tun sich heute schwer damit, Interesse aufzubringen, sich zu bemühen, sich an Regeln zu halten. Kein Wunder, gleichen doch viele Kinderzimmer Bühnen der Verwöhnung, andere sind Stätten erzieherischer Verödung. Wenn aber die Schule erst erziehen muss, um dann unterrichten zu können, gerät sie natürlich ins Hintertreffen - zumal ihr ja in Zukunft weniger Zeit als bislang zugestanden wird.

Das Leistungsniveau wird deshalb auch dann steigen, wenn mehr Mütter und Väter der beliebten „Pädagogik der Enthaltsamkeit“ den Rücken kehren. Denn es ist die Familie, die das Fundament für schulischen Erfolg legt, und zwar nicht nur über die Bücher im Regal, sondern vor allem über die Bereitschaft, den lieben Kleinen schon in jungen Jahren Anstrengungen zuzumuten - und viel mit ihnen im Gespräch zu sein. Gerade auch über Schule - dazu nehmen sich nämlich laut Pisa deutsche Eltern weltweit am wenigsten Zeit.

Tun wir also alles, um Eltern in der gegenwärtigen Erziehungsunsicherheit zu unterstützen: durch niedrigschwellige Mütterkurse, durch breit angelegte Erziehungsberatung bis zur Pubertät, durch viel Elternsprechzeit und regelmäßige pädagogische Rundbriefe an den Schulen. Die Bildungsfrage betrifft die gesamte Gesellschaft - wer von der Schule alles erwartet, wird enttäuscht werden.

KStA abonnieren