HirnforschungFaulenzen macht klug!

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Herr Spitzer, wann haben Sie das letzte Mal gar nichts getan?

MANFRED SPITZER Es war einerseits wohl an Weihnachten, wo ich mir das letzte Mal vorgenommen habe, nichts Bestimmtes zu tun. Andererseits steht man immer mal in einer Warteschlange. Das erlebe ich dann als aufgezwungenes Nichtstun. Wieder ein anderes Mal kommt mein Sohn am Sonntag ins Wohnzimmer, sieht mich auf der Couch zwischen Unmengen von Papieren am Laptop sitzen, und fragt: „Papa, wann tust du eigentlich mal chillen?“ Er war verwundert, als ich entgegnete: „Jetzt gerade.“

Und was ging dabei in Ihrem Gehirn vor?

SPITZER Auch beim vermeintlichen Nichtstun ist unser Gehirn überaus aktiv: Es sortiert, kodiert um, speichert ab, verbindet neu, kurz: Es erledigt eine Menge Hausarbeit, um fit zu bleiben für die nächsten Aufgaben.

Heißt das, unser Gehirn kommt nie zur Ruhe?

SPITZER Genauso ist es. Wenn wir uns ausruhen, dann haben wir zwar den Eindruck, dass wir nichts tun. Das ist ja gerade der interessante Punkt, den die moderne Gehirnforschung an dieser Stelle macht. Denn bei genauer Betrachtung des Gehirns zeigt sich, dass essehr aktiv ist, nicht überall gleich, aber an bestimmten Stellen ganz besonders. Diese nennt man mittlerweile das „Ruhestandardnetzwerk“, um anzudeuten, dass es nicht ein Bereich im Gehirn ist, der beim Nichtstun aktiv wird, sondern ein ganzes System.

Und welche Gehirnregionen sindbesonders aktiv?

SPITZER Wenn wir etwas ganz Bestimmtes zielgerichtet tun, dann werden bestimmte Bereiche des Gehirns aktiv. Und wenn wir nichts tun, sind unter anderem der mediale temporo-parietale Kortex, der posteriore cinguläre Kortex sowie der mediale präfrontale Kortex aktiv. Von diesen Regionen wusste man bislang nicht so viel wie von anderen Regionen. In den vergangenen Jahren jedoch hat sich gezeigt, dass sie auch beim sozialen Denken eine Rolle spielen. Dass wir gleichsam „im Kopf“ bei den anderen sind, wenn wir gerade nicht bei irgendeiner Aufgabe sind, leuchtet ein.

Wie ist das im Schlaf?

SPITZER Da ist es genauso. Schon lange wissen wir, dass der Schlaf nicht einfach ein „Herunterschalten“ oder gar „Abschalten“ des Gehirns bedeutet. Ganz im Gegenteil: Schlaf ist eine vom Gehirn aktiv herbeigeführte Abfolge von ganz bestimmten Zuständen zum Teil ebenso hoher Aktivität wie im Wachzustand – beim Träumen zum Beispiel. Es gibt aber auch Zustände, die anders sind als der Wachzustand oder das Träumen, die aber keineswegs als inaktiv beschrieben werden können. Diese Zustände heißen zwar Tiefschlaf, wer jedoch glaubt, dass unser Gehirn sich hier ausruht, der liegt falsch.

Was ist denn genau der Zustand des Nichtstuns?

SPITZER Bleiben wir beim Schlaf, weil sich das hier schön zeigen lässt: Wir bewegen uns nur gelegentlich, und zwar dann, wenn wir von einem Zustand – etwa dem Träumen – in einen anderen, den Tiefschlaf, wechseln. Unser Gehirn dagegen arbeitet sich an den Inhalten ab, die es in letzter Zeit neu aufgenommen hat: schiebt vom Zwischenspeicher in den Langzeitspeicher, reanalysiert die Daten, sucht nach neuen Verknüpfungen, bewertet. Am Morgen wachen wir auf und haben den Eindruck, als wäre nichts geschehen. Auch im motorischen Kortex gibt es Aktivität,wenn wir uns gar nicht bewegen.

Warum?

SPITZER Erstens ist im Gehirn nicht alles miteinander verbunden, aber doch über ein bis drei Ecken – also Synapsen – tatsächlich beinahe. Wenn ich also beispielsweise das Wort „treten“ höre, dann wird auch der Bereich des Gehirns aktiv, der für das Ausführen der Bewegung zuständig ist. Nicht anders beim Lesen des Wortes „greifen“: Die Handbewegung wird aktiviert. Zweitens ergibt das ganz viel Sinn: Wir planen Bewegungen. Diese Planung aktiviert diejenigen Strukturen, die die Bewegung dann ausführen, schon mal vor, weil dann alles schneller geht, wenn es wirklich erfolgen muss. Und Millisekunden können entscheidend sein, wenn es darum geht, rasch zu reagieren oder zu flüchten.

Kann man also sagen: Wir planenbeim Nichtstun unsere Zukunft?

SPITZER Wenn man damit nicht nur das bewusste Planen meint, sondern auch unbemerkt ablaufende Prozesse, ja.Wir wissen mittlerweile, dass das Erinnern an die Vergangenheit und das Planen der Zukunft in praktisch den gleichen Gehirnbereichen erledigt wird, mit dem einen Unterschied, dass beim Planen noch mehr frontale Aktivierung hinzukommt. Wir basteln uns sozusagen die Zukunft aus Erinnerungen zusammen. Weil das Ruhestandardnetzwerk bei der Nachverarbeitung von Gedächtnisinhalten eine wichtige Rolle spielt, kann es nicht anders sein, als dass es auch für die Zukunft zuständig ist.

Wie kann man messen, was beim Nichtstun im Gehirn geschieht?

SPITZER Dies ist eigentlich die Kernfrage. Denn über lange Zeit machte man immer Bilder von Gehirnaktivierung beim Ausführen bestimmter geistiger Leistungen. Diese Bilder verglich man mit der Aktivierung des Gehirns in Ruhe – verglich. Womit aber soll man vergleichen, wenn man die Aktivierung in Ruhe ausrechnen will? Erst als man sehr viele Daten zu sehr vielen Aufgaben hatte und einfach einmal den Spieß umdrehte, stellte sich heraus, dass auch Ruhe im Vergleich mit sehr vielen Aktivierungen zusammengenommen bestimmte Gehirnbereiche aktiviert.

Dösen und Faulenzen ist in unserer Gesellschaft nicht hoch angesehen. Stress ist dagegen ein großes Thema. Braucht unser Gehirn das Nichtstun?

SPITZER Wenn man Kinder im Sandkasten beim Spielen beobachtet, dann sieht man, dass sie manchmal dasitzen und „in die Luft gucken“, wie man so sagt. Wahrscheinlich ist es nicht unwichtig für unser Gehirn, dass es nicht immer in der Welt ist, sondern gelegentlich einfach nur bei sich selbst.

Sollten wir also mehr faulenzen?

SPITZER Wenn klar ist, dass es nicht um Fernsehen oder Biertrinken geht, sondern um Joggen, Wandern oder Ähnliches – dann ist das keine schlechte Idee. Da schweift das Hirn locker umher.

Schüler lernen viele Stunden am Stück. Fehlt ihnen das Nichtstun ?

SPITZER Man lernt beim Nichtstun nicht unbedingt, aber man verarbeitet das Gelernte, so dass es hängenbleibt. Der Prozess heißt Konsolidierung und findet vor allem im Schlaf statt. Um es aber auch klar zu sagen: Chinesisch-Vokabeln vom Kassettenrekorder im Schlaf bringen gar nichts, denn man muss schon im Wachzustand gelernt haben, um nachverarbeiten zu können. Neues wird im Schlaf nicht aufgenommen.

Wie viele Stunden sollte man überhaupt durchgehend einer geistigenTätigkeit nachgehen, bis man einePause macht?

SPITZER Da gibt es keine allgemeine Regel, aber klar ist: Viele kurze Lernepisoden sind besser als eine lange. Also nicht eine Stunde am Stück Vokabeln lernen, sondern besser sechs mal zehn Minuten.

Das Gespräch führte Alice Ahlers

Zur Person Prof. Manfred Spitzer ist ärztlicherDirektor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Dort leitet er auch das Transferzentrum fürNeurowissenschaften und Lernen (ZNL).

Allgemein bekannt wurde Spitzer vor allem durch populärwissenschaftliche Bücher zur Gehirnforschung. Darin beschäftigt er sich zum Beispiel damit, wie unser Gehirn lernt oder Musik verarbeitet.Außerdem schreibt er über die Auswirkungen exzessiven Konsums von Fernsehen und Computerspielen – auf die Entwicklung von Kindern sowie deren Leistungen in der Schule.

In seinem 2005 erschienenen Buch„Vorsicht Bildschirm“ sorgte Manfred Spitzer mit provokanten Äußerungen – etwa der These: „Fernsehen macht dick, dumm, gewalttätig“ – für hitzige Diskussionen in der Öffentlichkeit.In seinem neuen Buch beschäftigt sich Spitzer außer mit dem Nichtstun auch mit der Liebesanbahnung. So erklärt er, warum Flirtende Rot tragen sollten.

Manfred Spitzer: „Nichtstun, Flirten, Küssen“, Schattauer- Verlag 2012, 348 Seiten, 19,95 Euro.

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