Jesper Juul„Beziehung statt Erziehung“

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Herr Juul, warum ist Kindererziehung heute so schwierig?

JESPER JUUL Bis vor zehn, 15 Jahren gab es einen moralischen Konsens in der Gesellschaft. Kindererziehung basierte zu 80, 90 Prozent auf Moral. Jetzt haben wir viel mehr Erfahrungen. Eltern haben zum ersten Mal eine Riesenfreiheit zu wählen: Was wollen wir?

Eigentlich positiv.

JUUL Ja, aber ja auch furchtbar. Plötzlich muss man wählen und das ist schwierig. Viele fragen sich: Wie können wir führen, ohne unseren Kindern wehzutun? Es ist immer wieder diese Polarität zwischen Autorität und Laissez-faire. Man muss aufhören in Gegensätzen zu denken, man muss in Alternativen denken. Nicht nur das Konzept Eltern ist im Umbruch – das ganze Konzept Familie. Die meisten jungen Eltern wollen demokratisch sein, doch dann liegt plötzlich die ganze Führung in den Händen des Kindes.

Wie muss man sich das vorstellen?

JUUL Ich habe im vergangenen Jahr eine Mutter getroffen, die jeden Tag ihren Zweijährigen fragt: Was sollen wir heute Abend essen? Das kann ein Zweijähriger nicht entscheiden. Es ging in der Kindererziehung immer um Macht, heute sagt man: Wir wollen Demokratie. Idealerweise sollte es überhaupt nicht um Macht gehen, sondern um Gleichwürdigkeit. Die Eltern müssen das Kind ernst nehmen. Dann können Entscheidungen getroffen werden. Viele Eltern haben eine Art ideologische Angst. Sie wollen nicht autoritär sein – und verlieren damit ihre ganze Autorität.

Braucht es denn diese Autorität?

JUUL Wir brauchen Verantwortung. Das Kind muss lernen, für sich selbst verantwortlich zu sein. Stichwort Freiheit. Wir haben in den vergangen 20 Jahren eine – manche sagen: unmögliche – Freiheit bekommen, wir können nicht nur wählen, wir müssen wählen. Das ist wohl der Stressfaktor Nummer eins, denn wir sind nicht dazu erzogen. Wir sind zu Gehorsamkeit erzogen. Das gilt besonders für Kinder. Heutzutage werden sie mit allem möglichen konfrontiert, zum Beispiel mit dem Internet. Da müssen sie qualifiziert wählen können.

Klingt nach Herausforderung

JUUL Oh ja. Neulich kam eine Mutter und sagte: „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe einen 13-jährigen Jungen, mein Mann ist oft weg und mein Sohn spielt vier, fünf Stunden pro Tag Computer.“ Die Angst dieser Mutter sitzt tief. Sie hat Bücher gelesen und Seminare gemacht. Bei einem Seminar fragte sie: Wie viele Stunden PC sind angemessen? Die Antwort des Experten war: ungefähr eine Stunde pro Tag und ein, zwei Tage in der Woche, an denen Computer tabu ist. Sie fragte: Wie solle sie das machen? Er riet: Sie müssen Grenzen setzen. (Pause)

Sie scheinen nicht viel von seinem Rat zu halten.

JUUL Es ist ein sehr guter Beweis dafür, dass Hirnforscher viel über das Gehirn wissen, aber nichts über Familien. Die Frau muss das ja bereits versucht haben. Und dann geht sie nach Hause und sagt zu ihrem Sohn: „Hör mal, ich war gestern bei einem Vortrag und der Mann hat gesagt, eine Stunde reicht.“ Was macht der 13-Jährige? Er spielt weiter. Dann kommt dieser Teufelskreis.

Wie war das in diesem Fall?

JUUL Die Eltern haben versucht, den Router auszuschalten, das Modem wegzunehmen. Der Sohn fand immer einen Weg. Es hat nicht geholfen, es hilft nie.

Wieso nicht?

JUUL Wenn Grenzensetzen helfen würde, dann wäre alles kein Problem. Ein guter Weg könnte sein, dem Kind zu sagen: Das hier ist nicht gut für dich, wir sollten vereinbaren, wie viel Zeit du vor dem PC verbringst und was du machst.

Das hilft?

JUUL Wenn es eine gute Beziehung gibt, dann ist das kein Problem. Wenn keine gute Beziehung existiert und man mit dem Holzhammer sagt: Es ist gefährlich!, funktioniert das nicht. Diese Frau wusste viel mehr über Neurowissenschaften als über Beziehungen. Also sagte ich, sie müsse sich eine Stunde lang für die Beschäftigung des Sohnes interessieren. Die Frau reagierte unmittelbar: „Nein, das kann ich gar nicht. Ich bin doch dagegen.“ Das war der Punkt: Ist sie gegen Internet oder gegen ihren Sohn? Denn wenn das dasselbe ist, dann kann sie aufgeben.

Und, kam sie wieder?

JUUL Ja, ich habe die Mutter gezwungen, zuzuhören. Der Junge fing an zu erzählen. Er spielte keine Onlinespiele, sondern baute eine Gruppe auf, mit der er an Softwareentwicklung arbeitet. Die Mutter war beeindruckt. Und doch war das erste Wort, nachdem der Sohn fertig war, „aber“. Das geht nicht. Das nächste Mal war sie dran und sie sprach das erste Mal über ihre Ängste, das fiel ihr sehr schwer. Es liegt nicht in unserer Tradition, dass wir uns verwundbar machen gegenüber unseren Kindern. Der Sohn sagte: Mama, das hab ich nie gewusst.

Ein Missverständnis.

JUUL Sie hat vielleicht darüber geredet, aber im Erziehungskontext und nie auf einer persönlichen „So ist es zwischen uns beiden“-Ebene. Sie wollte noch einmal eine Vereinbarung machen, doch ich habe es ihr verboten. Ein halbes Jahr später war der Junge nur noch drei Stunden pro Tag vor dem Computer. Mehr kann man in diesem Fall nicht erreichen. Um eine gute, offene Beziehung aufzubauen, ist es sehr spät, mit 13 anzufangen. Deswegen greifen wir ja zu diesen Regeln und Konsequenzen, die nirgends funktionieren.

Aber früher, sagten Sie doch, hätten sie funktioniert.

JUUL Das ist der große Unterschied zu heute: Damals waren Eltern „erfolgreich“ in dem Sinne, dass Kinder gehorsam waren. Aber nur mit Bestrafung oder Gewalt. Und das gibt es nicht mehr. Das Modell zerbricht, weil es diese Mentalität nicht mehr gibt. Meine Rolle ist es zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass sich die Beziehungen verbessern. Das ist so, wie wenn man mit einem Paar arbeitet. Für die meisten Eltern ist dieser Beziehungsansatz neu. Sie machen das, was sie für richtig halten, und denken nur, die Tochter oder der Sohn benehmen sich nicht. Sie wollen, dass ich ihre Kinder repariere.

Es liegt also an der Kommunikation.

JUUL Ja. In den meisten Familien, in denen wir aufgewachsen sind – egal, welche Generation das ist –, erfolgt die Erziehung ohne Dialog. Dafür mit Fragen. Die meisten Eltern benehmen sich ja wie Journalisten, die stellen immer Fragen. Und mit spätestens acht Jahren hören die Kinder auf zu antworten. Immer dieselben blöden Fragen, jeden Tag. Und niemand hört zu. Es gibt tatsächlich viele Tragödien, wenn ich zum Beispiel Eltern von 13-, 14-Jährigen treffe, die sagen, sie hätten in den vergangenen drei, vier Jahren nichts Gemeinsames gemacht. Es gibt eigentlich keinen Kontakt.

Wie ist das bei getrennten Eltern – wird Dialog dann noch wichtiger? Das Kind merkt ja, was los ist.

JUUL Das ist es, ja. Ein guter Kollege aus Deutschland hat ein sehr schönes Buch geschrieben: Trennung in Liebe. Man braucht Dialog. Besonders die Kinder brauchen Unterstützung und Fürsorge. Statistisch weiß ich nicht, wie es in Deutschland ist, aber in Skandinavien endet bei 20 Prozent der Eltern die Trennung im vierten Weltkrieg. Da hat jedes Land andere Voraussetzungen. Dänemark ist einfach, weil es so klein ist, da sind die Entfernungen nicht so groß. Das heißt, jedes zweite Wochenende bei dem Vater oder bei der Mutter, das lässt sich machen. Aber wenn die Mutter in Flensburg lebt und der Vater am Bodensee, dann ist das nicht so einfach. Nicht nur, weil es viel kostet. Es gibt in Deutschland jetzt diesen Trend aus dem Norden, dass das Kind eine Woche bei der Mutter, eine Woche beim Vater ist. Das kostet aber viel Willen.

Und kann funktionieren?

JUUL Meistens. Es gibt Kinder, die sind von Anfang an so unsicher in sich selbst, dass diese Wechsel das noch verschlimmern. Aber die meisten schaffen es. Es gibt noch keine Forschung, die zuverlässig ist. Man muss warten, bis die Kinder 40 sind. So lange sie jung sind, sind sie loyal und sagen, es geht mir gut. Erst wenn sie älter sind, sprechen sie darüber. Es gibt jetzt zum Beispiel Ergebnisse über Scheidungskinder. Man fand heraus, dass das Mindeste ist, dass die Eltern anständig miteinander umgehen. Wenn das nicht so ist, sehen wir Kinder, die als Erwachsene große Schwierigkeiten haben mit ihrem eigenen Leben.

Oft genug entsteht aber auch eine Art Schieflage, Mutter und Kind gegen Vater und umgekehrt.

JUUL Das ist natürlich furchtbar. Viele Eltern sind ja super-super-super-egoistisch, wenn es zur Trennung oder zur Scheidung kommt. Da spielt natürlich das Geld auch eine Rolle.

Und man will sein Kind behalten. Meistens geht das zugunsten der Mutter aus, ändert sich das vielleicht in Zukunft?

JUUL Ja, mehr und mehr Väter übernehmen Verantwortung. Das gilt auch für das Zusammenwohnen. Wenn ein Vater immer alles seiner Frau überlässt und nur Polizist spielt, dann hat er möglicherweise gesetzlich das Recht, seine Kinder zu sehen. Aber er hat sich nicht als Vater qualifiziert. Und das erleben viele dieser Wochenend-Väter. Sie fühlen sich nicht wohl mit ihren Kindern. Man kann nur so und so oft in den Zoologischen Garten gehen oder dieselben Disneyfilme ansehen. Und dann? Was macht man? Viele Väter sind in der Praxis unfähig. Die haben das Potenzial zur Erziehung, aber sie haben das nie gemacht. Und dann stehen natürlich die Frauen da und sagen: Okay, ich habe mit dem 15 Jahre zusammengelebt und ich war immer eine alleinerziehende Mutter. Er hat das Geld verdient und alles, aber natürlich gehören die Kinder mir. Weil er keine Qualifikationen hat. Unsere Gesellschaft ist außerdem sehr maskulin geprägt. Nur nicht dann, wenn es dazu kommt, dass Väter eigentlich fünfzig Prozent der Familien haben sollten. Ich glaube, dafür müssen die Männer sich qualifizieren.

Zeit für einen Rollentausch?

JUUL Ich war gerade in Schweden, da ist mein „Mann und Vater“ Buch herausgekommen. Die Schweden sind anderen Ländern da Jahre voraus. Dort gibt es diese Väter schon seit Jahren mit großer Selbstverständlichkeit. Damit ändert sich auch die Kultur in Unternehmen. Wir bekommen Führungskräfte, die ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr mit dem Kind zu Hause waren. Sie haben feminine Werte. Denn diese Männer sagen: „Jetzt habe ich etwas über Menschen gelernt, jetzt weiß ich viel mehr über das Leben.“ Und ich habe mit ein paar Unternehmensberatern in Stockholm geredet, die sagten, sie sehen, dass die Stimmung in Sitzungen ganz anders sei. Die Top-Manager sind plötzlich auch Väter, das ist gut.

Das Gespräch führte Victoria Schneider

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