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Geheime Silvester-DokumenteDie Verteidigungsstrategie von Innenminister Ralf Jäger

Lesezeit 5 Minuten
Ralf Jäger

NRW-Innenminister Ralf Jäger geriet nach den Silvesterübergriffen selbst in Bedrängnis.

  • Das NRW-Innenministerium bemüht sich seit den Silvesterübergriffen um größtmöglichen Abstand zwischen den Akteuren in Köln und Minister Ralf Jäger.
  • Anfragen der Presse, ob Verdächtige der Übergriffe an einem Landespräventionsprogramm teilnahmen, wurden abgewimmelt.

Köln – Zeuge Nr. 30 soll am 9. Mai vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags erscheinen, weil er „zu Sachverhalten aussagen“ könne, die die „Silvesternacht betreffen“, so steht es im Beweisantrag. Eine nachvollziehbare Erwartungshaltung, denn der Mann hinter der Nr. 30 heißt Ralf Jäger, gelernter Groß- und Außenhandelskaufmann und aktuell Innenminister des Landes Nordrhein- Westfalen.

Ob ihn die Spätfolgen der Silvesternacht doch noch einholen werden und seine politische Zukunft gefährden, hängt auch von den kommenden Wochen ab. Nach den Befragungen vieler Polizisten werden die Parlamentsaufklärer nun vor allem die politisch Verantwortlichen des Landes vorladen.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat vor den wichtigen Zeugenaussagen Tausende Seiten Ministeriumsakten, Einsatzberichte und Polizeiprotokolle einsehen können. Aus den Unterlagen lassen sich die Abläufe der Nacht und die aufgewühlte Atmosphäre in den Tagen danach rekonstruieren.

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Schutzwall für Ralf Jäger

Die Akten mit der Geheimhaltungsstufe „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ belegen, wie sehr Jägers Apparat unter Druck stand, Ermittlungs-Ergebnisse zu liefern. Es lässt sich aber auch herauslesen, wie daran gearbeitet wurde, einen unsichtbaren Schutzwall zwischen der gescholtenen Kölner Polizei und dem Innenministerium hochzuziehen. Es soll dieses Bild entstehen: dort die Schuldigen rund um den Dom, hier die Düsseldorfer Aufklärer.

Am Morgen des 5. Januar ist von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) noch kein Wort zu den Ereignissen bekannt – doch ein Ministeriumsmann schickt bereits eine aufgeregte E-Mail ins Kölner Präsidium. Jägers Beamte sind alarmiert: Es solle geprüft werden, ob Teilnehmer des Landespräventionsprogramms „Klarkommen!“ unter den Tatverdächtigen seien. „Ich bitte um kurze schriftliche Mitteilung zu Ihrem diesbezüglichen Erkenntnisstand.“ Der E-Mail-Wechsel über das Kölner Projekt, in dem Straftäter aus Nordafrika resozialisiert werden sollen, füllt Dutzende Seiten.

Journalisten unerwünscht

Dem Ministerium geht es dabei wohl nicht um die Ursachen hinter den sexuellen Übergriffen: Die Beamten wollen offenbar ihren Minister schützen, der das Projekt vor zwei Jahren mit großen Worten und vielen Kameras präsentiert hatte. Die Presse soll also möglichst wenig über das Landesprojekt berichten, das, wie später herauskommt, auch zwei der Tatverdächtigen betreut hatte. Die E-Mails zeigen Wirkung: Stolz meldet die Kölner Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, die das Programm vor Ort verantwortet: „...habe MIK (das Innenministerium, Anm. d. Red.) und PP Köln argumentativ rausgehalten“.

Auch der unter Druck geratene Minister schaltet sich Anfang Januar schriftlich in die Diskussionen seiner Polizeiexperten und Juristen ein. Nachdem er offenbar den ersten Bericht der Kölner Polizei durchgearbeitet hat, schickt Jäger eine E-Mail an vier seiner engsten Mitarbeiter. Der 55-Jährige stellt Dutzende Fragen zum Einsatzprotokoll. Dabei deutet sich schon an, was der Minister einige Tage später als Hauptursache ausmachen wird: das Versagen der Kölner Polizeiführung. „Festgenommene taeter, illegal eingereist, kein fester wohnsitz, wurden entlassen. Das muss erläutert werden“, mailt er etwa am 8. Januar um kurz nach Mitternacht.

Jäger hat sich da offenbar schon entschieden: Die Fehler wurden vor Ort gemacht; strukturelle Probleme in der Landespolizei, die Frage etwa, ob die NRW-Sicherheitsbehörden womöglich zu wenig Personal haben, dürfen keine Rolle spielen. Wie viele zusätzliche Beamte Köln beim Land beantragte und welche Verstärkung tatsächlich genehmigt wurde, das will der Sozialdemokrat nicht wissen. Erst später müssen seine Leute einräumen, dass das Land mit Verweis auf knappe Ressourcen bei der Bereitschaftspolizei den Kölnern für den heiklen Silvestereinsatz 38 Beamte weniger schickte, als die sich gewünscht hatten.

Einer wie Gerhard Schröder

Bisher ist diese Strategie, der frühen und eindeutigen Schuldzuweisung aufgegangen: Zwar forderte die Opposition schnell seinen Rücktritt, doch konnte ihm bis jetzt niemand persönliche Versäumnisse nachweisen. So lange, da sind sich politische Weggefährten sicher, „wird er ums Amt kämpfen“. Der Sohn einer Wirtin, der neben der Schule im Duisburger Königs-Eck, der Kneipe seiner Mutter jobbte, hinterm Tresen politisch sozialisiert wurde und später als Referent bei einer Krankenkasse gearbeitet hatte, sei einer „wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder“. Also jemand, der die Politik als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg nutzte – und deshalb nicht aufgeben werde.

Die internen Protokolle, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ausgewertet hat, können Jägers Version eines völlig missglückten und schlecht koordinierten Polizeieinsatzes jedenfalls nicht widerlegen: Ein Einsatzleiter, der in der Nacht nichts von sexuellen Übergriffen mitbekommen haben will. Eine Leitstelle, die zu keiner Zeit den Gesamtüberblick hatte. Einsatzleiter von Polizei, Stadt und Bundespolizei, die kaum miteinander sprachen. Und mehr als 30 bestohlene, belästigte, teils völlig aufgelöste Frauen, die sich in der Innenstadtwache stauten, weil nur zwei Beamtinnen Anzeigen aufnahmen.

Unter welch hohem Druck sich in den Tagen danach die Polizisten der „Ermittlungsgruppe Neujahr“ wähnten, beweist das Protokoll einer Besprechung vom 7. Januar: „Wir müssen erste Erfolge darstellen“, heißt es darin.

Liest man weiter in den Unterlagen, dann fällt ein anderes Phänomen auf, eines das noch politische Brisanz entwickeln könnte: Wie sich die Spitze des Landes und die Topbeamten des Innenministeriums an der Aufklärung beteiligten, ob etwa Regierungschefin Kraft oder Jäger ihre Mitarbeiter zu absoluter Transparenz ermahnten, das alles ist aus den Ministeriumsakten nicht nachvollziehbar. Abgeordnete des Untersuchungsausschusses beklagen bereits, so sei es nicht möglich, staatliches Handeln zu kontrollieren. Es stellt sich die Frage, ob die Regierung heikle E-Mails unterschlagen hat oder man nur noch das Telefon nutzte, weil ein Gespräch weniger Spuren hinterlässt.

Staatskanzlei sperrt Akten

Nach Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ taucht Jäger selbst in den Akten nur mit einer E-Mail auf. Kraft hat nach den Vorfällen ein ums andere Mal Nachrichten zu Köln in ihrem Postfach. Die Regierungschefin aber hält es wie ihr Minister – Schriftliches gibt es nicht. Einen E-Mail-Austausch mit ihrem Sprecher zu einer Presseäußerung lässt die Staatskanzlei in den Akten sperren: „Der Inhalt der Email eröffnet Rückschlüsse auf die interne Abstimmung zwischen der Ministerpräsidentin und dem Regierungssprecher“, so die Begründung. Das Verfassungsgericht hat das Recht auf einen solchen geschützten Kernbereich mehrmals bestätigt.

Ein Detail aber erwähnen sowohl Staatskanzlei und Ministerium gerne und oft im Schriftverkehr: Das erste Telefonat zwischen Jäger und seiner Chefin habe am am 4. Januar um 13.41 Uhr, also Tage nach der schlimmen Nacht stattgefunden. Für die beiden ist das wichtig, transportiert es doch ihre zentrale Botschaft: Wir haben nichts geahnt und nichts gewusst!

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