Günter Wallraff„Ich wollte meinen Unfalltod simulieren“

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Pater David Kammler (links) und Günter Wallraff bei ihrem Treffen im Haus Scholzen.

Pater David Kammler (links) und Günter Wallraff bei ihrem Treffen im Haus Scholzen.

Köln – Günter Wallraff kommt joggend ins Haus Scholzen, sein Schulfreund Michael Kammler, Dominikanerpater David, liest in alten Briefen. „Michael oder David, wie soll ich Dich nennen?“, fragt Wallraff, den Gefährten umarmend.

„Für dich natürlich weiter Michael“, sagt Kammler. „Und wie nenne ich Dich? Hans Esser oder Ali?“ „Wenn schon, dann Ali“, sagt Wallraff. Der berühmte Journalist ist katholisch aufgewachsen, aber längst aus der Kirche ausgetreten. Sein Schulfreund ging bald nach dem Abitur ins Kloster.

Pater David Kammler: Wer ist Ali, wer ist Hans Esser? Was Du in Deinen Rollen machst, ist auch Identitätssuche: Wer bin ich alles?

Günter Wallraff: Von Ali, dem türkischen Gastarbeiter, steckt sehr viel in mir, von Hans Esser, der ich bei der „Bild“ war, sicher nicht. Wir hatten einen Deutschlehrer, der uns Antikriegsliteratur nahe gebracht hat. Der hat mich mitbeeinflusst, den Kriegsdienst zu verweigern. Kurz vor seinem Tode hat er mir von seinem Lebenstrauma erzählt: Er war einem Erschießungskommando zugeteilt, das einen Deserteur zu erschießen hatte. Er ist nach dem Krieg ein Anderer geworden.

Kammler: Auch der Latein- und Griechischlehrer hat sich gegen die Wiederbewaffnung geäußert. Aber es gab auch manche Alt-Nazis, die es weggeschwiegen haben.

Zu den Personen

Pater David Kammler (73) ist Prior der Kölner Dominikaner. Mit Günter Wallraff (auch 73) ging er sechs Jahre auf das Gymnasium in Nippes, ehe Wallraff nach der Mittleren Reife eine Buchhändler-Lehre machte.

In loser Folge sprechen in der Rubrik „Das Gespräch“ Prominente mit Menschen, die für ihr Leben wichtig sind oder waren.

Wallraff: Wir hatten auf dem Gymnasium einen jüdischen Mitschüler, der nie darüber sprach, ob und wie seine Familie überlebt hat, erinnerst Du Dich? Es herrschte ein Klima, das die Opfer zum Schweigen nötigte. Auch diese Kälte und Sprachlosigkeit hat mich dazu gebracht, aufklärend arbeiten zu wollen und sehr viel zu lesen. Ich habe mich als Kind schon mit den Indianern identifiziert und die Bücher von Fritz Steuben über die Rituale der amerikanischen Ureinwohner geradezu verschlungen. Da fing es bei mir an, mich mit Unterdrückten und Schwächeren zu identifizieren.

Kammler: Ich habe auch sehr viel gelesen, Abenteuerromane. Ich wollte Archäologe werden.

Wallraff: Mein Traum war, Ethnologe zu sein und bei einem Stamm am Amazonas zu leben – weit weg von unserer Kultur.

Kammler: Im Orden wählte ich nach dem Abitur einen neuen Namen. Der Eintritt und der Name bedeuteten eine neue Identität – das war nicht leicht, aber doch eine Erleichterung. Ich war mir klar, was meine Aufgabe ist in der Welt.

Wallraff: Gott und den Menschen zu dienen. Bist Du heute mehr Pater David oder Michael?

Kammler: Michael hat durch Pater David eine erweiterte Identität erhalten. Für Gott da zu sein, das hat mir eingeleuchtet. Du hast auch mal mit dem Gedanken gespielt, in einen Orden einzutreten.

Pater David reicht Günter Wallraff die Kopien von Briefen aus dem Jahr 1965, Wallraff liest vor.

Wallraff: „Lieber Kammler, … ich fand keinen Sinn mehr in meinem Tun … Du hast mir meine Situation sehr deutlich vor Augen geführt, wie man sie selbst nicht mehr erfassen kann, wenn man in der Tretmühle drinsteckt und jeden Abstand zu sich selbst verliert … Ich arbeite diesmal in einem Eisenverhüttungswerk, etwa ein halbes Jahr will ich es aushalten, um selbst Arbeiter zu werden ...“

Kammler: Das war die Industrietretmühle in den Betrieben, in denen Du dann jahrelang gearbeitet hast. Ich lese mal weiter: „Freiwillig das Schwerste zu wählen, um dem anderen, der so unerreichbar weit weg ist, ein Stück näher zu kommen, was ich aber inzwischen kaum mehr für möglich halte.“ Du hattest da schon große Zweifel, ob der Orden das Richtige für Dich ist. Ich habe dir auch nicht geraten: Komm doch auch! Ich hatte eher den Eindruck, sogar der Orden ist für dich zu eng.

Pater David Kammler (links) und Günter Wallraff bei ihrem Treffen im Haus Scholzen

Pater David Kammler (links) und Günter Wallraff bei ihrem Treffen im Haus Scholzen

Wallraff: Es ist seltsam, ich erfuhr von einem Mitschüler, dass Du Dich dem Dominikanerorden angeschlossen hast, als ich mich selbst mit dem Gedanken trug, in einen Orden einzutreten. (er liest weiter) „Glaube ich oder glaube ich nur, dass ich glaube? Ich bräuchte sicher noch eine längere Zeit, um das zu prüfen“.

Kammler: Und dann hast Du mich im Kloster besucht.

Wallraff: Dein Orden war mir dann zu weltlich und ich habe Kontakt zu den Trappisten gesucht.

Kammler: Das sind die, die in ihren eigenen Särgen schlafen …

Wallraff: Das hat mir imponiert. Den Tod nicht fürchten, das war ein Motto von mir, den Tod annehmen und damit überwinden.

Kammler: War das nicht so ein Stück Suche nach einem religiösen Hochleistungssport?

Wallraff: In der Zeit war das auf jeden Fall ein Rettungsversuch und Weltflucht. So oder so, diese Konsequenz: Ich lasse alles hinter mir, das ist jetzt mein Weg, das bewundere ich.

Kammler: Eben nicht: Ich lasse alles hinter mir. Menschen, die mich gefragt haben, warum ich ins Kloster gegangen bin, habe ich immer leicht provokant gesagt: um etwas vom Leben zu haben. Das hört sich erstmal hedonistisch und egoistisch an, aber für mich war Jesus ein faszinierender Mensch: Da war eine Lebensbejahung und Lebensfülle, die ich bis dahin nicht kannte.

Wallraff: Der Mensch Jesus als Orientierung, das ist er für mich bis heute. So wie Sokrates, Platon, Martin Luther King, Gandhi. War der Orden ein Experiment für Dich oder gab es keinen Weg zurück?

Kammler: Ich habe schon die Brücken hinter mir abgebrochen. Wohl aber mit der Möglichkeit, für den Fall, dass ich seelisch-geistig versehrt werde, zurückzukehren.

Wallraff: Du hast dann über 60 Länder bereist und dort gearbeitet.

Kammler: Ich war sechs Jahre unterwegs, ja, wir haben 150 000 Laienbrüder und -Schwestern, die ihre normalen Berufe behalten – ich war Roms Kontaktperson zu den Laien in der ganzen Welt.

Wallraff: Ah, das könnte ich also auch noch werden?

Kammler: Ja, natürlich!

Günter Wallraff über Tresorknacker, Kirche und seine Rollen

Pater David Kammler (links) und Günter Wallraff bei ihrem Treffen im Haus Scholzen

Pater David Kammler (links) und Günter Wallraff bei ihrem Treffen im Haus Scholzen

Die Kellnerin, Tochter der Restaurant-Besitzer und gerade Mutter geworden, bringt Wasser und Espresso. „Wussten Sie, dass Sie jederzeit in seinen Orden eintreten können?“, fragt Wallraff sie. „Was müsste ich machen?“ – „Sie müssen nur eine gute Gastgeberin und eine gute Mutter sein.“ „Gute Mutter, da bin ich gerade dran ...“ Wallraff und Kammler sind Stammgäste im Haus Scholzen. Die Kellnerin dreht amüsiert ab.

Wallraff: Für mich wäre das zölibatäre Leben nichts gewesen. Ich bin ein großer Sünder, der nicht immer treu war. Ich habe einen Freund, ein begnadeter Tresorknacker. Ich habe ihn bei Tischtennisturnieren im Knast kennengelernt. Er war einer der besten Schüler an seinem Gymnasium. Einmal kamen die Jesuiten zu ihm – wohl, weil er als Wahlfach Hebräisch hatte – und sagten: Du bist unser Mann, tritt in unseren Orden ein! Da sagte er: Geht leider nicht, ich habe eine Freundin! Da könnten wir drüber hinwegsehen, sagten die Jesuiten. Später sagte mir der Freund: Hätte ich das nur gemacht. Mönch sein ohne Zölibat, das hätte auch für mich was sein können.

Kammler: Wir Dominikaner haben uns freiwillig zum Zölibat entschieden, das finde ich auch gut so.

Wallraff: Im Moment ist in der Kirche ja einiges in Bewegung. Papst Franziskus, wer hätte das gedacht, so eine Lichtgestalt! Es geschehen Zeichen und Wunder ...

Kammler: Mir gefällt am Papst wie an Kölns Kardinal Woelki, dass die Hirten den Geruch der Schafe wieder annehmen. Das hast du ja in all Deinen Rollen getan: Dich in die Identität der anderen begeben. Insofern bist du für mich ein Vorbild gewesen. Als Du Dich in Athen angekettet hast, um gegen die dortige Militärdiktatur zu protestieren und dafür Folter und Gefängnis in Kauf genommen hast, habe ich gedacht, das ist wie bei den biblischen Propheten, als sich Jesaja ein Joch angelegt oder, als Jeremia sich angekettet hat.

Wallraff: Aktionen ohne Risiko habe ich auch immer abgelehnt.

Kammler: Deine humanistisch motivierte Arbeit hat für mich etwas Prophetisches, weil Du unter großem Einsatz zeigst, wie ungerecht unsere Gesellschaft ist. Nur einmal hast Du für mich eine Grenze übertreten: als Du Priestern im Beichtstuhl als angeblich katholischer Unternehmer gefragt hast, ob es moralisch vertretbar sei, Napalm an die US-Streitkräfte zu verkaufen. Für mich ist und bleibt die Beichte und die Gewissensberatung ein Tabu-Bereich.

Wallraff: Das Beichtgeheimnis ist für mich eine große Errungenschaft und absolutes Tabu. Ich habe in der Rolle in keinem Fall gebeichtet, ich habe namhafte Professoren der Moraltheologie, darunter bekannte Konzilsberater, angerufen und gesagt: Ich brauche einen Rat. Nur zwei haben mir von den Lieferungen abgeraten – alle anderen nicht.

Kammler: Ich bin trotzdem nicht sicher. Wann fühlst Du Dich eigentlich näher bei Dir – in Deinen Rollen oder zum Beispiel jetzt?

Wallraff: In den meisten Rollen bin ich mehr ich selbst als in der Öffentlichkeit vor Publikum. Talkshows bedeuten für mich die größte Selbstüberwindung: Da wirst du meist in Stellung und Konfrontation gebracht und es ist schwierig, dann noch zu differenzieren.

Kammler: Wenn Rollen einen Teil der Identität einnehmen, führt das auch zu einem Identitätsverlust. Wie ist das bei Dir?

Wallraff: Im Gegenteil: Identifikation durch Seitenwechsel bedeutet Erkenntnisgewinn und Identitätserweiterung. So bin ich nebenbei auch angstfreier geworden. Du hast sehr früh die Rolle Deines Lebens gefunden, hattest aber auch Krisen…

Kammler: Das lag auch an dem Gehorsamsversprechen. Es ging um die Bitte, ich solle in Walberberg mit einem Kollegen die Leitung der pädagogischen Aufgaben übernehmen. Ich fühlte mich dem nicht gewachsen. Da habe ich überlegt, ob ich in Kauf nehme, dass sie mich rauswerfen.

Wallraff: Gab es einen Plan B?

Kammler: Ich hatte mich schon erkundigt, was ich verdiene, wenn ich bei Aldi an der Kasse arbeite. Aber Du hast bei all den Prozessen und Kampagnen sicher auch mal ans Aufhören gedacht, oder?

Wallraff: Ein paar Jahre nach „Ganz unten“ haben mich eine Prozesslawine, Anfeindungen und eine persönliche Lebenskrise so überrollt, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe, meinen eigenen Unfalltod zu simulieren. Ich hatte die Fantasie, bei Thyssen Kollegen aufzusuchen, man hätte Utensilien von mir am Hochofen gefunden. Ich hätte mich natürlich nicht umgebracht. Ich wäre bei einer Ethnie am Amazonas gelandet, dieser alte Jugendtraum. Ich hatte schon einen Stamm kontaktiert, der mich aufgenommen hätte.

Kammler: Du hast Dich immer mal wieder gemeldet und Rat gesucht. Du warst auch vor Deinen Ali-Recherchen bei mir im Kloster. Warum bist Du eigentlich an mir hängen geblieben?

Wallraff: Wahrscheinlich war es Deine Haltung – Du warst das Gegenteil von einem Streber und hast immer wieder kritische Fragen gestellt. Außerdem warst Du wie ich in den abstrakten Fächern wie Mathe schwach.

Kammler: Ich schwankte da zwischen vier und fünf. Du bist nach dem plötzlichen Tod Deines Vaters nach der Zehnten abgegangen.

Wallraff: Das ist so ein Trauma von mir. Bis vor zehn, 15 Jahren hatte ich immer wieder folgenden Albtraum: Ich sitze in einer Prüfungssituation in der Schule und weiß nichts. Die Rollen waren dann für mich wohl auch so eine Art Transformation. Die Kindheit holt einen immer wieder ein – da hilft keine Maske und kein Rollenspiel.

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