Mein VeedelLindenstraße-Darsteller Joris Gratwohl über das Leben am Waidmarkt

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Der Schauspieler Joris Gratwohl an der Einsturzstelle des Stadtarchivs, die nur wenige Minuten von seinem Zuhause entfernt liegt.

Der Schauspieler Joris Gratwohl an der Einsturzstelle des Stadtarchivs, die nur wenige Minuten von seinem Zuhause entfernt liegt.

Innenstadt – Joris Gratwohl gehört nirgendwo richtig hin. Nicht in die Südstadt, nicht in die Altstadt und irgendwie auch nicht in die City. Er wohnt mittendrin, ist aber trotzdem in keinem Veedel zu Hause. Bis zum Kaufhof auf der Hohe Straße oder zur Einsturzstelle des Stadtarchivs sind es für ihn nur wenige Gehminuten. Allerdings begegnet man dem 42-Jährigen selten gehend.

Wenn er sich nicht gerade joggend von einer Rheinbrücke zur nächsten arbeitet, ist er mit dem Rad unterwegs. Von daher kommt eigentlich auch nur ein Ort als Treffpunkt infrage: das Café Waidmeister am Waidmarkt. Schon die wie Geweihe wirkenden, lederbezogenen Lenker an der Wand deuten an, dass dort ein Velofahrer seine Leidenschaft verankert hat.

Holger Klos, der Besitzer, ist eigentlich Architekt, der unter anderem an der Projektentwicklung des gesamten Areals beteiligt war und zwischendurch Lust verspürte, mal etwas anderes als Projektentwicklung zu machen und somit einen gastlichen Ort schuf, in dem er unaufdringlich seine Liebe zum Pedalsport unterbrachte.

Wir sitzen mit Joris Gratwohl auf Barhockern am Fenster, trinken Kaffee von der Kölner Rösterei Heilandt und schauen zu der Stelle, wo früher das Kölner Polizeipräsidium war. Gratwohl kennt es sogar noch von innen, weil er dort mal einen Fahrraddiebstahl angezeigt hat. Mittlerweile sei ihm das fünfte geklaut worden. „Das ist echt ’ne lustige Leidensgeschichte“, meint der Mann, den man hierzulande vor allem als Reisebüroinhaber Alex Berend aus der „Lindenstraße“ kennt.

Joris, der „Landjunge“

In der „Lindenstraße“ wird man ihn in den kommenden Wochen besonders häufig zu sehen bekommen. Darüber hinaus kann man Gratwohl demnächst in der vierten Staffel der Schweizer Erfolgsserie „Der Bestatter“ erleben. Lustigerweise wurde dieses TV-Kleinod über einen ehemaligen Kriminalkommissar, der ein Bestattungsinstitut übernommen hat, genau in der Gegend gedreht, in der Gratwohl aufwuchs und in der seine Karriere als Fußballprofi endete.

Zwei Jahre war der gebürtige Schweizer beim FC Aarau als Mittelfeldspieler unter Vertrag. Nachdem er sich von 1995 bis 1999 in Zürich zum Schauspieler hatte ausbilden lassen, konnte man ihn aber auch bei uns noch einmal in der Rolle des Kickers erleben: In Sönke Wortmanns Kinofilm „Das Wunder von Bern“ spielte Gratwohl allerdings auf der Seite der Ungarn.

Der Vorname Joris kommt aus dem Niederländischen und bedeutet Landjunge. Das sei er ja nun auch, erklärt der 42-Jährige, dem der Wechsel seines Lebensumfeldes immer wieder beim Einatmen bewusst wird. „Wenn man vom Dorf kommt, ist das hier schon ’ne andere Nummer“, stellt er mit Bezug auf die Kölner Luft fest und erzählt von seinen Anfängen hier vor zehn Jahren.

Karneval ist „ziemlich cool“

Damals habe er „kein Schwein gekannt“ mit Ausnahme seines Kollegen Ingo Heise, mit dem er gemeinsam auf Theatertournee und praktisch zeitgleich nach Köln gezogen war. Bis dahin sei Köln für ihn absolutes Neuland gewesen. Seine Schwester und deren Mann hätten ihm damals mit dem Bully seine Sachen zu seiner ersten Wohnung – damals noch Elsassstraße – gebracht und „waren direkt wieder weg“. Das Allererste, was er wenig später bewusst wahrgenommen habe, sei der Barbarossaplatz gewesen. „Nicht so schön“, habe er damals gedacht.

Nach einer Phase des Sich-Orientierens fand er den Karneval schon mal „ziemlich cool“, zumal der Zug direkt bei ihm vorbeiging. Dann, nach seinem Umzug Richtung Hohe Pforte, lernte er andere Dinge schätzen: „Man ist sehr zentral und super schnell am Bahnhof oder in der Südstadt“, wo er gerne ausgehe. Fußgängerzonen wie die für ihn schnell erreichbare Schildergasse meide er hingegen. „Das ist mir zu viel da und zu voll.“ Wir blicken rüber zum Motel One am Waidmarkt, das Gratwohl schätzt. „Da weiß man, was man hat, und es ist preislich absolut okay“, urteilt der Schauspieler über die größte Kölner Niederlassung dieser rasant wachsenden Hotelkette.

Wir bewegen uns in die entgegen gesetzte Richtung, zur romanischen Kirche St. Maria im Kapitol schauen uns den schönen Innenhof an mit dem Friedhof, auf dem Opfer eines Bombenangriffs von 1945 begraben sind, und betrachten im vorderen Teil der Basilika Wandkritzeleien jüngeren Datums, in denen zum Beispiel um Beistand für ein Examen gebeten wird.

Dann passieren wir das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und schauen hoch zu dem tonnenschweren Wahrzeichen, das der Bildhauer Kurt-Wolf von Borries im Jahr 1957 geschaffen hat. „Den Ikarus mag ich sehr“, sagt Gratwohl mit Blick auf die Skulptur, die nach dem Einsturz des Stadtarchivs einmal mehr zum Wahrzeichen für Mut und Neubeginn geworden ist.

Anfangs sei es schon sehr bedrückend gewesen, sagt der Schweizer und berichtet, wie er den Tag der Tragödie erlebt hat. Als es passierte, sei er joggend unterwegs gewesen, und man habe ihn bei seiner Rückkehr zunächst gar nicht zu seiner Wohnung lassen wollen. Er selber sei im ersten Moment von einem Anschlag ausgegangen, weil überall so viel Polizei gestanden habe. „Richtig Schiss hatte ich nicht, weil ich ja nicht direkt dort wohne, aber die Anlieger hatten schon Angst, das hat man gespürt.“

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Die Ikarus-Figur am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium.

Joris Gratwohl hat kein Auto, das Fahrrad ist sein Hauptfortbewegungsmittel quer durch die Stadt und auch zu den Dreharbeiten für die Lindenstraße in Bocklemünd. Seit nunmehr 15 Jahren ist der Schweizer festes Mitglied der Serienfamilie – noch dazu eines, das schwere Schicksalsschläge verkraften musste.

Der Theaterschauspieler

Neben seiner Tätigkeit fürs Fernsehen spielt er Theater – und zwar sowohl in Deutschland als auch in seinem Heimatland. 2009/2010 schrieb er mit seinem Kollegen Ingo Heise das Theaterstück „Die glorreichen Zwei“, das später in Köln Premiere hatte. 2014 wiederum war er in der Schweiz in der Uraufführung einer großen Freilichtinszenierung „1476 – die Geschichte um die Murtenschlacht“ in der Hauptrolle des Adrian von Bubenberg zu sehen.

Wir nähern uns auf der Severinstraße dem Ort, den Gratwohl als Nahrungsquelle außerhalb der eigentlichen Südstadt schätzt. Es ist der erst zu Jahresbeginn eröffnete Thai-Imbiss von Hassan Coskun, einem freundlichen Mann, dessen Partnerin Dokwan Kocks die Gerichte zubereitet. „Gui Tieaw Pad Thai“, ein pfannengerührtes Gericht mir Sojasprossen, Erdnüssen, Lauch und Huhn oder Garnelen mag Gratwohl am liebsten.

Dann kommen wir zum Geschäft der Britin Lisa Salezius, was sich als wahres Eldorado erweist. Hier gibt es 16.000 Bastel- und Kreativartikel, Knöpfe, Garne, Haushaltswaren und Tausenderlei mehr. Gratwohl, der ein bisschen „aus Spaß malt“, deckt sich hier mit Farben ein oder kommt, wenn er kurzfristig ein Geschenk benötigt.

Unsere nächste Stippvisite erweist sich als ungeahnt lohnend. Weil es im letzten Jahr in Strömen regnete, hatte Gratwohl im Anschluss an seine Teilnahme am Dauerlauf im Severinsviertel seinen Preis nicht abgeholt. Dabei war er Fünfter geworden, wie Georg Herkenrath seinen Unterlagen entnehmen kann. Also schaut der Inhaber des Fachgeschäfts Dauerlauf, in dem sich der Schauspieler gelegentlich mit neuen Joggingschuhen eindeckt, noch mal ins Lager und fördert wenig später einen Rucksack zutage. Nur die Erbsensuppe, auf die Gratwohl am Tag der Veranstaltung ebenfalls Anspruch gehabt hätte, lässt sich nicht mehr löffeln.

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