50 Meter KölnSorge dich nicht, rede

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Die Frankfurter Straße in Mülheim (Archivbild)

Die Frankfurter Straße in Mülheim (Archivbild)

  • Die Läden auf der Frankfurter Straße 710 bis 716 sind die gleichen, seit der Riegel 1978 gebaut wurde: Apotheke, Gaststätte, Friseur, Blumengeschäft.
  • Die Geschäftsleute hören zu, wie die Ostheimer den Wandel erleben.

Ostheim – Die Läden, graupelzig von Abgasen, pulsierend vor Arbeit, sind die gleichen, seit der Riegel an der Frankfurter Straße 710 bis 716 im Jahr 1978 gebaut wurde: Apotheke, Gaststätte, Friseursalon, Blumenladen.

Die Vergangenheit ist noch da, der Fahrradständer mit dem Bild der jungen Gabriele Zimmer und der Dauerwellen-Werbung, verblichen zwar und kaum beachtet, trotz dem.

Der Klinker der Häuser, die abgewetzten Fliesen im Blumenladen, das Labor der Apotheke, die rustikalen Bänke der Gaststätte, die Kunden, früher im Mini mit toupierter Welle, heute stufig und gefärbt am Rollator, die meisten noch da.

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Gabriele Zimmer, die einst mit zwanzigeinhalb Jahren jüngste Friseurmeisterin von Köln war, geht es nicht gut, sie kann seit sechs Wochen nicht in den Salon kommen; ihr Mann hält die Stellung.

Gerd Zimmer ist Kaufmann, er hat in 40 Jahren im Friseursalon nie einen Kopf frisiert. Dafür hört er sich jede Geschichte an und fährt die Autos selbst zum Parkplatz – die Kunden geben ihm den Schlüssel. Die alten Menschen, die es nicht mehr allein unter die Trockenhaube schaffen, holt er zu Hause ab.

„Der Friseur entlastet, der Friseur ist gut für die Gesundheit, das gilt heute noch mehr als damals“, sagt Zimmer. „Es kann kaum noch einer zuhören, wir schon.“

Was sich verändert habe? Dauerwellen gebe es kaum mehr, früher warf der Vertriebler alle zwei Wochen 144 Dauerwellen in den Laden, dafür heute viel Farbe und Strähnchen. „Die Menschen wollen alt werden, aber nicht alt aussehen.“ Das sei doch nachvollziehbar! Er lacht.

„Jeder will halt was hermachen. Und die Alten müssen mehr dafür tun. Sie haben allerdings weniger Geld. 1200 Euro Durchschnittsrente, 1200 Euro!“

Sorge dich nicht, rede!

Gerd Zimmer ist 72, er trägt volles, sorgfältig frisiertes Haar, hat einen sanften Blick, täglich steht er zwischen 8.30 und 18.30 Uhr im Laden, es halte ihn jung, sagt er, und redet über Ernährung: Jeden Morgen drei Kiwis, höchstens einmal pro Woche Fleisch, Wurst nie, „weil: Da ist nur Schrott drin“.

Die goldenen Zeiten plätschern plaudernd vorbei, der Zimmer’sche Herrensalon, in dem jetzt ein russisches Lebensmittelgeschäft beheimatet ist, die 17 Angestellten, von denen neun geblieben sind, die Konkurrenz gegenüber, Türken, die einen Haarschnitt für acht Euro anböten, „das können wir nicht“.

Zimmer ist ein Mensch mit einem gewinnenden Wesen. Er sagt: „Bei neuen Kunden entscheiden die ersten zehn Sekunden, ob sie bleiben. Bei uns sind fast alle geblieben.

Ich habe die Bücher »Wie gewinne ich einen Freund?« und »Sorge dich nicht, lebe« gelesen, man muss schon wissen, wie es geht.“ Eine seiner wichtigsten Regeln: Jeder will von sich erzählen. Darf er, soll er. Sorge dich nicht, rede!

„Bei Blumen macht mir keiner was vor“

Manfred Becker, wie die Zimmers am Ort, seit der Gebäuderiegel steht, will zunächst nicht reden, er habe zu tun, dann erzählt er doch, und taut auf wie ein Schneeglöckchen in der Wintersonne.

Manfred Becker fährt jeden Morgen um 6 Uhr zum Blumenmarkt, um 18.30 Uhr schließt er ab, samstags arbeitet er bis mittags, spezialisiert auf: Trauerkränze. Dass er mit seinen 75 Jahren nicht an Rente denkt, ja für ihn feststeht, „dass ich arbeite, bis ich umfalle“, liegt am plötzlichen Tod seiner Frau vor acht Jahren. „Wir hatten beschlossen, aufzuhören, danach war das kein Thema mehr. Ohne die Arbeit wäre ich längst bei ihr. Der Laden fängt mich auf.“

Becker hat Fotoalben aus dem Regal genommen und kommt ins Rollen: Bilder mit seinem Freund Jean Löring, dem verstorbenen Mäzen von Fortuna Köln, Bilder von der Aufstiegsfeier der Fortuna 1973, 1. Bundesliga, Becker schmückte das Vereinslokal mit 25.000 Nelken. Er sagt: „Klar, im Kölner Klüngel war ich gut vernetzt.“

Und: „Bei Blumen macht mir keiner was vor.“ Früher habe es nur die gegeben, die gerade blühten, dann kamen die Nelken aus Italien, inzwischen vieles im Flugzeug aus Afrika. Wie zum Trotz bietet er Äpfel aus der Region an. „Und zwar dann, wenn sie reif sind und schmecken.“ Wenn er von Wandel reden soll, fällt ihm seine Frau ein, die weg ist, und seine Freundin, die er seit vier Jahren hat, gut gegen die Einsamkeit, „aber wir leben getrennt, mich krempelt keiner mehr um“.

Sein Nachbar Gerd Zimmer – man kennt sich, das reicht – redet von der Bahnhaltestelle, die lange vor der Haustür hielt und inzwischen auf der anderen Straßenseite, 12.000 Pendler pro Tag spucken die Bahnen hier aus, tägliches Friseurgespräch sei das Flüchtlingswohnheim ein paar Meter weiter, die Angst vor den Unbekannten.

„Die hat zwar ein Kopftuch, ist aber voll ok“

Die Silvesternacht spukt auch in der Frankfurter Straße in vielen Köpfen wie ein unerbetener Geist. Zimmer kommt beiläufig auf Nalan Uslu zu sprechen, die Apothekerin, „die hat zwar ein Kopftuch, ist aber voll ok, eine super Frau“, sagt er.

Die mit kleinem „aber“ versehene super Frau begrüßt mit einer Umarmung eine Dame mit hennarotem Schopf, die Uslu zu deren Notdiensten schon mal Pizza oder Kuchen bringt.

Frau Uslu ist eine außergewöhnliche Frau, nicht nur, wenn man Klischees wie „Kopftuch steht für Unterdrückung“ im Kopf hat: Sie hat in Istanbul (ohne Kopftuch zu tragen) studiert, ist mit ihrem Mann nach Köln gegangen, weil der einen Job als Industriemeister bei Ford fand, hat drei Kinder großgezogen, machte mit Ende 30 ihre Approbation und arbeitet seit 2008 als Pharmazeutin.

Vor eineinhalb Jahren hat sie die Königs-Apotheke übernommen: „In dieser Zeit ist Köln mehr zu meiner Heimat geworden als in den 23,5 Jahren vorher.“

Zu ihr kommen viele alte Ostheimer, wie zum Friseur, wie zum Blumenhändler, wie in die Schwarzwald-Stube, 80 Prozent Deutsche, „davor hatte ich Angst. In Kalk, wo ich vorher gearbeitet habe, habe ich fast nur Türkisch gesprochen“.

Die 48-Jährige würde nicht in der Schwarzwald-Stube einen Rostbraten essen, das verbietet ihr Glaube. Sie will nicht überall dazugehören, aber dass Köln jetzt ihre Heimat ist, findet sie schön.

Sie ist dankbar, die Apotheke zu führen. Hier fühlt sie sich geborgen, auf der Straße nicht immer: Da wird sie schon mal beschimpft und aufgefordert, in „ihr türkisches Dorf“ zurückzugehen; körperlich angegriffen wurde sie auch schon. Draußen entlädt sich an Nalan Uslu Empörung und Angst – „in der Apotheke ist es zivilisierter, ich bin hier die Chefin, das gibt Sicherheit“.

Auch hier sagte ihr schon eine Kundin, sie sei eine kluge Frau, sähe aber aus wie eine Bäuerin. Eine andere sagte, wenn sie das Kopftuch nicht abziehen, werden sie viele Kunden verlieren, auch mich. Einige fragten: Müssen sie das tragen? Nein, tue sie nicht, sagt Frau Uslu dann, ich fühle mich einfach wohler so.

Sie betet, wie es der Koran vorschreibt, und freut sich, „von eigentlich allen angenommen zu werden“. Sie wolle Menschen helfen, sagt sie. Ob Juden, Armenier, Deutsche, AfD-, SPD-, Gülen- oder Erdogan-Anhänger zu ihr kämen, das spiele keine Rolle.

Wegen ihres Glaubens bietet sie auch all den gesundheitsesoterischen Nippes nicht an, der in vielen Apotheken zu finden ist und dem Ruf der Zunft nicht unbedingt nützt.

Zum Kopftuch sagt sie: „Ich kann die Kritik auch verstehen. Es ist ja so, dass viele Frauen von Einwanderern nicht die gleichen Rechte haben. Und es gibt Frauen, die nicht freiwillig das Kopftuch tragen. Aber nicht alle. Man muss reden. Und ich bin froh, dass meine Kunden das mit mir tun.“

Uslu kommt ihre Offenheit zu Gute, und ihre Empathie: Anfangs habe sie die Namen der Kunden nicht gewusst, „ich habe mir dann Zettel mit den Namen und Merkmalen geschrieben, um sie wiederzuerkennen“. Heute kennt sie alle.

„Unsere Gäste wissen, was sie an uns haben“

Der Laden fängt sie auf, das gilt für Nalan Uslu wie für Gerd Zimmer und Manfred Becker, und auch für Eva von Ahn und Matthias Hannappel, die seit sieben Jahren die Schwarzwald-Stube zwischen Apotheke und Friseur führen, mit selbstgemachten Spätzle, Flädlesuppe, Weinen vom Kaiserstuhl und Tannenzäpfle-Bier.

Von Ahn kommt aus Baden-Baden und wollte aus einem zuvor sehr kölschen Gasthaus mit viel Tresenbetrieb ein Restaurant mit guter Küche machen, Hannappel war 25 Jahre Rechtsanwalt und nicht unglücklich, als seine Partnerin ihn fragte, ob er mit einsteigen wolle.

Bescheiden und ein bisschen stolz sprechen sie über ihr Lokal, die Zinnkrüge und Holzfiguren, die karierten Deckchen und rustikalen Bänke strahlen unerschütterliche Bürgerlichkeit aus. Der Mittelstand mag draußen ins Wanken geraten, hier nicht. „Unsere Gäste wissen, was sie an uns haben“, sagt Eva von Ahn. Sie spricht von Zuverlässigkeit, Vertrauen und Qualität, die Sätze könnten auch von Gerd Zimmer, Manfred Becker oder Nalan Uslu stammen.

Tugenden bleiben also gefragt, vielleicht sind sie gefragter denn je, ob sie typisch Deutsch oder typisch Kölsch oder typisch Christlich oder Muslimisch sind, ist nicht die Frage.

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