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Karneval im NSNarrenchef mit tiefbrauner Weste

Lesezeit 7 Minuten
Thomas Liessem zu Pferde im Zoch von 1936. Der Kölner Karnevalsfunktionär marschierte im Gleichschritt mit den Nationalsozialisten.

Thomas Liessem zu Pferde im Zoch von 1936. Der Kölner Karnevalsfunktionär marschierte im Gleichschritt mit den Nationalsozialisten.

Köln – Als "großen Sohn dieser Stadt" würdigte Oberbürgermeister Theo Burauen (SPD) 1973 den gerade verstorbenen Karnevalsfunktionär Thomas Liessem. Der langjährige Präsident des Festkomitees hatte sich sogar als Widerstandskämpfer feiern lassen - doch diese Legende hatte mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun. In Liessems Amtszeit fielen die schlimmsten Verfehlungen, die sich der Kölner Karneval je zuschulden kommen ließ. Thomas Liessem war die zentrale Figur des Kölner Karnevals seit 1935. Und er ist nachweislich bereits 1932 in die NSDAP eingetreten, er hatte die Mitgliedsnummer 544477.

Liessem, geboren am 9. September 1900, stammte aus kleinen Verhältnissen, seine Lehrjahre als Konditor wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen; 1919 absolvierte er eine kaufmännische Lehre und machte sich anschließend als Likörfabrikant selbstständig. Seit Mitte der 20er Jahre war er als Generalvertreter deutscher und ausländischer Markengetränke und als Biergroßhändler tätig.

Mit dem Karneval war er schon früh in Berührung gekommen, er hatte 1923 als Büttenredner erstmals auf sich aufmerksam gemacht; 1925 wurde er zum Vorsitzenden der neugegründeten "Kleinen Kölner Karnevalsgesellschaft" gewählt. Als die Prinzengarde sich 1929 nach einem neuen Präsidenten umsah, trug man ihm das Amt an.

Gut Freund mit NS-Größen

Damit gehörte er schon mit 29 Jahren dem Führungskreis des organisierten Karnevals an. Doch erst im Verlauf der sogenannten "Narrenrevolte" stieg er zur unumschränkten Galionsfigur der Jecken auf.

In einer Auseinandersetzung mit NS-Funktionär Wilhelm Ebel verhinderte Liessem die „Gleichschaltung“ des Karnevals. Dabei nutzten die Karnevalisten offensichtlich Konkurrenzkämpfe innerhalb der NSDAP geschickt aus und zogen den mächtigsten Mann des Rheinlands, NS-Gauleiter Josef Grohé, auf ihre Seite. Seither hielt Grohé seine schützende Hand über die Narren; nach Angaben von Arnold Unkelbach, der Jungfrau von 1935, hätten sich Grohé und Liessem „sehr gut verstanden"“. In seiner Dissertation schreibt der Historiker Marcus Leifeld, Liessem habe "in Abstimmung mit Gauleiter Grohé" die Regie im Karneval übernommen.

Die "Narrenrevolte" war indes keinesfalls eine Aktion gegen das NS-Regime oder die NS-Ideologie - man hatte sich lediglich gegen die institutionelle Vereinnahmung durch die NSDAP und ihre Untergliederungen gewehrt. Inhalte hatten nicht zur Diskussion gestanden, es ging den Narren allein darum, ihre organisatorische Eigenständigkeit zu erhalten.

Im Gleichschritt mit dem Gauleiter

Von 1935 an marschierten Narrenchef Liessem und NS-Gauleiter Grohé im Gleichschritt. Als Dank für die Gewährung formaler Unabhängigkeit folgte seitens des neuen Festausschusses ein Akt der Willfährigkeit nach dem anderen. Zugleiter war damals Carl Umbreit, Präsident bei den "Kölnischen Rheinländern" und bei der Großen Allgemeinen; über ihn urteilte 1948 der Entnazifizierungsausschuss, er sei ein "überzeugter Nazi" gewesen. Mitglied des Festausschusses war auch Fritz Maaß, Vorsitzender des Festkomitees bis Anfang 1934. Er hatte als Erster die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern signalisiert; in die NSDAP trat Maaß im Juli 1937 ein.

Bereits im Rosenmontagszug von 1936 - der erste, für den Liessems Festausschuss allein zuständig war - fuhr einer der perfidesten Wagen mit, der je im Kölner Karneval präsentiert wurde: Er nahm Bezug auf die Nürnberger Rassengesetze - und verhöhnte die entrechteten und ausgegrenzten Juden: "Dem haben sie auf den Schlips getreten", lautete die zynische Parole.

Antisemitische Parolen im Rosenmontagszug

Fortan gab es keinen Rosenmontagszug, in dem nicht Bankiers, dargestellt mit langen Bärten, als Bestandteil des "internationalen Finanzjudentums" bloßgestellt wurden. Vor allem im Rosenmontagszug 1938, nach Liessems Ideen von Carl Umbreit zusammengestellt, wurde unter dem Motto "Die Welt im Narrenspiegel" die NS-Außenpolitik nicht persifliert, sondern propagandistisch unterstützt.

So machte man sich über den Völkerbund und Stalins Säuberungen lustig, die Rückgabe der Kolonien wurde gefordert ("un mer krigge se doch"), und auch der antisemitische Festwagen fehlte nicht: Hinter der Fußgruppe der Löstigen Sölzer ("Ortsgruppe Tel Aviv") verspottete man - in Anlehnung an Nietzsches Wort vom modernen Diogenes: "Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben" - wieder mal die Juden, die lediglich Kamele suchten.

Der Festausschuss intensivierte, unterstützt von der Partei, durch verschiedene Neuerungen die "Vermarktung" des Karnevals. So fand 1936 erstmals eine Rundfunksitzung "Kölle Alaaf" statt, die deutschlandweit übertragen wurde. Die nachhaltigste Neuerung war aber die von Liessem initiierte Prinzenproklamation, die erstmals am 20. Februar 1936 stattfand. Bis dahin waren die Amtseinführungen der Dreigestirne eher bescheiden zelebriert worden.

Natürlich saßen bei Prinzenproklamationen und Sitzungen Parteibonzen, aber auch Wehrmachtsgeneräle in der ersten Reihe, allerdings in Zivil - es war verboten, in Uniform aufzutreten, weil man NS-Symbole nicht im Rahmen närrischer Festlichkeiten sehen wollte. Auch von Gauleiter Grohé gibt es keine Aufnahmen, die ihn als Funktionsträger zeigen, wenn er sich unters jecke Volk mischte.

Aus für männliche Mariechen

Auf Wunsch der Nazis kam dann das Aus für die bislang männlichen Funken- und Tanzmariechen - seit 1936 schlüpften echte Mädchen in deren Trikots, eine Folge des NS-Feldzugs gegen Homosexualität. Hans Honnef, das letzte männliche Mariechen der Roten Funken, soll mit seiner Degradierung sehr gehadert haben. 1938 und 1939 wurden sogar die traditionell männlichen Jungfrauen des Trifoliums durch junge Frauen ersetzt, die die "Deutsche Arbeitsfront" ausgesucht hatte. Gegen diese - aus Sicht vieler Narren - eklatanten Traditionsbrüche setzte der Festausschuss keine "Revolte" in Gang.

Im Gegenteil: 1939 konnte Liessem das Verhältnis der Karnevalisten zum NS-Regime so charakterisieren: "Seit der Machtübernahme hat das vaterstädtische Fest viel Unterstützung durch Behörden und Partei erfahren; insbesondere sind es die Oberbürgermeister seit 1933, die dem Fest ihre volle Unterstützung angedeihen ließen." Umgekehrt schrieb etwa NS-Oberbürgermeister Günter Riesen 1936 an Liessem, ihm sei es zu verdanken, dass der Karneval wieder ein "von echtem Gemeinschaftsgeist getragenes bodenständiges Volksfest" sei.

Nach 1945 diente vor allem die "Narrenrevolte" immer wieder als Beleg für die Repressionen, denen der Karneval seitens des NS-Regimes ausgesetzt gewesen sein sollte - und für den "Widerstand", den man geleistet habe. In seiner Autobiografie berichtete Liessem immerhin, die Partei habe "einige Wagen mit antisemitischen Parolen aus den Veedelszöch in den Rosenmontagszug einschleusen" wollen. Später hätte die SA "zu unserem Leidwesen" solche Wagen immer wieder an den Zug gehängt.

Richtig ist, dass bereits im Rosenmontagszug 1934, der noch unter der Regie des Verkehrsvereins durchgeführt worden war, der sogenannte "Palästina"-Wagen ("Die Letzten ziehen ab") mitfuhr. Doch seit 1936 konnten Liessem und seine Mitstreiter allein bestimmen, welche Festwagen wie gestaltet wurden - in keinem Zoch fehlten nun antisemitische Motive, da musste die SA nicht eingreifen.

Langjähriger Präsident der Prinzen-Garde

Nach Ende des Krieges verhängte der Hauptausschuss der Entnazifizierungsstelle Köln zunächst ein Redeverbot und ein Verbot der öffentlichen Betätigung gegen Liessem. In der Berufungsverhandlung, die der Funktionär anstrengte, wurde schließlich im Dezember 1947 festgestellt, dass er keine "führende Stellung in den Kölner Karnevalsgesellschaften" einnehmen dürfe, auch wenn er, so der Ausschuss, "im wesentlichen aus geschäftlichen Interessen der Partei beigetreten" sei.

So musste Liessem als Vorsitzender des Festausschusses zurücktreten - seine karnevalistische Karriere war damit aber keineswegs beendet. Liessem übernahm schon 1954 wieder unangefochten den Vorsitz im Festkomitee; die Prinzen-Garde, deren Präsident er bis 1963 war, feierte ihn noch 2006 als den Mann, der die Garde zum "führenden Korps innerhalb des Kölner Karneval" machte.

Liessems Sohn Werner ist heute 78 Jahre alt. Er verwaltet das Archiv seines Vaters. Nach mehreren Beiträgen zur Rolle des Karnevals in der NS-Zeit in dieser Zeitung hat er sich zu Wort gemeldet und dem "Kölner Stadt-Anzeiger" sein Archiv geöffnet. Das er seinen Vater in Schutz nimmt, ehrt ihn. Doch Liessem jr. verlässt sich in seiner Argumentation nur auf die Erzählungen des Vaters - und Thomas Liessem, man muss es leider so sagen, hat es mit der Wahrheit über die NS-Jahre auch in seiner Autobiografie nicht so genau genommen: Allzu oft hat er die Fakten in seinem Sinne beschönigt, wenn nicht gar verdreht. Zeit seines Lebens kam er damit durch.

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