ProzessbeginnOpfer verzeiht Kölner „U-Bahn-Schubser“

Lesezeit 3 Minuten
Symbolbild.

Symbolbild.

Dass ein Opfer eines Kapitalverbrechens dem Täter die Hand reicht und ihm sogar noch vor Prozessbeginn die Chance eröffnet, geständig, reuevoll und verantwortungsbewusst mit dem Geschehen umzugehen, ist eher die Ausnahme. Gleichwohl geschehen im Prozess vor dem Schwurgericht, in dem sich seit gestern jener 50-jährige Mann wegen versuchten Totschlags zu verantworten hat, der im August dieses Jahres als „U-Bahn-Schubser“ Schlagzeilen machte.

Die schlaksige, hochgewachsene und deutlich jünger wirkende Frau (36) macht auch im Zeugenstand keinen Hehl aus ihrer Sicht der Dinge: „Er hat mit mir das wohl bestens vorbereitete Opfer getroffen, das man je finden kann“, sagt die Journalistin und verweist auf ihren Beruf als Mediatorin, dem sie es verdanke, die schreckliche Todesangst, den lähmenden Schock, den sie damals erlitt, weitestgehend verarbeitet zu haben: „Es ist eine reichlich merkwürdige, aber nicht mehr belastende Erinnerung.“

Angeklagter auf Droge

Sie war auf dem Weg zur Arbeit, wartete in der U-Bahn-Station Fuldaer Straße in Höhenberg nachmittags auf die Bahn, als ihr der Angeklagte mit den überdimensionalen Kopfhörern, aus denen lautstark die Beats dröhnten, mit eindeutigem Anmach-Manöver entgegenrief: „Geile Beine.“ Weil er ihre ablehnende Haltung ignorierte und immer aufdringlicher wurde, hatte sie Klartext – „Halt die Fresse“ – gesprochen.

Im Zeugenstand erklärte sie ihre Haltung überaus reflektierend, gerade heraus und nichts beschönigend: „Sexistische Bemerkungen im Alltag regen mich nun mal auf. So etwas lasse ich mir grundsätzlich nicht gefallen und wehre mich.“ Der Angeklagte, der damals auf Droge war und seit Jahren mit einem Alkoholproblem belastet ist, hatte sein Opfer daraufhin unvermittelt am Hals gepackt und ins Gleisbett geschubst.

Weil sie sich in ihrer Not an ihn klammerte, war er ebenfalls auf die Gleise gefallen – unmittelbar vor die herannahende Straßenbahn, die 13 Meter vor dem Tatort zum Stehen kam. „Ich hörte es klingeln und dachte nur, 'Bremsen, Mann, nicht klingeln. Das darf doch wohl nicht wahr sein, jetzt wirst du überfahren'“, erinnerte sich die Mediatorin, die sich noch unter Schock stehend bei den am Bahnsteig wartenden Fahrgästen beschwerte: „Warum hilft mir denn keiner? Ich wäre fast gestorben.“

3000 Euro Schmerzensgeld

Dass sie sich eine Woche vor Prozessbeginn mit dem Angeklagten an einen Tisch setzte, um im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs mit ihm ins Gespräch zu kommen, um zumindest ansatzweise zu verstehen, was da geschah, sei für sie ein wichtiger und notwendiger Schritt gewesen: „Es war gut zu sehen, dass es ihm leid tut, dass er sich Vorwürfe macht und dass er willens ist, an sich zu arbeiten.“ Sie hatte lediglich die Kosten für die Traumatherapie, 450 Euro, von ihm haben wollen, doch Gerd S. (Name geändert) zahlte freiwillig 3000 Euro Schmerzensgeld.

Was geschehen ist, sei „nicht entschuldbar“, wiederholte ein sichtlich reumütiger Angeklagter im Gerichtssaal. Er sei erst eine Woche zuvor aus einer Entziehungsklinik entlassen worden. Die dort verabreichten Medikamente gegen Wahnvorstellungen habe er eigenmächtig abgesetzt.

Dass er ein Alkoholproblem hat, habe seine damalige Ehefrau – die Ehe hielt gerade mal zwei Jahre – bereits vor knapp 30 Jahren erkannt. Trotzdem machte er eine Ausbildung zum Verkäufer, arbeitete bei der Post und jahrelang bei einer Brauerei, und schaffte nach einer dreijährigen Ausbildung zum staatlich geprüften Altenpfleger sein Examen. Er habe die Unterstützung seiner drei Geschwister.

Am Tattag sei er auf dem Weg zum Grabe seiner Eltern in Kalk gewesen und habe dort Kerzen aufstellen wollen, als es in der U-Bahn zu dem folgenschweren Geschehen kam. Der Prozess wird am 11. Januar fortgesetzt.

KStA abonnieren