Kölner TurnhallenSo sieht es wirklich in den Flüchtlingsunterkünften aus

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Blick in eine zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierte Turnhalle.

Blick in eine zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierte Turnhalle.

  • Experten fordern angesichts der langen Nutzungsdauer von Turn- oder Leichtbauhallen, dass dringend nachgebessert werden muss.
  • Die Helfer benötigen Fortbildungen und Supervision, um auf Notfälle entsprechend vorbereitet zu sein.

Köln – „Viele Kinder fürchten sich vor der Security. Die Sicherheitsleute laufen nachts durch die Reihen und leuchten den Menschen mit Taschenlampen ins Gesicht. Einer hat meinen kleinen Bruder am Ohr gezogen und ihn angeherrscht, dass er endlich ruhig sein soll. Doch oft kann man gar nicht schlafen, weil es in der Halle so laut ist. Babys weinen oder es gibt Streit.“ Was die 16-jährige Chahd und andere Flüchtlinge im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ schildern, zeigt, wie schwierig das Leben in den Massenunterkünften auf Dauer ist – und wie inkompatibel gerade auch mit den Bedürfnissen von Kindern. Seit über fünf Monaten lebt Chahd aus Syrien mit ihrer Familie in einer Kölner Turnhalle, zusammen mit 200 weiteren Flüchtlingen. Ohne Privatsphäre, ohne jeglichen Sicht- und Lärmschutz. Wann sie die Halle verlassen kann? Sie weiß es nicht.

Aus der Notunterkunft Turnhalle ist in Köln längst ein Dauerprovisorium geworden. Erst jüngst hat die Stadt angekündigt, die Hallen teilweise noch bis ins kommende Jahr zu nutzen. Das ist katastrophal für Schulen und Sportvereine, aber auch für die Flüchtlinge. „Eine Notunterbringung ist für einige Wochen vertretbar, über Monate oder gar Jahre ist sie für die betroffenen Menschen unzumutbar und eine psychische Katastrophe“, kritisiert Peter Krücker, stellvertretender Sprecher des Runden Tisches. Vor allem die Lage der Kinder sei dramatisch. „Die Eltern können die Kinder eigentlich keinen Moment unbeaufsichtigt lassen, dazu ist die Gefahr bei so vielen unbekannten Menschen viel zu groß.“ Die Stadt müsse deutlich schneller Alternativen schaffen.

16,4 Millionen Euro mehr als geplant kosten Brandschutz und Bewachung der Unterkünfte, 19 Millionen Euro mehr Verpflegung, Betreuung, Reinigung.

16,4 Millionen Euro mehr als geplant kosten Brandschutz und Bewachung der Unterkünfte, 19 Millionen Euro mehr Verpflegung, Betreuung, Reinigung.

Ursula Enders von der Beratungsstelle „Zartbitter“ nennt das, was in Massenunterkünften alltäglich ist, gar „strukturelle Kindeswohlgefährdung“. „Es gibt zu wenig Bildung, keine Förderung, kaum Spielmöglichkeiten. Kinder werden Zeuge von Gewalt und sexuellen Handlungen – wenn nicht sogar deren Opfer.“ Ein Insider, der anonym bleiben muss, sagt: „Wird das Kindeswohl derart missachtet, schreitet normalerweise das Jugendamt ein. Doch für Flüchtlingskinder gelten andere Standards.“

Experten fordern angesichts der langen Nutzungsdauer von Turn- oder Leichtbauhallen, dass dringend nachgebessert werden muss. Der Runde Tisch für Flüchtlingsfragen hat zusammen mit der Verwaltung nun einen Katalog von Mindestanforderungen für die Flüchtlingsunterbringung vorgelegt (siehe „Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte“). Wie weit die Stadt in den Turnhallen derzeit davon entfernt ist, zeigt eine Darstellung von „Zartbitter“. Ursula Enders hat Sporthallen besucht und mit Kindern, erwachsenen Flüchtlingen, aber auch mit Mitarbeitern gesprochen. Das Dokument liest sich wie ein Realitäts-Check, der die prekäre Lage von Kindern in den Hallen zeigt.

Enders fordert ein verbindliches Kinder- und Gewaltschutzkonzept für alle Flüchtlingsunterkünfte. „Die Einrichtungen brauchen Dienstanweisungen und einen Notfallplan, wie sie bei gewalttätigen, seelischen oder sexuellen Übergriffen zu handeln haben.“ Und die Mitarbeiter benötigen Fortbildungen und Supervision, damit sie diese auch erkennen können. Forderungen, die auch der Flüchtlingsrat seit langem erhebt.

Konflikte

„Oft ist die Polizei da. Es kommt zu Schlägereien wegen Nichtigkeiten – und die Kinder bekommen das alles mit.“ (Jean)

Der 33-jährige Jean aus Syrien berichtet im Gespräch mit dem „Stadt-Anzeiger“ von beinah täglichen Polizeieinsätzen. So seien einem Bewohner in der Halle, in der er mehr als vier Monate lebte, 50 Euro gestohlen worden. Der Bestohlene beschuldigte seinen Nachbarn, es kam zum Streit. „Die Polizei hat alles durchsucht, aber nichts gefunden. Von da an haben sich die beiden Männer fast jeden Tag geprügelt.“ In einem anderen Fall kam es zu Schlägereien zwischen Jugendlichen, weil die eine Gruppe Schulbücher hatte und Deutsch lernen durfte, die andere aber nicht. Die Nerven lägen bei vielen Flüchtlingen blank, manche seien psychisch völlig fertig.

Wie sich der Lagerkoller auf die Kinder auswirkt, beschreibt Susanne Rabe-Rahman von der Caritas so: „Viele Kinder entwickeln sich zurück, werden wieder zu Bettnässern, haben Angst, allein zur Toilette zu gehen, weil die oft außerhalb der Hallen liegen.“

Schule

„In unserer Halle gibt es sehr viele Kinder, die nicht in die Schule gehen. Auch mein Bruder sitzt den ganzen Tag in der Halle und kann kein Deutsch lernen.“ (Chahd)

Nach Angaben der Stadt wird jedem in Köln gemeldeten Kind im schulpflichtigen Alter in der Regel innerhalb von sechs Wochen ein Schulplatz vermittelt. Allerdings komme es immer wieder vor, dass die Schreiben der Stadt nicht bei den Familien in den Hallen ankommen oder von diesen nicht verstanden werden. „Dann ist die Heimleitung angehalten, uns so schnell wie möglich zu informieren“, sagt Carolin Kirsch vom Schulamt. Das aber, so zumindest die Beobachtung von Zartbitter, scheint unterschiedlich gut zu funktionieren. „Ich war in Hallen, da war morgens kein Kind zu sehen. In anderen dagegen lungerten die Kinder den ganzen Tag herum“, so Ursula Enders. Eine Beobachtung, die auch Susanne Rabe-Rachman von der Caritas bestätigt. Ihr Eindruck: Solange die Kinder in einer Notunterkunft leben, dringe die Stadt nicht unbedingt darauf, weil die Kinder nach einem Umzug in eine andere Unterkunft unter Umständen dann noch mal die Schule wechseln müssten. Dies könne in machen Fällen begründet sein, in anderen seien die Folgen verheerend. Rabe-Rachman hatte in ihrer Beratung eine Familie mit vier Kindern im Alter zwischen sechs und 13 Jahren, von denen noch keines jemals eine Schule von innen gesehen hatte. „Die Familie war jahrelang auf der Flucht, seit sechs Monaten nun in Deutschland, und noch immer hatte kein Kind einen Schulplatz.“ Zartbitter bewertet das als eklatanten Verstoß gegen das Recht auf Bildung und die bestehende Schulpflicht.

Spielangebote

„In unserer Halle gibt es einen Geräteraum mit Spielen, aber der ist meistens abgeschlossen. Nur ein- bis zweimal in der Woche kommt jemand und öffnet den Raum.“ (Julia)

„Die Kinder dürfen ihre Energie nicht rauslassen“, ergänzt Jean. „Wenn es zu laut wird, schreitet der Sicherheitsdienst ein und dann ist Schluss.“ Langeweile und kaum Spielzeug: Das sind nach Angaben von Ursula Enders die Hauptkritikpunkte, die Flüchtlingskinder im Gespräch mit Zartbitter immer wieder nannten. Dass es in den meisten Hallen keine eigenen Spielbereiche gibt, bestreitet auch die Stadt nicht. Man versuche, mit ehrenamtlichen Angeboten das Beste aus der Situation zu machen, so Josef Ludwig, Leiter des Wohnungsamtes. Davon abgesehen sind die Wahrnehmungen allerdings sehr unterschiedlich: Spielzeug wird außerhalb der regulären Betreuungszeiten weggeschlossen; eigene Sachen besitzen die Kinder kaum – sagt Zartbitter. „Ich habe noch nie einen Mangel an Spielsachen in den Hallen erlebt“, erklärt dagegen Ludwig.

Das DRK als Betreiber der Hallen spricht von täglicher Kinderbetreuung zwischen 10 und 17 Uhr, von Kino-Angeboten und Anti-Aggressions-Trainings in einem Box-Raum. Bei Besuchen war das offiziell stattfindende Angebot nach Angaben von Enders jedoch geschlossen, das Kino erwies sich als eher trostlose Fernsehvorführung und der Box-Raum als abgeteiltes Ende eines Flurs, in dem ein Boxsack hing. „Warum fördert man nicht die Eigeninitiative von Eltern, die selbst eine Spielzeugausgabe organisieren wollen?“, kritisiert Claus-Ulrich Prölß vom Flüchtlingsrat.

Sexuelle Übergriffe

„Ein männlicher Flüchtling hat sich extra das Bett neben uns ausgesucht, damit er uns beobachten kann. Manchmal macht er uns an.“ (Chahd und Julia)

Auch in Kölner Notunterkünften hat es in den vergangenen Monaten sexuelle Übergriffe auf Kinder gegeben, bestätigt Hans-Peter Völlmecke vom Jugendamt. So habe sich ein 16-Jähriger an einem sechsjährigen Jungen vergriffen. Der Täter sei in U-Haft gekommen und werde seit der Entlassung im kriminalpräventiven Jugendprojekt „Klarkommen“ betreut. In einem anderen Fall wurde Anzeige erstattet, weil zwei Jugendliche drei kleinere Kinder missbraucht haben sollen. Die Familie mit den tatverdächtigen Mädchen sei in eine andere Turnhalle verlegt worden, wo sie seither vom Jugendamt betreut würden. Zartbitter kritisiert die Vorgehensweise heftig: „Dass übergriffige Jugendliche erneut in einer Massenunterkunft untergebracht werden, geht aus fachlicher Sicht gar nicht“, so Enders. Auch jenseits solch drastischer Vorfälle stelle der Mangel jeglicher Privatsphäre gerade für junge Mädchen ein großes Problem dar. Kinder würden dadurch zudem ungewollt Zeuge von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen.

Fachleute kritisieren seit langem, dass keinerlei Standards im Umgang mit solchen Vorfällen definiert wurden. Erst als Reaktion auf die Übergriffe will die Stadt jetzt ein verbindliches Verfahren erarbeiten. Dieses sieht unter anderem vor, dass Übergriffe vom Betreiber der Unterkünfte ans Jugendamt gemeldet werden müssen. Allerdings soll die Vereinbarung frühestens im Herbst greifen, auch die notwendigen finanziellen Mittel sind noch nicht gesichert.

Personalsituation

„Ich weiß nicht, wie ich mich beschweren kann, wenn etwas nicht gut läuft. In der Halle haben wir nur mit der Security zu tun. Man braucht einen guten Draht zu einem Sicherheitsmitarbeiter, der macht dann einen Termin bei der Heimleitung.“ (Jean)

Für die Häufigkeit von Konflikten und Gewalt machen Fachleute, neben der fehlenden Privatsphäre, vor allem auch die unzureichende Personalausstattung verantwortlich. „Die Sozialarbeiter sind überlastet und vor allem mit der Organisation des Betriebs beschäftigt. Da bleibt kaum Zeit für die Betreuung“, sagt etwa Claus-Ulrich Prölß vom Flüchtlingsrat. Es sei leider oft so, dass die Bewohner deshalb „vorrangig Kontakt zum Sicherheitspersonal haben“, so die Beobachtung von Susanne Rabe-Rahman. Die Stadt weist dies weit von sich: „Dieser Eindruck ist falsch“, sagt Wohnungsamtsleiter Ludwig. Die Sozialbetreuung in den Hallen sei gut. „Die Stadt Köln ist dankbar, dass das DRK sie in der außerordentlich schwierigen Unterbringungssituation unterstützt.“

Fragt man Kenner der Branche, ergibt sich ein anderes Bild. Dass dem DRK die Betreuung ausnahmslos aller 34 Notaufnahmen inklusive der Turnhallen übertragen wurde, ist umstritten. „Die Strukturen beim Kölner Roten Kreuz mussten innerhalb weniger Monate explosionsartig wachsen“, kritisiert Enders. „Mir hat eine Mitarbeiterin erzählt, dass die Hilfsorganisation nur noch mit sich selbst beschäftigt sei. Zeit für fachliche Beratung bleibe nicht.“ Der Markt für Sozialarbeiter sei leer gefegt, die Arbeitsbedingungen in den Notunterkünften seien schlecht und die Fluktuation deshalb groß. Tatsächlich haben DRK und Stadt Mühe, die offenen Stellen zu besetzen und so den Betreuungsschlüssel von 1:80 einzuhalten. „Wir hinken mit den Einstellungen immer hinterher“, so Ludwig. Die Folge: Selbst für Heimleitungen werden Berufsanfänger eingesetzt, die gerade ihr Studium beendet haben. Dabei bräuchte man gestandene Persönlichkeiten mit hohen Managementqualitäten.

Das DRK selbst wollte sich auf Anfrage nicht äußern und verwies stattdessen auf die Stellungnahme der Stadt.

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