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Korruption im RheinlandMillionenschaden durch Bestechung

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Köln – Ein braunes Ringbuch, Din-A-5-Format, karierte Blätter. Die Seiten handschriftlich nummeriert. Kein Eselsohr, kein Schmutzfleck. Die Ermittler von Polizei und Staatsanwaltschaft nennen das kleine Buch nur „die Kladde“. Ihr Inhalt ist brisant.

Wenn es stimmt, was die Fahnder hinter ein paar Zahlen, Daten, Namen und Eurobeträgen vermuten, könnte „die Kladde“ der Hauptbeweis sein für einen der größten Korruptionsfälle im Rheinland der vergangenen Jahrzehnte. Denn der Skandal, den der „Kölner Stadt-Anzeiger“ im November 2011 aufgedeckt hatte, zieht immer weitere Kreise.

Einzelne Mitarbeiter teils namhafter Unternehmen aus der Region sollen Scheinrechnungen einer Kölner Zulieferfirma für Industriebedarf abgezeichnet haben. Als Belohnung sollen sie Geschenke erhalten haben, zum Beispiel Fernseher, Bangkirai-Gartenmöbel, Autoersatzteile und Spielekonsolen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln gegen mehr als zehn Beschuldigte. 35 Anwälte sind mit dem Verfahren beschäftigt.

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Gingen die Ermittler vor eineinhalb Jahren noch von einigen Hunderttausend Euro Schaden aus, scheint jetzt klar: Es geht um viel mehr. Es geht um Millionen.

Geschädigt wurden mutmaßlich nicht nur die Abfallwirtschaftsbetriebe (AWB) Köln. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat die Staatsanwaltschaft in den vergangenen Monaten sieben weitere Unternehmen ermittelt, die betroffen sein könnten, darunter die ehemalige Bayer-Sparte Dralon in Dormagen und die Erftstädter Firma Nowotnik, die die Kiesgruben in Kerpen-Blatzheim und Erftstadt-Blessem betreibt. Ob weitere Firmen betrogen wurden, ist unklar – die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, ein Ende ist nicht in Sicht. Seit eineinhalb Jahren trägt die Staatsanwaltschaft Beweise zusammen, immer wieder ergaben sich neue Erkenntnisse, wurden weitere Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Mit einer Anklage rechnet die Staatsanwaltschaft nicht vor dem Herbst.

Im Zentrum der Ermittlungen steht eine kleine Firma aus dem Kölner Westen. Sie handelt mit Autoteilen. Der Betrieb ist seit Jahrzehnten am Markt etabliert, hat sich mit der Zeit einen beträchtlichen Stamm renommierter Kunden aufgebaut.

Geführt wird die Zulieferfirma zunächst vom Gründer Helmut Merkle (Name geändert), später von seinem Sohn. Eine tragende Rolle im Unternehmen spielt auch Klaus Neumann (Name geändert), der Geschäftsführer – stets gut gekleidet, akkurat bei der Arbeit, verbindlich im Umgang, erzählen ehemalige Miarbeiter. Als er vor einigen Jahren in den Ruhestand tritt, bleibt er der Firma als Berater erhalten. Neumann ist es auch, der die Kladde führt, für die sich jetzt die Polizei interessiert. Um den Überblick zu behalten, soll der Ex-Geschäftsführer den mutmaßlich millionenschweren Betrug penibel dokumentiert haben.

Gegen Neumann, Merkle, seinen Sohn und drei weitere Mitarbeiter der Firma ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Bestechung. Rechtsanwalt Norbert Gatzweiler, der den Seniorchef verteidigt, geht nicht davon aus, dass es außer den AWB weitere Geschädigte gibt. „Für meinen Mandanten weise ich das zurück. Er wird für das einstehen, was er zu verantworten hat“. Der Anwalt von Ex-Geschäftsführer Neumann wollte sich auf Anfrage nicht zum laufenden Verfahren äußern.

Wie viele Jahre der mutmaßliche Betrug schon läuft, weiß niemand, als Polizei und Staatsanwaltschaft am 15. November 2011 mit einem Durchsuchungsbeschluss bei der Zulieferfirma vor der Tür stehen. Den entscheidenden Hinweis haben die Fahnder im Sommer von einem Informanten erhalten. An jenem Dienstag durchsuchen sie 17 weitere Geschäftsräume, Wohnungen und Privathäuser.

Auch auf dem AWB-Betriebshof am Maarweg in Ehrenfeld werden sie vorstellig. Im Visier haben sie vier Mitarbeiter der Werkstatt. Sie sollen mit dem Zulieferer kooperiert haben. Der Verdacht: Die Müllwerker haben Rechnungen über Ersatzteile abgezeichnet, die die beschuldigte Firma entweder gar nicht oder nicht im behaupteten Umfang geliefert hat. Vor allem Hydraulikschläuche tauchten massenhaft auf Lieferscheinen auf, außerdem Ölpumpen und Motoren. „Mit der angeblich gelieferten Menge an Schläuchen hätte man wahrscheinlich alle Müllwagen und Kehrmaschinen in Deutschland ausrüsten können“, behauptet ein Insider.

Die eingeweihten AWB-Mitarbeiter – inzwischen ist von fünf die Rede – soll sich der Zulieferer mit Geschenken gewogen gehalten haben, vor allem mit Möbeln und Unterhaltungselektronik. Sämtliche Zahlungsein- und ausgänge soll Ex-Geschäftsführer Neumann in seiner Kladde festgehalten haben: den Namen des AWB-Mannes, den entsprechenden Lieferschein und das Geschenk, sortiert nach Datum. „Auf Wunsch hat die Firma dem AWB-Mitarbeiter zum Beispiel einen Fernseher bestellt, in ihrer Halle gelagert, den AWB-Mitarbeiter angerufen, und der hat das Gerät nach Feierabend abgeholt“, berichtet der Insider. Ähnlich soll der Zulieferer mit den mutmaßlich bestochenen Verbündeten in den anderen sieben geschädigten Unternehmen verfahren sein.

Aber warum fiel der Betrug bei den Abfallwirtschaftsbetrieben nie auf? Tausende Hydraulikschläuche für gerade mal 400 Müllfahrzeuge – musste die Innenrevision nicht Alarm schlagen? „Es gab zwar immer schon konkrete Verfahrensanweisungen und Kontrollmechanismen wie das Vier-Augen-Prinzip“, betont der Kölner Rechtsanwalt Rolf E. Köllner, der die AWB als Berater im anstehenden Verfahren unterstützt. „Gegen hohe kriminelle Energie ist man aber nicht immer gefeit.“ Peter Mooren, einer von zwei AWB-Geschäftsführern, sagt: „Das Problem ist, wenn sich die vier Augen zusammentun, dann kann man da von oben nicht mehr reingucken.“ Fast 20 Jahre hätten die fünf Werkstatt-Beschäftigten zusammen gearbeitet. „Sie waren Leistungsträger, die gut gearbeitet haben“, ergänzt Ulrich Gilleßen, der andere Geschäftsführer. „Nur leider haben sie ihre Qualität offenbar auch für andere Dinge genutzt.“

Ziemlich bald, nachdem die mutmaßliche Betrugsmasche Ende 2011 aufflog, meldete die Zulieferfirma Insolvenz an. Die Abfallwirtschaftsbetriebe haben ihre fünf beschuldigten Werkstatt-Mitarbeiter entlassen. Ein neuer Werkstattleiter sei eingesetzt, Kontrollen intensiviert und „Uneindeutigkeiten in den Prozessketten“, beseitigt worden, berichtet Geschäftsführer Mooren. Teilweise gelte nun das Sechs-Augen-Prinzip. „Das haben wir aber auch zum Schutz der Mitarbeiter gemacht“, betont Ulrich Gilleßen. Niemand brauche sich zu sorgen, wenn er mal eine Unterschrift vergisst, das würde dank besserer Kontrollen rechtzeitig auffallen.

Auch andere Firmen haben jenen Mitarbeitern gekündigt, die in die illegalen Geschäfte verwickelt gewesen sein sollen – zum Beispiel die Dralon GmbH, einer von zwei Acrylfaser-Herstellern in Deutschland, bis 2001 eine Unternehmenssparte der Bayer AG. Dralon beschäftigt 300 Angestellte im Chemiepark Dormagen. Im November 2012 stand die Staatsanwaltschaft mit einem Durchsuchungsbeschluss vor dem Werkstor. „Wir waren total überrascht“, erzählt Stefan Braun, Sprecher der Geschäftsführung.

Der mutmaßlich korrupte Mitarbeiter sei ein Macher gewesen, ein Aktiver. „Er war im Unternehmen anerkannt“, sagt Braun. Inzwischen hat die Dralon GmbH die internen Abläufe für Materialbeschaffungen und Reparaturen geändert und ein Mehr-Augen-Prinzip eingeführt. „Uns wurde klar, dass hier vorher vieles auf Zuruf geschah und man sich aufeinander verlassen hat“, sagt Braun. „Das haben wir abgestellt.“

Dass die mutmaßlich kriminellen Geschäfte womöglich sogar geeignet waren, gut aufgestellte mittelständische Firmen zu ruinieren, zeigt das Beispiel Nowotnik. Das Erftstädter Familienunternehmen mit 140 Mitarbeitern ist anscheinend das größte Opfer der Betrugsserie. Allein bei Nowotnik könnte der Schaden in die Millionen gehen. Nach Auskunft von Firmenchef Hans Georg Nowotnik geriet seine Firma in ernste Schwierigkeiten. Überstunden werden längst nicht mehr angeordnet, in Blatzheim schloss die komplette Werkstatt, sieben Angestellte verloren ihren Job. „Wäre der Betrug nicht aufgedeckt worden, hätte das sogar die Existenz des Unternehmens bedrohen können“, sagt Nowotnik.

Auch in der Psyche habe das Ermittlungsverfahren Spuren hinterlassen. Unsicherheit und Misstrauen hätten sich in der Belegschaft breit gemacht. Um die finanziellen Einbußen möglichst genau zu ermitteln, sei nun ein Mitarbeiter ausschließlich damit beschäftigt, die Lieferscheine und Rechnungen der vergangenen Jahre zu prüfen. Bei den AWB in Köln versuchen gleich drei Fachkräfte, den Schaden aufzuarbeiten. Sie tun das seit eineinhalb Jahren, sie haben inzwischen fast 10 000 Belege geprüft und sämtliche Rechnungen bis 2006 zurückverfolgt. Alles, was davor liegt, gilt als verjährt.

Ein externer Gutachter wurde eingeschaltet, um zu prüfen, welche Teile, die auf den Lieferscheinen aufgeführt waren, tatsächlich in Müllfahrzeugen eingebaut wurden – und welche nur auf dem Papier existierten. Eine äußerst mühsame Arbeit. Theoretisch hätte der Sachverständige das Einbaudatum jedes einzelnen Hydraulikschlauchs fast aller 400 Müllfahrzeuge und Kehrmaschinen prüfen müssen. „Oft ging es aber um Ersatzteile, die nur ein paar Euro wert sind, da stand der Aufwand in keinem Verhältnis“, berichtet AWB-Geschäftsführer Mooren. Also konzentrierte sich der Sachverständige vor allem auf teure Teile wie Ölpumpen, bei denen zudem verhältnismäßig leicht nachzuweisen ist, ob die Pumpe ausgetauscht wurde oder ob es sich noch um das Originalbauteil handelt. Die Kladde, das zentrale Beweisstück der Staatsanwaltschaft, deckt nur den Zeitraum zwischen 2009 und 2011 ab. Allein in diesen drei Jahren summiert sich der nachweisbare Gesamtschaden bei den AWB nach Angaben der Geschäftsführung auf 1,1 Millionen Euro.

Während der Strafprozess wohl noch Monate auf sich warten lässt, ist das Zivilverfahren bereits in vollem Gang. Als erstes der acht geschädigten Unternehmen haben die AWB die Zulieferfirma auf Schadensersatz verklagt. Ein Urteil gibt es noch nicht. Vorigen Freitag kündigte das Landgericht an, dass es noch weitere Zeugen vernehmen wird. Mit Spannung dürften auch die übrigen sieben Unternehmen das Urteil erwarten. Es könnte Signalwirkung haben. Die meisten wollen Schadensersatz fordern. Aber sie müssen sich beeilen. Denn bislang ist völlig unklar, über welches Vermögen die Beschuldigten verfügen, ob und wie viel sie überhaupt zurückzahlen können. Es gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Denkbar ist, dass manche ihr Geld nie wiedersehen werden.

Gleich zum Auftakt der Verhandlung vor der 22. Zivilkammer des Landgerichts erlebten die Prozessbeobachter eine faustdicke Überraschung: Zur Verwunderung vieler korrigierte der Seniorchef der Zulieferfirma frühere Einlassungen bei der Polizei. Einige Angaben seien nicht ganz korrekt, stellte Helmut Merkle klar. Er weigere sich, als beklagte Person vor Gericht zu stehen. Von der „ganzen Geschichte“ habe er erst im Nachhinein erfahren, und das auch nur in Bruchstücken. Langjährige Mitarbeiter hätten das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht. Als er von den mutmaßlichen Betrügereien erfuhr, sei ihm keine andere Wahl geblieben, als sich einverstanden zu erklären – ein ehemaliger Angestellter habe gedroht, die Polizei einzuschalten. Er selbst, betonte Merkle, habe sich in 46 Jahren nie etwas zu Schulden kommen lassen.

Auch Ex-Geschäftsführer Klaus Neumann sagte vor der Zivilkammer aus. Und auch er ruderte an entscheidender Stelle zurück. Sollte er in einer früheren Vernehmung tatsächlich von „Scheinaufträgen“ gesprochen haben, tue ihm das Leid. Das klingt nicht danach, als sei mit einem schnellen Ende des Verfahrens zu rechnen.

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