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Kölner WestenHier schrieb Heinrich Böll wichtige Werke

Lesezeit 7 Minuten
Annemarie und Heinrich Böll in seinem Atelier.

Annemarie und Heinrich Böll in seinem Atelier.

Müngersdorf – Das Haus, Belvederestraße 35. Damals, als Heinrich Böll es errichtete, 1954, in der bleiernen Adenauerzeit, im Schweigen der kriegschreckstarren Gesellschaft, war es ein erstes gemauertes Zeichen des Aufbruchs. Im beschaulichen Müngersdorf zwischen Bauernhöfen und ordentlichen Häuschen mit spitzen Dächern war der Ziegelwürfel ohne Putz und mit Flachdach eine architektonische Provokation.

Heute, im Jahr des hundertsten Geburtstags des Dichters, hat es sich längst seiner Umgebung angepasst. Sie sind sich entgegengekommen, das Haus und seine Nachbarschaft. Mittlerweile ist es freundlich weiß getüncht, auf der Gartenseite von Efeu bewuchert.

Aus der dörflichen Gemeinde ist ein Stadtviertel geworden. Trotzdem ist der Bau mit der Hausnummer 35, den Böll von 1954 bis 1969 bewohnte, immer noch etwas Besonderes. Er hat Geschichte. Hier entstanden Werke wie "Billard um halb zehn"(1959), "Ansichten eines Clowns" (1963) und "Ende einer Dienstfahrt" (1966), eine sichere Basis für die spätere Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis, den Böll nach dem Roman "Gruppenbild mit Dame (1971) im Jahr 1972 erhielt.

Böll auch als Soldat in Müngersdorf

Der Künstler und sein Viertel waren sich nicht fremd, als er dort hinzog. Er kannte es von Sonntagsausflügen mit Eltern und Geschwistern. Veedelsbewohner Kurt Schlechtriem berichtet in "Blickpunkt Müngersdorf", dem Magazin des Bürgervereins: Mit der Bahn fuhr Familie Böll bis zur Endhaltestelle und stärkte sich nach einem Spaziergang in einer Wirtschaft mit Rosinenplatz-Essen. Später hatte Böll als Soldat einen Posten in Müngersdorf.

Nach einer Typhuserkrankung hatte man ihn von 1940 bis 1941 zu einem Einsatz an die Heimatfront beordert. Seine Aufgabe bestand darin, in der Dorfschule Gefangene zu bewachen. Bölls Neffe Klaus Imdahl und seine Frau Karin berichten aus dieser Zeit: „Andere Menschen zu bewachen hat Heinrich Böll mit Sicherheit gar nicht gefallen“, kommentieren sie. Das Paar, das heute das Haus an der Belvederestraße bewohnt, kennt aber einen Grund, warum die Zeit auch ein bisschen glücklich war. Er heißt Annemarie.

Weil Böll damals den Kriegsdienst in der Heimat, bei seiner Freundin und späteren Frau, verrichten konnte, blieben ihm diese Tage in Müngersdorf wohl auch in guter Erinnerung. So konnten ihn die günstigen Grundstückpreise und die größer werdende Familie wieder ins Dorf locken. Mit Annemarie, seinen drei Söhnen Raimund, René und Vincent, beim Einzug sieben, sechs und vier Jahre alt, seinem Vater Viktor und seiner Schwester Mechthild, wohnte Böll an der Belvederestraße.

Künstler und sein Viertel waren keine Freunde

Der Trubel im Heim wurde dem Schriftsteller allerdings irgendwann zu viel. Er flüchtete in den Garten und errichtete sich dort sein Atelier, wo er in Ruhe schreiben konnte. Noch heute erinnert das kleine Gartenhaus, hübsch rot getüncht, an den Schaffensdrang des Dichters. Dort ärgerten ihn nur noch die Nachbarn mit ihren Rasenmähern. Karin Imdahl zitiert Bölls Kommentar gerne mit einem Augenzwinkern: „Es ist der Traum vom englischen Rasen, der so unerfüllbar bleibt, wie der von einer Demokratie nach Schweizer Vorbild“, so belächelte Böll die fleißig mähenden Nachbarn.

Der Künstler und sein Viertel waren keine Freunde. Der Linksintellektuelle setzte sich schon früh für die Anliegen der Außerparlamentarischen Opposition ein und wurde später (zu Unrecht) verdächtigt, den Terroristen der RAF nahe zu stehen. Das katholische Müngersdorf hielt die Traditionen hoch. „Damals“, sagt Klaus Imdahl, „war mein Onkel der katholischen Dorfbevölkerung suspekt.“ Seine Frau Karin nickt: „Das war hier wirklich noch auf dem Land.“ Böll habe darüber gewitzelt: „Wir leben hier kurz vor den Niederlanden.“

Bei FC-Spielen verschanzte sich im Böll im Gartenhaus

Doch es wurde gebaut und auch der Fußballverein in der Nachbarschaft zog mehr Menschen ins Viertel. „Wenn der FC Platzverbot hat, dann ist Müngersdorf friedlich“, schreibt der Dichter in einem Bericht über seine Heimat. Bei Spielen des Vereins glich die Situation im Dorf allerdings einer Belagerung. Böll verschanzte sich dann im Gartenhaus, in bester Gesellschaft, der seiner Romanfiguren, wie er Außenseiter, die den Krieg nicht vergessen konnten - während die breite Masse nicht daran erinnert werden wollte. Der Schriftsteller und sein Zwang, den Finger in die Wunde zu legen, die Diktatur, Krieg und Holocaust gerissen hatten, verhagelte denen die Stimmung, die das Wirtschaftswunder genießen wollten.

Mit anderen kritischen Geistern, dem Schriftsteller Paul Schallück, dem Journalisten Wilhelm Unger, dem Verleger Ernst Brücher, dem Kulturdezernenten Kurt Hackenberg und Buchhändler Karl Keller gründete er 1959 die Bibliothek Germania Judaica, als "Instrument gegen den immer noch herrschenden Antisemitismus in Deutschland". Die Männer waren der Überzeugung, dass die Öffentlichkeit nur unzureichend über die Geschichte und Kultur des Judentums informiert sei und dass die Unkenntnis Vorurteile begünstige.

Böll hatte viele Künstler-Freunde

Heinrich Böll und Müngersdorf waren keine, aber er hatte Freunde im Ort, den Schriftsteller Paul Schallück und den Bildhauer Joseph Jaekel zum Beispiel. Überhaupt ging eine illustre Gesellschaft an der Belvederestraße ein und aus, Lucie Millowitsch, Ingeborg Bachmann, Literat und Filmemacher Erich Kock. Karl Keller war ein enger Freund. Seine Tochter. Crischa Siegel, erinnert sich an den Beginn der Freundschaft: „Die Universitäts-Buchhandlung meines Vaters war ein Treffpunkt“, erzählt sie.

Anfang der 50er Jahre habe ein junger Mann ihn gefragt: „Herr Keller, können Sie mir deutsche Autoren empfehlen?“ Der Literaturkenner legte los: „Da ist zunächst einmal Heinrich Böll.“ Der unterbrach ihn mit den Worten: „Aber das bin ich doch selbst.“ Es entwickelte sich eine enge Beziehung, die sich in der Erinnerung des jungen Mädchens von damals durch dichte Zigarettenrauchschwaden manifestierte. „Die haben unheimlich viel zusammen gequalmt", schildert Crischa Siegel, „unsere Zwei-Zimmer-Wohnung war völlig vernebelt.“ Der Buchhändler, seine Frau und seine Töchter warteten verzweifelt darauf, von der Stadt eine größere Wohnung zugewiesen zu bekommen.

Der Schriftsteller quartierte Menschen in Not bei sich zu Hause ein

Zeitgleich entdeckte der Schriftsteller seine Liebe zu Irland und verbrachte dort regelmäßig mit seiner Familie einige Monate. Sein Heim an der Belvederestraße stellte er Familie Keller zur Verfügung. Erleichtert floh sie aus der Enge nach Müngersdorf. „Das Haus mit dem wilden Garten war für uns das Paradies“, erinnert sich Siegel.

Auch andere Menschen in Not quartierte Böll im eigenen Heim ein. Wenn er sein Haus verlieh, steckte der "Hein", wie Freunde und Verwandte den Schriftsteller nannten, oft noch ein letztes Mal den Kopf zur Tür herein und versicherte sich, ob die Gäste auch genügend Geld zum Leben hätten. „Diese Großzügigkeit, die Freundlichkeit, haben Heinrich und Annemarie ausgemacht“, sagt Karin Imdahl. „Sie interessierten sich für andere Menschen, hatten Null Dünkel, keine Attitüden.“

Autofahren war nicht Bölls Stärke

Autofahren sei nicht Bölls Stärke gewesen, weiß Klaus Imdahl. Karin bestätigt: „Er hat mir mal er erzählt, dass er immer nur zu Tankstellen fährt, wo man bedient wird. Tanken könne er nicht.“ Und dann sagte er den Satz, den Karin Imdahl fest in ihrem Gedächtnis gespeichert hat, den sie heute noch manchmal hervorkramt, beruhigende Worte: „Man muss doch auch nicht alles können.“

Der Spruch ist in Müngersdorf geblieben, dort wo Heinrich Böll ihn so gerne benutzt hat. Seine Familie und Freunde freuen sich an der Hinterlassenschaft. Heute erinnert eine Bronzeplatte am Haus an der Belvederestraße 35 an den Dichter, dessen Beziehung zu Müngersdorf nicht immer einfach war, der aber mittlerweile viel mehr ist als ein ehemaliger Nachbar: ein wichtiger Teil der Viertelsgeschichte.

Aufgewachsen in der Südstadt

Heinrich Böll wurde am 21. Dezember 1917 als 6. Kind des Schreinermeisters und Holzbildhauers Viktor Böll und seiner Frau Maria in Köln geboren. 1921 zog die Familie in die Südstadt, wo sie - unterbrochen durch eine Zeit in einem Eigenheim in Raderberg - wohnte. Von 1928 bis 1937 besuchte Böll das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium. 1938 wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen. 1939 immatrikulierte er sich an der Universität, erhielt im Herbst jedoch den Einberufungsbescheid zum Militärdienst. Nach Kriegsende veröffentlichte er bald erste Bücher. 1951 gelang ihm der Durchbruch. Er erhielt er für die Erzählung "Die schwarzen Schafe" den Preis des Schriftstellertreffens "Gruppe 47". Böll ist am 16. Juli 1985 in Kreuzau-Langenbroich gestorben. (se)

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