LyrikEin Kiesel liegt gering am Grund

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Der Lyriker Josef Wilms.

Der Lyriker Josef Wilms.

Köln-Vogelsang – "Wir können nicht durch die Haustüre rein." Herr Wilms bittet um Verständnis. "Die kriege ich nicht auf. Und wenn ich sie aufkriegen würde, kriege ich sie jedenfalls nicht wieder zu." Und Vorsicht bitte auf den unebenen Bruchsteinplatten. "Die hat mein Vater noch verlegt. 1936."

Eine Wohnstraße in Köln-Vogelsang: gepflegte Eigenheime mit gehegten Vorgärten am Krähen-, Birkhuhn- oder Dohlenweg. Dazwischen ein merkwürdiges Häuschen: hinter einer hohen Hecke, die in den Gehweg sprießt, ein verwilderter Garten, darin eine verwitterte Klause, die die Ohren hängen lässt. Jedenfalls hängen die Fensterläden so kapriziös in den Angeln, dass sie beim nächsten Windstoß abzufallen drohen, wären sie nicht mit Klebeband verstärkt. Ein Stück der Hausecke ist mit Einkaufstüten isoliert. "Die Wetterseite", sagt Herr Wilms, "die muss ich trocken halten, sonst wird mir die Wand feucht." Handwerklich, na ja, sei er halt gar nicht begabt. "Minus null. Das ist mir nicht gegeben."

Dafür hat ihm die Gottheit, wie er sagt, etwas anderes gegeben - eine Begabung, die er erst spät entdeckt, mit Mitte 40: Josef Wilms dichtet und komponiert, Lyrik und Lieder, meist in der Nacht. Er schreibt über das Windbruchreh oder die Veilchenschnecke, über den Kahlkopfgeier und den Gelben Hans, über drei Arten Barsche, über Ravel- und Debussy-Etüden oder den vergessenen Dichter Theodor Körner. Mitunter auch von sich: vom Einsiedlerkrebs und seiner unerfüllten Sehnsucht nach der Seeanemone.

Das Haus und der Dichter sind in die Jahre gekommen. Der Putz zieht Risse, und Josef Wilms hat"s in den Beinen. Vielleicht werden beide überhaupt nur durch Verse aufrecht gehalten. Denn die Stuben, in die Herr Wilms nur noch über die Gartentüre gelangt, hat er mit seinen Gedichten beklebt, und mit den Liednoten, die er dazusetzt. Zwischen verblichenen Tapetenmustern lauert "Der Östliche Trompetenfisch", unter rußgeschwärzten Spinnwebschwaden schläft der "Korallenwächter". Unter der Kuckucksuhr, die Herr Wilms seit 1960, seit dem plötzlichen Tod der geliebten Tante Betty, nicht wieder aufgezogen hat, steht ein Akrostichon zu lesen: "Tag für Tag nach Leisem tasten./ Hier und heute ist der Raum./ Einmal nicht vorbeizuhasten;/ Offen sein für Tat und Traum."

Herr Wilms schlurft in die kleine Küche mit der abgegriffenen Anrichte, der Eckbank und dem Esstisch. "Ich habe eigentlich immer hier gesessen", sagt er. Am einzigen noch beheizbaren Klüttenofen des Hauses, am Radio, das die langen Konzertnächte bringt. Mehr Technik hat Herr Wilms nie gebraucht: keinen Kühlschrank ("Es ging 75 Jahre ohne"), kein Fernsehgerät ("Für so"n Quatsch hab" ich keine Zeit").

Eine ausgetretene Spur auf dem Linoleumboden führt hinüber ins Musikzimmer, wo Herr Wilms seit seinem 13. Lebensjahr auf einem inzwischen vom Holzwurm gehöhlten Klavier spielt: "Nach dem Krieg hatten wir allerdings zuerst ein Mietklavier. Mein Stiefonkel, der Kapellmeister Richard Danz, war ja in der Bischofsgartenstraße ausgebombt, musste aber doch Stunden geben, um uns durchzubringen."

Vielleicht hat alles hier an diesen Tasten angefangen: der Weg des Sonderlings, der Kriegswaise mit Volksschulabschluss, dem der Stiefonkel die harten Pianistenknöchel auf den Kopf schlägt wegen "meiner absoluten Unbegabtheit"; des notorischen Prüfungsversagers und Durchfallers, der nachts die Märchen Waldemar Bonsels verschlingt ("Der hat ja nicht nur die »Die Biene Maja« geschrieben"); des Verwaltungsgehilfen vom Kölner Ausgleichsamt, der 1960, nach dem Tod der Tante, beginnt, seine diversen Jobs zu kündigen, um oft monatelang nur lesen zu können:

Meyers Techniklexikon von A-Z, Opern- und Konzertführer, Die Welt der Religionen, Einführung in die Philosophie, die Gedichte des Kölner Dadaisten Theodor Baargeld, Barlachs Dramen, die kniffligen Charaden des Theodor Körner. Die Lektüre, die der junge Mann in den 50er Jahren im "Bücherparadies" auf dem Eigelstein für Groschen kauft, liegt zerlesen in den Zimmern des Hauses, in dem Josef Wilms seit 1960 nichts mehr verändert hat.

So steht es noch da, wie es 1936 vom Schlossermeister Wilhelm Wilms und seiner Frau Anna, Filialleiterin der Konsumgenossenschaft "Hoffnung" auf der Venloer Straße, in der damals neu errichteten Armen- und Arbeitersiedlung Vogelsang erworben wurde. Jetzt ist es Museum, Archiv, Werkstatt von Kölns unbekanntestem Dichter. Manchmal werfen Jugendliche Steine gegen die rissige Hauswand; oder Leute pochen an die Tür, neugierig, ob man das scheinbar verlassene Haus in der netten Wohnlage kaufen könne.

Als "Hieronymus im Gehäuse" hat sich Josef Wilms in seinen Gedichten beschrieben. Hier, umgeben "von den mir vorausgestorbenen Dingen meiner einstigen Lebenswelt", so schreibt er, "halte ich am Althergebrachten fest". An den Wänden hängen Plastiktüten statt Regale, prall gefüllt mit Gedichtpostkarten; Texte, Briefe, Manuskripte aus vier Jahrzehnten liegen korrekt aufgestapelt in Tausenden von Klarsichthüllen.

In Köln kaum beachtet

Josef Wilms hat ein straffes Arbeitspensum. Vom gelben Wachstuch seines Küchentischs aus führt er eine umfangreiche Korrespondenz - mit Schülern in Russland, mit Bibliothekaren in Südamerika oder Israel, mit Dichter-Gesellschaften und Nachlassverwaltern in aller Welt. Hier packt er dicke Postpakete mit Zeitschriften und Büchern, Gedichten und Noten. Für Menschen, die das alles auch dringend angehen sollte oder die sich interessieren müssten. So wie der Herr aus Neuss, mit dem Josef Wilms seit 15 Jahren beinahe täglich korrespondiert. Sie fachsimpeln über die Kompositionen von Gerhard Frommel oder Robert Gund, bereiten die Neuauflage einer Notensammlung dichtender Komponisten, komponierender Dichter vor. Gesehen haben sich die beiden noch nie.

Überhaupt hat Josef Wilms sein Elternhaus kaum je verlassen. Er hat nur wenige Reisen gemacht, 1961 an den Starnberger See ans Grab des Dichters Bonsels, 1995 ins Oderbruch, wo er auf Einladung der Gemeinde Oderberg aus seinen Werken las. Nur in Köln, sagt Josef Wilms resigniert, werde er nicht zur Kenntnis genommen.

"Ich bin halt nur ein Minderdichter", sagt er. So wurden früher die Bauerndichter genannt, so einer wie der Christian Wagner aus Warmbronn bei Stuttgart, ein Halbgebildeter, der sich anmaßte, Verse zu schreiben, aber eben kein Intellektueller oder Akademiker war. So wie Josef Wilms.

Verdrängtes und Versunkenes, Vergessenes und Bedrohtes, das sind seine Themen: Dichter, die keiner mehr liest, Komponisten, die keiner mehr spielt, Kreaturen, die keiner beachtet. "Für die Menschen Komponiertes/ bleibt oft seltsam unbekannt./ Keine Wissenschaft geniert es,/ wird Bedeutendes verbannt."

Als Wilms einen Bildband über Fische im Ramsch entdeckt, ist er gleich fasziniert von deren Schönheit und sinniger Eigenart und widmet ihnen humorvoll-witzige Verse: "Immer wieder stets aufs Neue/ preist der Dichter Frühlingsbläue./ Wüßte er von Wasser-Farben,/ bände er uns andre Garben." So beginnt seine Hommage auf den Roten Bandfisch. Im Kölner Aquarium war er nie.

Ist das hohe Literatur? Josef Wilms zuckt mit den Schultern. Nein, verlegt wurde das nie. Denn wer druckt schon ein Akrostichon! Das ist eine seltene Form des gereimten Gedichts, bei dem die jeweils ersten Buchstaben eines Verses, von oben nach unten gelesen, selbst wiederum ein Wort ergeben: Theologie der Zärtlichkeit, zum Beispiel, nach einem Wort von Heinrich Böll. "Die sind schwer, verdammt schwer zu schreiben", sagt Josef Wilms, "aber die müssen schwer sein, damit sie wirklich gut sind." Nächtelang sucht Wilms nach dem richtigen Wort, stolz auf eine Kunst, die tatsächlich wohl nie Auflage machen wird. Weil ihn der Literaturbetrieb ignoriert, entschließt er sich 1983 seinerseits, den Literaturbetrieb zu ignorieren: Er gibt seine eigene Zeitschrift heraus, den "Stallgefährten. Blätter für Literatur und andere Gegenstände". Die meisten Texte schreibt er selbst, rückt aber auch Gedichte, Lieder, Essays anderer "Minderdichter" ein; Noten osteuropäischer jüdischer Komponisten wie Julius Wolfsohn, die nach 1933 kaum einer mehr kennt.

Das alles tippt Wilms auf Matrizen, 17 Ausgaben in 18 Jahren, Auflage 500 Exemplare. Den Druck stottert er in Raten ab. "Es gab Wochen, da habe ich nur Tütensuppen gelöffelt. Na wenn schon. Wir waren ja immer arm." Und immer behält er die Mahnung der Tante im Ohr: sich finanziell nie derart zu verausgaben, dass er das Haus verlieren könnte.

Dass Josef Wilms sein Leben geführt hat ohne Wenn und Aber, ein Künstlerleben, auch das verdankt er Tante Betty. Die Mutter verliert der fünfjährige Josef 1941. Sie stirbt an Lungenentzündung. Als der Vater in den letzten Kriegstagen 1945 beim Kölner Volkssturm umkommt, ist Josef in Aegidienberg im Siebengebirge im Haushalt eines katholischen Pfarrers untergebracht. "Der saß in seiner Wohnung und verfraß die Lebensmittelkarten der ihm anvertrauten Kinder." Tante Betty holt den Jungen über die Hodges-Pontonbrücke der US Army bei Königswinter zurück nach Köln. Das Haus ist geplündert. "Hier war alles kaputt. Die Fenster raus, die Betten weg. Als Erstes habe ich draußen die Fotos aus dem Dreck geklaubt und unser Familienalbum repariert. "

Das perfekte Gedächtnis

Tante Betty ist ausgebildete Mezzosopranistin. Mit ihrem Mann war sie zur Wehrmachtsunterhaltung in Frankreich dienstverpflichtet: Operette, Oper, Potpourris aus Heiterem und Besinnlichem. Damit treten sie im ausgebombten Nachkriegs-Köln auf, im Saal der späteren Lichtspiele "Die Kurbel" auf der Venloer Straße. Ein kleiner Freundeskreis kommt zu Hauskonzerten. Es werden Beethoven, Schumann, Schubert, Liszt gespielt. Der benachbarte Maler Alex Meyer zeichnet den Jungen. Es wird bis in die frühen Morgenstunden gelacht und musiziert. "Das war meine Welt, und das ist sie eigentlich bis heute auch geblieben."

Josef Wilms hat das perfekte Gedächtnis. Mit 13 Jahren sieht er Schillers "Räuber" in der Aula der Universität, das Interim von Theater und Oper ("Das war das einzige Mal, dass ich an der Uni war"). Seine erste Oper: die Jenufa von Leos Janácek. Er erinnert sich an die junge Anny Schlemm, die 1950/1951 dem Opernensemble der Städtischen Bühnen angehört: "Eine wunderbare Stimme." An Karten ist schwer ranzukommen. Eine Bekannte arbeitet aber in der Herrenschneiderei der Oper, und so kommt man an die "Steuerkarten" des Ballettmeisters Peter Schnitzler - Angestelltenkarten, für die nur ein Betrag in Höhe der darauf zu entrichtenden Steuern zu zahlen ist. So kommen Tante und Neffe 1957 auch an das begehrte Abo in der neuen Riphan-Oper. "Die nannte man das »Grabmal des unbekannten Intendanten«". Von Lesungen im Alten Wartesaal weiß er nichts. "Das waren ferne intellektuelle Kreise." Den Heinrich Böll mag er. "Der klagte im Radio mal über das Lärmen der Motorrasenmäher. Hätte der noch diese Laubbläser erlebt."

Wegen gravierender Unbegabtheit in Mathematik fällt Wilms durch alle Prüfungen. "Ich bin im Leben an Dingen gescheitert, die ich nie gebraucht habe, an Flächen- und Raumberechnungen. Lächerlich. Aber überall fragen sie dich nach deinen Zeugnissen. Und dann bist du ein Nichts."

Gedichte und Schlagertexte

Nach dem Tod der Tante steht Wilms allein da. In den 60er Jahren, der Ära der deutschen Vollbeschäftigung, kündigt er seine feste Anstellung: "Ich brauchte Zeit. Zeit ist der einzige Luxus, den ich mir im Leben geleistet habe." Er versucht, seinen verkorksten Bildungsweg nachzuholen, arbeitet zwischendurch als Schreibkraft, registriert den Fundus des Kölner Theaters. Dann wird es immer schwieriger, eine feste Anstellung zu finden. "Ich hatte ja diese monatelangen Lücken im Lebenslauf. Bei den Vorstellungsgesprächen fragten die dann, ob ich da vielleicht im Knast gesessen hätte." In den 70er Jahren beginnt Josef Wilms selbst zu schreiben. "Ich habe plötzlich angefangen. Ich wusste ja nicht, dass ich diese Gabe besitze, ich, der Weltmeister im Kassieren von Niederlagen aller Art." Er versucht sich an Schlagertexten: "Du bist auf jeden Fall mein Fall" wird tatsächlich auf Platte aufgenommen. Wilms erhält 30 Pfennig Gema-Gebühren aus Belgien. Er schickt Gedichte an Anzeigen-Blättchen, die Kirchen-Zeitung, die Bierzeitung der Altstadtkneipe "Papa Joe". Als die "Grünen" 1981 ihr erstes Büro auf dem Gereonswall eröffnen, hängen seine Verse im Fenster des Ladenlokals. Bei der Mahnwache auf der Kölner Domplatte verteilt er seine Gedichtpostkarten; er korrespondiert mit dem österreichischen Frauenmörder Jack Unterweger, mit den sich organisierenden Prostituierten vom Hamburger Kiez. "Ich schreibe die Menschen, die mich interessieren, einfach an, egal, was sie im Leben darstellen."

Als er 1989 liest, dass im Perestroika-Russland Menschen um Kontakt mit deutschsprachigen Briefpartnern suchen, beginnt eine umfangreiche Korrespondenz mit Schülern in Kasinka im Belgograder Gebiet. Er schickt alles Lesbare, das Apothekerblatt, die Bäckerblume, Tageszeitungen, Bücher, auch den "Stallgefährten".

Nicht mehr vorzeigbar

Vor einigen Jahren meldete sich eine ehemalige russische Schülerin, inzwischen in Hamburg lebend. Sie habe mit einem eigenen Akrostichon die Jury einer deutschen Studienstiftung beeindrucken können. So verdanke sie eigentlich Josef Wilms ihr Stipendium und letztlich die Tatsache, dass sie heute Beruf und Familie in Hamburg habe.

Für sein jahrelanges Engagement nominieren ihn Bekannte für den Marion Dönhoff Preis. Die Ordensschwester Ruth Pfau erhält den Preis, aber Wilms wird zur Verleihung nach Hamburg eingeladen. Er lehnt ab. "Es ist zu spät. Ich bin nicht mehr vorzeigbar. So wie mein Haus." Josef Wilms sitzt in seiner Küche, blickt hinaus in die Wildnis der Brombeerhecken. "Für die Nachbarn bin ich wohl nur ein verschrobener Kauz. Für die Leute, die mich von früher kennen, bin ich ein Nichtsnutz. Gedichte interessieren die nicht."

Manchmal lacht Josef Wilms verschmitzt wie der Junge, der mit den anderen Vogelsanger Kindern am Hardter Loch spielte, einer Kiesgrube, die später mit Trümmerschutt verfüllt wurde. "Das war herrlich. Kaulquappen und Salamander. Wir spielten im Puffsand." Von dieser Wildnis träume er manchmal noch heute. Überhaupt gebe es weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur eine Gegenwart, in Traum und Wirklichkeit. "Das spüre ich ganz deutlich. Die Gegenwart der Toten. Zeit ist nur eine Illusion."

Josef Wilms ist 75 Jahre alt. Er betrachtet sein in Klarsichthüllen konserviertes Lebenswerk, und es ist ihm bange. Was wird aus all dem? "Wenn ich tot bin, landet alles auf dem Müll." Aber wenn nur einmal ein richtiger Verlag seine Gedichte in einem richtigen Buch druckte, bliebe doch etwas:

Ein Kiesel liegt gering am Grund.

Was hat er noch zu hoffen?

Er träumt und ruht und ist gesund:

Die Zukunft steht ihm offen!

So mag es manchen Menschen gehen:

Sie liegen wie auf Lager.

Sie sind schon zu was ausersehen/ und keineswegs Versager!

Doch noch ist ihre Zeit nicht reif,

ihr Los noch nicht beschrieben.

Ihr Stern kriegt spät den hellen Schweif,

den alle fraglos lieben.

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