Sozialistische Selbsthilfe MülheimSeit 35 Jahren gelebte Alternative

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Im November 1979 besetzte Rainer Kippe (2.v.r.) zusammen mit Gleichgesinnten, Alten und Behinderten das Gelände an der Düsseldorfer Straße. Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim, die anfangs noch Sozialistische Selbsthilfe Köln-Mülheim (SSK) hieß, hat sich etabliert.

Im November 1979 besetzte Rainer Kippe (2.v.r.) zusammen mit Gleichgesinnten, Alten und Behinderten das Gelände an der Düsseldorfer Straße. Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim, die anfangs noch Sozialistische Selbsthilfe Köln-Mülheim (SSK) hieß, hat sich etabliert.

Mülheim – Noch heute verströmen Räume und Innenhof den Charme des Unvollkommenen. Holzöfen sorgen innen für Wärme, draußen warten Paletten darauf, verfeuert zu werden – auf einer Rampe stapeln sich gebrauchte Küchengeräte unter einem hölzernen Vordach. Es sind luxuriöse Verhältnisse, verglichen mit dem November 1979, als Rainer Kippe und Gleichgesinnte die ehemalige Schnapsfabrik und Spedition an der Düsseldorfer Straße 74 besetzten. „Das Gelände hatte keinen Kanalanschluss“, sagt Kippe, Mitgründer der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), die nun seit 35 Jahren das Erbe der 68er-Generation aufrecht hält. Statt Toiletten habe es einen Donnerbalken gegeben, Wasser- und Stromanschlüsse: Fehlanzeige.

Dafür gab es hehre Ziele: Damals wie heute will die SSM Menschen, die durch das soziale Raster gefallen sind, eine Perspektive bieten – selbstständig wirtschaftend, basisdemokratisch, sozialistisch. Rainer Kippe hatte Jahre zuvor die Sozialistische Selbsthilfe Köln (SSK) gegründet, die Jugendlichen aus Heimen und Psychiatrien in selbstverwalteten Firmen eine Perspektive bieten wollte. Weil die Räume im Linksrheinischen zu eng wurden, besetzten er und etwa zehn weitere Mitstreiter das städtische Gelände an der Düsseldorfer Straße. Häuser hatte der heute 70-Jährige auch vorher schon immer wieder okkupiert. Vor allem, um gegen den um sich greifenden Abbruch von Altbauten in der Stadt zu demonstrieren. Noch immer mischt sich die SSM-Gemeinde mit Leidenschaft in die Mülheimer und gesamtstädtische Politik ein.

Ihr beinahe romantisches Refugium an der Düsseldorfer Straße haben sich die SSMler hart erarbeitet. 13 Jahre lang hätten er und die anderen Hausbesetzer mit der Verwaltung um die Gebäude prozessiert, sagt Kippe. Erst danach habe es einen offiziellen Mietvertrag gegeben.

Unkonventionelle Wege

Längst ist die SSM in Mülheim etabliert – obwohl deren Mitglieder eher unkonventionelle Wege gehen. „Ab dem Moment, in dem wir gearbeitet haben, haben die Mülheimer uns akzeptiert“, sagt Kippe. Mittlerweile betreibt die Kommune an der Straße Am Faulbach auch eine große Veranstaltungshalle sowie einen Second-Hand-Möbelhandel.

Etwa 30 Mitglieder hat die Gemeinschaft heute, darunter Behinderte, Ex-Obdachlose, trockene Alkoholiker oder einfach Sympathisanten, die nach einer alternativen Lebensform fernab des Konsums suchen. Die meisten Mitglieder wohnen kostenlos auf dem Gelände, jeder bekommt 60 Euro Taschengeld pro Woche. Mit Entrümpelungen, Umzügen und Möbelverkäufen decken sich die laufenden Kosten. Kippe: „Hier arbeiten Leute, die aussortiert wurden – hier zeigen sie, dass sie doch noch etwas leisten können.“

Ihr 35-jähriges Bestehen feiert die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim am Freitag, 7. November, ab 16 Uhr in der „Halle am Rhein“, Am Faulbach 2.

Zum Fest-Programm gehört unter anderem Musik von Klaus dem Geiger, Ana (SSM) und dem Blasorchester Dicke Luft. (cht)

www.ssm-koeln.org

Auch Daniel Fischer hat sich vor fünf Jahren für die SSM entschieden. Zuvor arbeitete er als Heilerziehungspfleger mit Behinderten. Weil die Zustände in der Einrichtung menschenunwürdig gewesen seien, habe er nach einer Alternative gesucht. Nun wohnt er an der Düsseldorfer Straße, hilft bei Umzügen, kocht Mittagessen. Jeder helfe nach seinen Fähigkeiten, sagt der 36-Jährige, Entscheidungen würden von der Gruppe getroffen: „Das ist eine runde Sache, mit einer guten Portion Chaos.“

Manche Mitglieder bleiben nur kurz, manche dagegen über Jahre hinweg. Dass ein sozialistisch verwalteter Betrieb nicht mehr zeitgemäß ist, glaubt an der Düsseldorfer Straße niemand. Immer mehr Menschen suchten hier Zuflucht. „Der Aufschwung am Arbeitsmarkt ist an der Gruppe der Langzeitarbeitslosen vorbei gegangen“, sagt Kippe. Für viele sei die SSM die einzige Hoffnung.

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