Nenad aus KölnWie ein gesunder Junge auf einer Schule für Behinderte landete

Lesezeit 5 Minuten
Nenad Mihailovic schämt sich für seinen Lebenslauf.

Nenad Mihailovic schämt sich für seinen Lebenslauf.

  • Schon früh wurde Nenad Mihailovic als geistig behindert eingestuft - zu Unrecht.
  • Der Junge selbst ging immer öfter nicht zur Schule, um zu zeigen, dass er dort nicht hingehört.
  • Nun will der 19-Jährige „zeigen, wie ich wirklich bin“.

Holweide – Abenteuerfilme, Liebesfilme, Actionfilme. Als kleiner Junge träumte Nenad Mihailovic davon Schauspieler zu sein. „Ich habe alle Filme geliebt“, sagt der 19-Jährige aus Holweide, der sich gewählt und wohlerzogen ausdrückt. Doch Nenad Mihailovic wurde elf Jahre lang gezwungen, jemand zu sein, der er nicht ist. Er wurde nach einem einmaligen Test in einer bayerischen Grundschule zu Unrecht als geistig behindert eingestuft – und kam bis kurz vor seiner Volljährigkeit nicht mehr aus dieser Schublade heraus.

Diesen Donnerstag wird seine Geschichte in der WDR-Fernsehreihe „Menschen hautnah“ (22.40 Uhr) erzählt. Damit will der junge Mann „zeigen, wie ich wirklich bin“.

„Ich wurde einfach abgestempelt“

Nenad erinnert sich nur noch an einen „alten Mann, der auf mich einredete und Zeichen machte, die ich nachmachen sollte“. Nenad verstand kein Wort Deutsch, ein Dolmetscher war nicht vor Ort. „Ich fiel durch den Test durch, also war ich behindert.“

Zwar nicht in einem biologischen Sinne, auch nicht derart, dass er in seiner emotionalen oder sozialen Entwicklung im Sinne einer Lernbehinderung als eingeschränkt galt. Jedoch wirkte er wohl entwicklungsverzögert und beeinträchtigt, weil ihn seine Familie nicht richtig fördern konnte.

Zudem litt er unter einem sehr schwachen Selbstwertgefühl, weil er übergewichtig war. „Ich wurde einfach abgestempelt.“ So führte sein Weg in eine Förderschulen für geistige Entwicklung, eine so genannte GE-Schule – entgegen seiner offensichtlich viel höheren Begabung.

Zum Zeitpunkt des ersten Gutachtens lebte Nenads Familie in Bayern. Die Lehrer in der Grundschule kamen mit ihm nicht zurecht und traten an die Mutter heran: Ihr Sohn sollte nach der „Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung“ (AOSF) auf geistige Beeinträchtigungen untersucht werden. Die Mutter, die Roma aus Serbien ist und nur Romanes spricht, stimmte zu, „verstand aber gar nicht, worum es geht“, so Mihailovic. „Sie dachte, ich wäre von Geistern besessen.“

Dazu kam bei Mihailovic ein spezieller Intelligenztest für Kinder, der ihm lediglich einen IQ von 59 bescheinigte. Er funktioniert auch ohne Worte.

Im Unterricht nur geweint

Nach der Rückkehr in Nenads Geburtsstadt Köln im Jahr 2008 schrieb die Förderschule für geistige Entwicklung in Poll den Förderbedarf, so der Vorwurf, ohne Überprüfung immer weiter fort – ohne zu sehen oder sehen zu wollen, dass der Junge hier falsch war, und den Zustand zu beenden. Vize-Schulleiter Klaus Schmidt dementiert dies heute in dem Film.

Auf GE-Förderschulen ist es nicht möglich, einen ordentlichen Schulabschluss zu erwerben – anders als auf Förderschulen für Lernbehinderte. „Ich habe darum gebettelt, auf eine andere Schule gehen zu dürfen“, erinnert sich der junge Mann. „Und mein Klassenlehrer hat oft zu mir gesagt: Du gehörst hier gar nicht hin. Aber niemand hat etwas unternommen. Die haben mein Leben zerstört.“

Zuerst weinte er nur viel, weil er sich zwischen schwerst körperlich und geistig behinderten Schülern nicht wohl fühlte. Dann blieb er immer öfter dem Unterricht fern. Es war seine Art zu zeigen, dass er dort nicht hingehört.

„Ich versuchte mir selbst Dinge beizubringen.“ Wochenlang schwänzte er, geriet gar in Konflikt mit der Polizei. „Ich war permanent unterfordert.“

Klage gegen das Land NRW

Nun verklagt Nenad Mihailovic das Land Nordrhein-Westfalen – vertreten durch die Bezirksregierung – auf Schmerzensgeld und Schadenersatz in Höhe von rund 52.000 Euro. Begründung: Ihm seien Bildungschancen vorenthalten worden. Außerdem habe er einen rund dreijährigen Verdienstausfall erlitten – dadurch, dass er seine Ausbildung erst verspätet beginnen kann.

Nenad besucht inzwischen ein Berufskolleg in Deutz. Er hat mit Auszeichnung und einem Notendurchschnitt von 1,6 als bester seines Jahrgangs den Hauptschulabschluss erworben und will nächstes Jahr seinen Realschulabschluss machen – dann wird er 20 sein.

Dass er überhaupt so weit ist, hat er dem inzwischen verstorbenen Kurt Holl vom Verein Rom e.V. zu verdanken. Er vermittelte Mihailovic zu Eva-Maria Thoms von der Initiative Mittendrin. Die Beratungsstelle setzt sich für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung ein, und stellte sich der Familie zur Seite „Der Junge könnte längst in Ausbildung stehen und Geld verdienen“, meint Thoms.

Doch auch dem Verein gegenüber weigerte sich Nenads Schule, den damals 17-Jährigen zu entlassen, um sich an einer anderen Schule testweise beweisen zu können. „Aus irgendwelchen sachfremden Gründen war man dort der Meinung, er sei bei ihnen am besten aufgehoben.“ Indirekt bestätigt die Schule in dem Film, den Jungen mit 200 Fehlstunden abgeschrieben zu haben. „Um Schüler fördern zu können, müssen sie da sein“, so der Schulleiter. Die Bezirksregierung weist Nenad ebenfalls die Schuld zu: Er habe zu oft gefehlt. Ein Verstoß gegen das Schulrecht sei nicht festzustellen.

Hospitanz am Berufskolleg Deutzer Freiheit

„Schulschwänzer gibt es an jeder Schulform“, argumentiert Eva-Maria Thoms. Wäre er auf eine Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung oder aber auf eine Lernbehinderten-Schule gekommen, so hätte er zumindest einen Abschluss machen können. „Doch er hatte ja nie eine Chance.“ Im Auftrag seiner Anwältin Anneliese Quack testete eine Psychologin Nenad Mihailovic erneut und kam auf einen IQ von 95. Quack: „Also eine völlig durchschnittliche Intelligenz – und der Wert wäre sicher noch höher, hätte er eine normale Schulbildung genossen.“

Mit einem Trick sorgte der verein Mittendrin dafür, dass Nenad am Berufskolleg Deutzer Freiheit hospitieren konnte: er verschwieg, dass dieser an seiner alten Schule noch angemeldet war. „Das war ein Fall von Notwehr“, so Eva-Maria Thoms.

Nenad Mihailovic bekam in letzter Minute erstmals eine echte Chance, nämlich zwei Monate vor Erreichen seiner Volljährigkeit. Ab dann nimmt ein Berufskolleg Schüler ohne Ausbildungsplatz nicht mehr auf. „Aber nur, weil wir uns nicht an den offiziellen Weg gehalten haben“, so Thoms.

Derzeit lernt Nenad Mihailovic für seinen Realschulabschluss, träumt von einer Ausbildung im Einzelhandel. Doch er schämt sich für seinen Lebenslauf. „Mit dem Hinweis Geistige Entwicklung wird meine Bewerbung doch sofort aussortiert.“ Doch er kämpft weiter. „Alles, was ich will, ist Gerechtigkeit. Damit Kinder in Zukunft nicht mehr in Schubladen gesteckt werden, sondern nach ihrem eigenen Willen gefragt werden.“ Der Traum von der Schauspielerei ist passé. Er will nie wieder jemand sein, der er nicht ist.

KStA abonnieren