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Nachruf auf UnfallopferPhilip Klein wäre wenige Tage später 18 Jahre alt geworden

Lesezeit 7 Minuten
Philip Klein fuhr in der U-19-Bundesliga für den VCS Köln.

Philip Klein fuhr in der U-19-Bundesliga für den VCS Köln.

Köln – Es gibt Geschichten, für die es keine Worte gibt. Die Sätze klingen dann hohl und vergeblich, aber wer weiß. Wer kann schon sagen, was Seele ist? Unfallstelle und Schulhof: Meere aus Blumen, Lichtern, Beileid. Die meisten Briefe: ungeöffnet.

Die Eltern sagen, Philip hätte so etwas hier gewollt. Die Freunde sagen: ja, bestimmt. Bitte so, dass man auch lachen kann. Vielleicht ist es das, was er gewollt hätte: Die Leute sollen weiter lachen.

Als Philip mit seiner Klasse das Südstadion besucht, ruft er ins Mikrofon: „Ihr seid bestimmt alle Fortuna- oder FC-Fans hier, und ich? Ich bin für Schalke!“ Der Klassenchor lacht. Als 15-Jähriger verkleidet er sich im Karneval als Mädchen. Wenn er ein Rennen gewinnt, sieht jeder seinen Jubel. Er ist groß im Witze-Erzählen und im Youtube-Szenen-Nachspielen.

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Sein Gesicht ist gesprenkelt mit Schalk und Sommersprossen. Angstflecken haben Andere. „Er war einfach witzig“, sagt Lajos. „Unglaublich witzig.“

„Es ist so krass, wie viele Autofahrer aggressiv sind“

Lajos fährt 50 Meter hinter ihm, weil er noch sein Handy im Trikot verstaut. Die zwei wollen nach einer 120-Kilometer-Trainingsausfahrt noch ein Eis essen und googeln eine Eisdiele. Lajos findet keine, Philip fährt vor, den Berg runter, von der Nussallee in Hürth auf die Bonnstraße. Lajos sieht nur noch den Opel vor sich und hört den Knall. Das war’s. „Es ist so krass, wie viele Autofahrer aggressiv sind“, sagt Lajos.

Wenn Lajos ein Rennen gewinnt und Philip für ihn den Sprint anfährt, teilen sie sich die Gage. 80, 100, 150 Euro, einmal 250. „Er hat sein Leben gefeiert, aber auch andere“, sagt Lajos. Sie fahren vier-, fünfmal die Woche zusammen, am Wochenende fast immer ein Rennen, 10 000 Kilometer im Jahr.

Rap und Karnevalsmusik war sein Ding

Die Tour de France ist nur ein Traum. Aber es hätte ja auch keiner gedacht, dass ein Kerl, der kaum auf einem Bein stehen kann, mal Junioren-Bundesliga fährt. Dass einer, der mit vier noch kaum ein Wort spricht und zur Sonderschule soll, aufs Abitur zusteuert. Dass so einer später zu den angesagtesten Typen der Schule zählt. Hätte ja alles keiner vermutet.

„Das Leben macht Spaß, ja, du bist 'n Star, yeah – Isst von goldenen Löffeln und fickst schöne Frau'n – 10 000 km/h, doch du gibst noch Gas – Und brauchst nie wieder Schlaf, denn du lebst den Traum“, ruft Cro, der Rapper mit der Pandamaske. Rap war sein Ding, und Karnevalsmusik. Musik und Träume sind unendlich. Erinnerungen sowieso.

Seine Freunde Ole, Tom und Julius haben Bilder, Töne und Gerüche gemixt. „Weißt Du noch den Tag, als Du aus dem Fenster gekotzt hast?“ „Weißt Du noch den Tag, wo wir morgens um vier im Whirlpool waren?“ „Weißt Du noch Karneval?“ „Weißt Du noch die Skifahrt?“ Zu sehen ist Philip, wie er mit einem alten Fahrrad in den Rhein fährt. Die Kumpels als Punks im Karneval. Die vier am Grill, Philip mit Pflaster auf dem Kinn, mal wieder gestürzt, wie so oft in diesem Jahr. Die vier mit freiem Oberkörper im Motorboot auf dem Rhein. Nachts auf dem Rad. Trinkend. Dönernd. Lachend. Gelacht hat er fast immer. Wann hat er eigentlich nicht gelacht?

Philip bringt alle zum Lachen – und die Lehrer zur Verzweiflung

Die Schulkameraden, die nach seinem Tod an der Unfallstelle sitzen, erzählen Geschichten von seinem Lachen. „Weißt Du noch, wie Philip in der Klasse stand und keiner bekam sich mehr ein?“ Sie erinnern sich an Philip, den Clown, der die Lehrer auf die Probe stellt. Der herausfordernd aufsteht, einen Spruch reißt und abwartet. Sie lachen, zittern, halten sich im Arm.

„Ihr Sohn ist ein toller Typ“, sagen die Lehrer den Eltern. „Aber er ist manchmal zu toll. Er muss auch was tun!“ Er tut was. Und bringt weiter alle zum Lachen und die Lehrer auch zur Verzweiflung. Woher kommt der Übermut? Das Selbstverständnis, nach Rennstürzen weiterzufahren? Mädchen mit nach Hause zu nehmen und der Mutter auf Whatsapp nur zu schreiben, sie solle am Abend besser nicht ins Zimmer kommen? Die Gabe, das Leben mit 15, 16, 17 einfach leicht zu nehmen?

Vielleicht, weil er es als Junge nicht leicht hatte, sagt die Mutter. Er lernt, was zu tun ist, um trotzdem geliebt zu werden. Wie sich eine Schwäche in eine Stärke verwandeln lässt. Weihnachten, wenn die anderen Klavier spielen und Gedichte aufsagen, stellt der Dreieinhalbjährige sich vor den Tannenbaum, brabbelt in seiner Fantasiesprache, strahlt und gestikuliert, bis ihm alle applaudieren. Am Ende des Irland-Urlaubs hat Philip sein Taschengeld längst ausgegeben, sein Bruder, der dreieinhalb Jahre Ältere, Überlegte, nicht. Der Jüngere will auf der Fähre ein Stofftier, die Eltern sagen Nein. Er überredet den Bruder so lange, bis der ihm den Tiger bezahlt. „So war er“, sagen die Eltern.

Der Fahrer soll viel zu schnell gewesen sein

Und dann ist da der Radsport. Erste Ausfahrten mit der Trainingsgruppe des Vaters, schnell ist er der Schnellste. Mit Muskeln und Erfolgen wachsendes Selbstvertrauen. Dieses Jahr darfst Du gucken, was geht, sagen die Eltern. Solange Du keine Fünf auf dem Zeugnis hast. Er schreibt Dreien und Vieren. Und ist jetzt mit Lajos in einer Stufe, der sitzengeblieben ist, vielleicht, weil er ein bisschen zu viel trainiert hat. So können sie immer zusammenfahren, auch an diesem verdammten 11. Juli, der Tour in die Eifel, Nideggen, Schmidt, Mariawald. Zurück, wie immer, über Hürth.

Juristisch stellt sich die Frage, ob die Tat als fahrlässige Tötung bewertet wird – dann erhält der Fahrer eine Bewährungsstrafe – oder ein Vorsatz vorliegt. Der Fahrer soll viel zu schnell gewesen sein, die Ampel war Zeugen zufolge Rot. In Berlin ist ein Raser nach einem illegalen Autorennen erstmals wegen Mordes verurteilt worden. In Köln bekamen die Irren vom Auenweg, die eine 19-jährige Studentin töteten, Bewährung. Der Prozess beginnt bald. Der Fahrer sei auch ein Mörder, sagen viele. „Ich finde, dass er ins Gefängnis muss, aber es hilft nichts“, sagt Lajos. „Es ist egal“, sagt der Vater, selbst Anwalt.

So schnell wie alles kam, ist es irgendwann vorbei – Und deshalb leb' ich jeden Tag als gäb' es nur noch ein'n, eh – Das Leben ist nicht lang, es ist irgendwann vorbei – Und deshalb streb' ich jeden Tag nach Unendlichkeit“ singt Cro im Video der Freunde.

Die Eltern versuchen, zu funktionieren

„Weiß du noch, die Nächte beim Zocken?“ „Weißt Du noch, die Nächte mit „Türkisch für Anfänger?“ „Weißt Du noch, im Trainingslager?“ Es gibt so viele Weißt-du-nochs. Ole, Tom und Julius haben die mit Philip geplante Tour nach Lloret de Mar abgesagt. Sie schreiben: „Du bleibst immer unser Bruder, Philip.“

Die Blicke der Eltern sind verschattet. Sie versuchen, zu funktionieren. Beide haben sie promoviert. In Philips Handy stehen sie mit Nachnamen und Doktortitel. Er hat ihnen nicht gesagt, dass er stolz auf sie ist. Er will ihnen zeigen, dass er auch was drauf hat. Abitur, studieren. Oder Radprofi. Wie der Vater interessiert er sich für Politik, liest den „Spiegel“. Als im Unterricht eine Schülerin fragt, wie es wohl wäre, Fallschirm zu springen, und der Schirm geht nicht auf, erinnert Philip an Jürgen W. Möllemann. Die Lehrerin ist bass erstaunt. Philip grinst.

Das U-19-Rennen heißt am kommenden Sonntag Philip-Klein-Gedächtnisrennen

Zur Beerdigung mieten die Eltern eine Trauerhalle für 70 Menschen. Es kommen über 400. Viele tragen Radtrikots. 1000 Rennfahrer haben eine Sternfahrt für Philip gemacht, einer fährt mit Philips Konterfei auf dem Trikot nach Portugal. Das U-19-Rennen „Rund um die Eigelsteintorburg“ heißt am kommenden Sonntag Philip-Klein-Gedächtnisrennen. Es gibt eine Schweigeminute. Lajos, der fünf, sechs Wochen später wieder aufs Rad gestiegen ist, fährt mit, für Philip. Alle fahren für Philip.

„Er musste wohl sterben, um in die Zeitung zu kommen“, sagt der Vater. Und, ja: Er hätte das hier gewollt. Und, sicher auch: dass die Leute weiter lachen.

„Wir hatten überlegt, was wir am Abend vor dem Rennen machen“, sagt Lajos. „Richtig trinken und dann irgendwie hinterherfahren oder eher ruhig machen am Abend und versuchen, das Rennen zu gewinnen? Wir wussten es noch nicht.“ Philip Klein wäre am Sonntag 18 Jahre alt geworden.

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