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Steampunk-Picknick in Köln„Atmen wird total überbewertet“

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Steampunk-Picknick.

Steampunk-Picknick.

Köln – Sonnenschein – eine beim Picknick gemeinhin gern gesehene Begleiterscheinung, ist bei diesem Event nicht vonnöten. Man muss auch keinen gut gefüllten Korb dabei haben. Vielleicht zahlt es sich sogar aus, überhaupt nichts Essbares, sondern nur Sekt einzupacken, weil man sich in einem eng geschnürten Korsett ohnehin nicht den Bauch vollschlagen kann.

Samstagmittag 13.30 Uhr in einem Klettenberger Haus. Noch sitzt Kirsten am Esstisch und sieht so aus, wie ihre Klienten sie kennen. Die 45-jährige Juristin arbeitet als Schuldnerberaterin. In ihrer Freizeit liebt sie es, jemand ganz anderes zu sein. Angefangen habe es vor acht Jahren mit einem Fernsehbericht über das Wave-Gotic-Treffen in Leipzig.

Kirsten sah all die Menschen in teils unfassbar aufwändigen Kostümen und wusste sofort: Da müssen wir mal hin. Was sie nicht ahnte, war, dass sie schon bald selber zahllose Stunden an der Nähmaschine sitzen würde, um mit derselben Begeisterung fürs Detail Gewänder zu schneidern.

Schon immer kostümbegeistert

Obwohl: Als bekennender Karnevalsjeck war sie immer schon kostümbegeistert. „Aber dann bin ich ganz anders unterwegs.“ Anders heißt bunt. Mal als Nutellaglas, mal als Pirat – auf jeden Fall immer in etwas Selbstgemachtem.

Kirsten feiert auch Halloween, dann ist sie natürlich unbunt. Wenn sie die Zeit hätte, würde sie selbst bei „Jeck im Sunnesching“ mitmischen – auch wenn das überhaupt nicht vergleichbar sei mit dem heutigen Vorhaben: Einem Steampunk-Picknick im Volksgarten.

Steampunk sei eine Subkultur; eine Bewegung, die in den 1980er Jahren aus der Literatur heraus entstanden sei. Als Urväter gälten Schriftsteller wie Jules Verne oder HG Wells, die Anfang des 19. Jahrhundert mit ihren Zeitreise-Geschichten gewissermaßen Science Fiction schrieben. Daher spiele bei den Gewandungen, an die sich die Steampunker anlehnen, Nautisches eine große Rolle; ferner das Luftschiffthema, außerdem Sanduhren und überhaupt Uhren.

Entsprechend der Mode während der viktorianischen Zeit tragen die Steampunkerinnen Kleider mit Korsett und Tournüre, jenem Dessous, das das Hinterteil hübsch aufpuscht. Das Hochgeschlossene, das die viktorianische Mode teilweise kennzeichnet, „wandeln wir aber gerne ab“, verrät Kirsten lachend.

Atmen wird überbewertet

Die Türglocke verkündet die Ankunft von Freundin Silke und deren Partner Michael (47). Die 44-Jährige Anwältin trägt einen bodenlangen schwarzen Rock, schwarze Schnürstiefel. Die dunklen Haare sind hochgesteckt. Höchste Zeit, um mit der finalen Verwandlung zu beginnen.

Dass man tunlichst erst die Schuhe anzieht, bevor man sich das Korsett schnüren lässt, gehört zu den Dingen, die Kirsten erstmal lernen musste. „Wenn man das Ding einmal an hat, kommt man nicht mehr an die Füße.“ Silke stützt sich mit den Handflächen gegen den Türrahmen, während Michael an ihrem Rücken die Strippen zieht. „Atmen wird total überbewertet“, sagt die 44-Jährige auf die Frage, ob sie noch Luft bekomme. 

Nach der Schnürung hat Silke etwa zehn Zentimeter weniger Taillenumfang. Augenscheinlich muss man für dieses Hobby auch ein wenig Spaß am Schmerz haben. „Ein bisschen“, gibt Kirsten lachend zu. „Oder sagen wir so: es hilft.“ Am Anfang habe sie noch auf das Sortiment kommerzieller Kostümanbieter zurückgegriffen. Dabei stelle sie fest, dass die Dinge einfach nicht für eine Mehrfachnutzung gemacht sind und begab sich an die Nähmaschine.

Inzwischen bedauert es die 45-jährige, dass das Thema Steampunk auch im Karneval angekommen ist und dementsprechend Fertigkostüme angeboten würden, die das Aushängeschild der Steampunker – ihre Phantasie und Kreativität – konterkarierten.

Für das heutige Picknick hätte sie die Wahl zwischen mehreren selbst geschneiderten Roben. Sie entscheidet sich für ein braunes Ensemble mit Korsett und vorne hochgerafftem Rock. Der Gatte, selbst nur als Zaungast oder Fotograf beim Event, betrachtet seine Frau mit Wohlgefallen. Es geht los.

Kaum Aufsehen erregt

Aufgrund der hohen Temperatur bleibt das Pelzjäckchen im Kofferraum. Dass die Autobauer von heute bei der Konstruktion ihrer Karossen nicht an Korsett tragende Damen gedacht haben, gehört zu den peinigenden Randerscheinungen, an die sich Kirsten und Silke gewöhnt haben. Was ebenfalls ein wenig schmerzt ist die Tatsache, dass man in dieser Stadt – anders als in Leipzig – mit einer wie auch immer gearteten Gewandung kaum noch Aufsehen erregt. Man kennt das ja schon: Viele Kölner nutzen wirklich jede Gelegenheit, um aus der Rolle zu fallen.

Als am frühen Nachmittag Dutzende von Zylinder tragenden Gestalten den Volksgarten ansteuern, wird das zwar von Passanten zur Kenntnis genommen, aber weniger begafft als ein Verkehrsunfall. Dabei ist es so hübsch anzusehen, wie die Damen zur Picknickwiese schreiten und dabei mit ihren ausladenden Reifröcken das Laub vom Weg fegen.

Von Weitem sieht man Nora näherkommen, eine imposante Erscheinung, die schon ohne Zylinder 1,90 Meter misst. Die promovierte Chemieingenieurin ist praktisch jedes Wochenende auf einem Steampunk-Event ähnlich wie Brigitte (66) oder Clemens (59), der in diesem Jahr 17 Tage Urlaub nimmt, um auf Zeitreise gehen zu können. Es gebe aber auch Leute, weiß Kirsten, die praktisch jede Minute ihrer freien Zeit für die Kostümanfertigung oder Steampunk-Treffen nutzten. Wenn in Deutschland kein Event stattfinde, reise man eben für ein langes Wochenende nach Großbritannien.

Auf dem Rasen sind Decken ausgebreitet, auf denen Etageren mit Gebäck und Teller mit Goldrand drapiert wurden. Die Steampunker sind aus ganz NRW und teils von noch weiter angereist. Man sieht Herrschaften mit so viel Uhrmechanik am Hut, dass man sich fragen könnte: Ticken die noch richtig?

Aber man muss eingestehen, dass selbst die obligatorische Stempelung des Zeitreisepasses mit einer bewundernswert heiteren Ernsthaftigkeit vonstattengeht. Für die Dauer von ein paar Stunden kann man in dieser Szenerie völlig aus den Augen verlieren, dass die Welt woanders unfriedlich ist. Logisch! Wir sind hier ja auch in einer ganz anderen Zeit.

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