Steigende InobhutnahmenLetzte Zuflucht für Jugendliche im Reichensperger-Haus

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In der Einrichtung gibt es immer mehr Bewohner, die von ihren Eltern einfach rausgeschmissen wurden.

In der Einrichtung gibt es immer mehr Bewohner, die von ihren Eltern einfach rausgeschmissen wurden.

Köln – Die Sonnenstrahlen blenden. Jana blinzelt und hebt trotzig das Kinn. Sie bleibt sitzen, auf der Mauer im Garten, wo sie mit zwei anderen Mädchen auf ihre Betreuer wartet. Bowlen steht auf dem Programm. Der Ausflug ist eine willkommene Abwechslung im Alltag des Reichensperger-Haus, wo die jungen Frauen wohnen, übergangsweise.

Bei dem großen weißen Gebäude an der Clarenbachstraße handelt es um die „Inobhutnahme von in Not geratenen Jugendlichen“ des Sozialdiensts Katholischer Frauen (SKF). Wer dort einzieht, ist zwischen 14 und 17 Jahre alt – und hat kein anderes Dach mehr über dem Kopf. „Meist sind es Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern leben können“, sagt Dina Hollmann, die das Reichensperger-Haus seit 15 Jahren leitet. Manchmal handelt es sich auch um Jugendliche, die in ihrer Wohngruppe, die heute die ehemaligen Kinderheime ersetzen, nicht klarkommen.

Unterscheidliche Gründe für Scheitern des Familienlebens

Die Gründe für das Scheitern des Familienlebens sind so unterschiedlich wie die jungen Schützlinge des Reichensperger-Hauses selbst. Dina Hollmann hat vieles erlebt: Manche seien von ihren Eltern misshandelt worden, schildert sie. Manchmal seien Vater und Mutter aber auch einfach von einem schwer zu erziehenden Kind überfordert. Es gäbe immer mehr Eltern, die die Jugendlichen herausschmeißen. „Als ich hier angefangen habe, war es noch oft so, dass Väter oder Mütter hilflos hier vor der Tür standen und ihr Kind wieder abholen wollten. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Heute kämpfen wir meist darum, dass wir überhaupt in Kontakt mit den Eltern treten können.“

Die Zahl der Jugendlichen, die von Jugendschutzstellen wie dem Reichensperger-Haus ist Obhut genommen werden müssen, sei stark gestiegen, sagt Hollmann. Das bestätigt auch Anne Rossenbach, Pressereferentin des Sozialdienstes Katholischer Frauen: „Laut dem Bundesamt für Statistik gab es im Jahr 2015 über 77.000 Fälle von Inobhutnahmen bundesweit. Zehn Jahre vorher waren es die Hälfte“.

Das habe auch einen positiven Grund, erläutert Rossenbach. Das Umfeld, die Schule und die Nachbarn seien mittlerweile viel sensibler für häusliche Gewalt, würden auf Verletzungen oder auf auffälliges Verhalten bei Kindern achten und sich an Jugendämter wenden. Es gäbe aber auch andere Ursachen. „Es wird für Eltern immer schwieriger, schwer zu erziehende Kinder auszuhalten, weil sie neben der Arbeit nicht mehr so viele Ressourcen haben, oft auch keine Angehörigen, die einspringen könnten.“ Die Unsicherheit habe zugenommen.

Vorwiegend Mädchen kommen ins Reichensperger-Haus

Viele Menschen machten sich Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz. Armut sei ein großes Thema. Sie destabilisiere die Familien. „Wenn seit Jahren beklagt wird, dass die Kinderarmut steigt, immer mehr Eltern prekär Geld verdienen, trotzdem aufstocken müssen und die Mieten immer teurer werden, dann kann man die steigende Zahl der Inobhutnahmen nicht als individuelles Versagen sehen. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen“, sagt Rossenbach. 18 Einzelzimmer und drei Appartements für Jugendliche, die etwas länger bleiben, hat das Reichensperger-Haus für Jugendliche zur Verfügung.

Vorwiegend Mädchen schlüpfen dort unter. Für Jungs hat der Verein „Auf Achse“ sein Angebot aufgestockt. Daher sind männliche Bewohner an der Clarenbachstraße die Ausnahme. „Aber wir wissen nie, wer kommt“, schildert sie. „Wir sind das letzte Glied in der Reihe, wir dürfen anders als Wohngruppen niemanden rausschmeißen“, betont Hollmann.

Mit 18. Geburtstag entstehen drastische Folgen

Nach dem Gesetz dürften Minderjährige nicht auf der Straße stehen: „Wenn sie dann volljährig sind schon.“ So hat es für die Schützlinge des Reichensperger-Hauses drastische Folgen, wenn sie dort ihren 18. Geburtstag feiern: „Die jungen Menschen gehen dann in die Obdachlosigkeit“, sagt die Einrichtungsleiterin. „Sie müssen sich einen Platz in den Notfallschlafstellen besorgen.“ Ihr Team versucht möglichst vorher, einen Ort zu finden, an dem sie langfristig leben können, eine betreute Wohngruppe etwa.

Theoretisch dürfen die Jugendlichen nicht länger als drei Wochen im Reichensperger-Haus bleiben. Aber das sei unrealistisch, sagt Hollmann. Es dauere, bis feststeht, wie und wo den jungen Menschen am besten geholfen werden kann. Schon die nötigen Gänge zu den Behörden würden oft mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Jana hat den Absprung innerhalb von drei Wochen geschafft. Ein paar Tage noch, dann zieht die 17-Jährige in eine Wohngruppe. „Und dann suche ich mir eine Ausbildung, möglichst als Garten- und Landschafts- oder Gerüstbauerin“, erzählt das Mädchen. Sie wirkt optimistisch. In der Notunterkunft an der Clarenbachstraße fühle sie sich wohl, versichert sie. „Die sind echt nett hier. Hier können wir einfach so sein, wie wir sind. Wir lachen ganz viel mit den Betreuern. Die haben einen krassen Humor.“ Aber natürlich vermisse sie ihre Mutter und ihren kleinen Bruder. Gemeint ist ihre Pflegefamilie. „Ich habe auch eine leibliche Mutter und Geschwister“, erzählt Jana. „Nur zu meinem Erzeuger habe ich keinen Kontakt. Wie auch? Der sitzt ja im Knast.“ Ganz kurz ist das Lächeln weg, sind Trauer und Wut sichtbar.

Viele Bewohner sind Außenseiter in ihren Familien

Jana stand vor 20 Tagen mit ihrer Pflegemutter vor der Tür, so steht es im Protokoll der Akte, die ihren richtigen Namen trägt. Für diesen Bericht wurde er geändert. Sie könne nicht mehr in der Familie leben, erklärten Mutter und Tochter einvernehmlich. „Wegen der Vorfälle mit ihrem Pflegevater“, sagte Jana. Was geschehen ist, wollte sie nicht erzählen. „Weil sie sich nicht an Verabredungen hält“, lautete die Begründung der Pflegemutter für Janas Auszug. Beim Abschied weinten beide. Der Akte lässt sich auch entnehmen, dass das Mädchen schon viel Erfahrung mit Jugendhilfeeinrichtungen hat, auch mit psychotherapeutischer Behandlung. Das einschlägige Fachvokabular ist ihr vertraut: „Jana bezeichnet sich selbst als Borderlinerin.“

Vielleicht ist sie auch einfach ein typischer Fall, ein „Aschenbrödel“, wie viele Kinder, die im Reichensperger-Haus stranden. In ihren Familien sind sie Außenseiter, weil die Eltern sich getrennt haben, Vater oder Mutter einen neuen Partner gefunden und mit ihm weitere Geschwister bekommen haben. So ein Aschenbrödel-Mädchen lebt seit vier Monaten im Reichensperger-Haus. Sie sei Stammkundin, erzählt Hollmann. Sie habe eine leibliche Mutter, einen Stiefvater, drei jüngere Stiefgeschwister. Der neue Partner ihrer Mutter habe irgendwann gedroht: „Entweder die Älteste geht oder ich.“ Das Mädchen zog den Kürzeren. Sie stand auf der Straße. Ihr Zimmer war schnell von den jüngeren Geschwistern belegt. „Wir erleben es auch, dass Eltern einfach das Türschloss austauschen, damit die Jugendlichen nicht mehr ins Haus kommen“, schildert Hollmann.

Die Folgen solcher Erfahrungen sind für die Kinder gravierend: Das Mädchen fand zwar ein Ersatz-Zuhause bei einer Frau, die sie betreute, aber sie brach aus, erzählt Hollmann.

Jugendliche befinden sich in Abwärtsspirale

So ähnlich lief es auch bei den nächsten Wohnorten. Es wurde ein Muster. „Unsere These ist“, sagt Hollmann, „dass sie die Bindung immer zerstört, wenn sie eng wird.“ Das sei das Resultat der frühen Erfahrung, dass nahe Beziehungen tiefe Verletzungen verursachen. Seit Jahren landet die junge Frau immer wieder im Reichensperger-Haus, sieht andere kommen und gehen, bleibt selbst übrig. In der letzten Zeit geriet sie zunehmend in ein unstetes Leben mit wechselnden Freunden und Drogen. „Es wird immer schwieriger für dieses Mädchen, einen Platz zu finden“, sagt Hollmann. Es sei ein trauriger, aber zugleich klassischer Fall.

Viele der Jugendlichen befinden sich in einer Abwärtsspirale, Hollmann und ihre Mitarbeiter versuchen sie irgendwie zu stoppen. Manchmal bekommen sie aber auch die Kurve. „Kürzlich“, sagt die Leiterin des Reichensperger-Hauses, „stand ein junger Mann vor der Tür. Er hatte seinen Hochschulabschluss in der Tasche und erzählte uns, dass er für einige Zeit einmal hier gewohnt hat.“

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