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„Ich weiß es nicht“Der verbotene Satz in der politischen Welt unserer Zeit

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Nichtwissen oder Unsicherheit ist in der heutigen Zeit ein Unding.

Ich hatte einmal einen Vorgesetzten, der immer freitagmittags von mir wissen wollte: „Herr Nägele, sagen Sie mal, wie spielt der 1. FC Köln am Wochenende?“ Weil ich damals viele Details dieses Vereins aus der Nähe kannte und mein Geld vor allem damit verdiente, darüber zu schreiben, erwartete der Mann eine verbindliche Auskunft. Ich aber enttäuschte ihn jedes Mal mit der Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Vielleicht ist deshalb nicht mehr aus mir geworden.

Der verbotene Satz

„Ich weiß es nicht“ ist ein verbotener Satz, der sehr viele Geschäftsmodelle der öffentlichen Meinung und die Reste der politischen Diskussion in kürzester Zeit ruinieren würde. Man stelle sich vor, bei Will, Plasberg, Lanz oder wie sie alle heißen, wird der Experte gefragt: „Was ist denn da genau los in Syrien? Wer ist schuld?“ Und der würde achselzuckend sagen: „Also ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.“ In leichter Panik würden alle den Gegenexperten neben ihm anblicken. Und der würde seufzen: „Ich weiß es doch auch nicht.“ Das wäre, als hätte der heilige Blitz vom Himmel eingeschlagen und das Fernsehstudio mitsamt allen Menschen darin in einen rauchenden Haufen Asche verwandelt.

Wir dürfen nicht unfair zu diesen Leuten sein. In unserem stark von den Prinzipien der Ökonomie geprägten Lebensmodell hat jeder zu liefern, was von ihm verlangt wird. Der Bäcker die Brötchen, der Friseur den Haarschnitt, der Experte eine begründete Erklärung, die mit einer eindeutigen Haltung verbunden sein muss. Den Satz „Ich weiß es nicht“ will keiner haben. Für eine Politikerin oder einen Politiker würde er das Ende bedeuten, denn niemand würde einen Menschen in ein wichtiges Amt wählen, der offen zugibt, in einer bedeutenden Angelegenheit zu keinem Schluss gekommen zu sein. Es befindet sich eben nicht jeder in der beneidenswerten Position meiner Oma, die uns Kindern auf Fragen wie: „Gibt es UFOs, Oma?“ geantwortet hat: „Kinderchen, woher soll ich denn das wissen?“

In der Bekenntnis des Nichtwissens liegt Trost

Was in der Alleswisserzeit kaum mehr vorstellbar scheint, ist der Trost eines solchen Bekenntnisses. Meine Oma hatte viel erlebt. Sie war als Waise adoptiert worden, hatte zwei Weltkriege ertragen und fünf Kinder großgezogen, von denen sie drei wieder hat sterben sehen, bevor sie sich entschloss, im Alter von 94 Jahren einzuschlafen. Und wenn dieser weise Mensch, so dachte ich mir als Kind, etwas auch nicht weiß, dann kann ich mit meiner Erkenntnislücke vielleicht ganz gut leben. Diese Form der Demut ist auf unseren Alltag jedoch schwer anwendbar. Außerdem gibt es das Internet. Und das Internet weiß alles. Was von diesem Wissen richtig ist und was falsch, weiß allerdings niemand. Das ist schade, denn die Verhältnisse auf dieser Welt sind so kompliziert, dass jede Hilfe willkommen wäre.

Paradox ist allerdings, dass viele als kompetent auftretende Menschen das Ich-weiß-nicht-Gesicht machen und händeringend Beschwörungsformeln von sich geben in Situationen, wo das gar nicht sein müsste. Zum Beispiel bei der Frage: Wann hat das im Nahen Osten alles begonnen, warum hört es nicht auf und woher kommt dieser Hass? Das weiß man. Es ist Geschichte. Dazu muss man nicht einmal bis zu den Kreuzzügen zurückblicken. Hier ein Beispiel: Im Mai 1916 haben Frankreich und England den Teil des Nahen Ostens, der damals unter osmanischer Herrschaft stand, im Sykes-Picot-Abkommen geheim unter sich aufgeteilt, da der Fall der Türken zu erwarten war.

Auf manche Fragen gibt es sehr wohl Antworten

Damit war der Grundstein vieler heutiger Konflikte gelegt. Man erfand den Kunststaat Irak, zog willkürlich Grenzen, ließ eine sunnitische Minderheit eine schiitische Mehrheit regieren, unterstützte aus rein wirtschaftlichen und machtpolitischen Aspekten Despoten, wo sie nützlich waren, und schaffte sie ab, wo sie den Interessen des Westens im Weg standen. Das ist gesichertes, unparteiisches Wissen wie der sowjetische Überfall auf Afghanistan und die beiden Irak-Kriege. Aber hier, wo die Fakten bekannt sind, ist das Wissen offenbar nicht sehr gefragt. Stattdessen widmen wir uns mit Freude der Spekulation.

Und so wird weiterhin alles für einen normalen Menschen schwer Fassbare erklärt auf eine Weise, die keinen Zweifel zulässt und niemand steht auf und sagt: „Hey Leute, das glaubt ihr doch selbst nicht!“ Wenn mich jetzt jemand fragen würde, was man dagegen tun kann und wie die Alternative aussähe, müsste er mit einer ehrlichen Antwort leben.

Ich weiß es nicht.

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