Christos-Projekt The Floating Piers„Es ist wie auf einem Sonnenstrahl zu laufen“

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Menschen laufen auf einem Steg der „Floating Piers“ über das Wasser.

  • Die Stege des Kunstprojekts „The Floating Piers“ bestehen aus 220.000 Kunststoff-Schwimmwürfeln und wurden mit gelb-orange schimmerndem Polyamidgewebe überzogen.
  • Das Projekt hat 15 Millionen Euro gekostet, Christo selbst hat es finanziert und stellt es kostenlos zur Verfügung.
  • Das Leben der gerade einmal 1700 Inselbewohner steht derzeit Kopf - tausende Menschen strömen nach Monte Isola.

Iseo – Signora Teresa hat den Stuhl nach draußen gestellt, auf den leuchtend gelben Stoff, der bis an ihre Küchentür reicht. Drinnen läuft der Fernseher, aber was sich auf der sonst so beschaulichen Monte Isola abspielt, ist viel spektakulärer. Ein endloser Strom in vielen Sprachen parlierender Menschen schiebt sich über den gelb verhüllten Uferweg und an der Küchentür von Teresa Archetti vorbei.

Die 88-Jährige, die ihr Leben auf der Insel im oberitalienischen Iseosee verbracht hat, schaut nur und staunt. „Es ist eine Invasion!“, ruft ihre Tochter Maria Rosa aus der Küche. Dann streckt sie den Kopf durch den Türvorhang und sagt lachend: „Aber wir alle hier finden Christos Projekt toll. Er macht unsere Insel berühmt!“

Stege zeitweise wegen Überfüllung geschlossen

Die Monte Isola und ihre 1.700 Bewohner sind sonst nur per Boot erreichbar. Doch jetzt ist die Insel Teil der Installation „The Floating Piers“ des bulgarisch-amerikanischen Verhüllungskünstlers Christo und seit Samstag über schwimmende Wege zu Fuß erreichbar. Gleich am Eröffnungstag strömten 55.000 Menschen auf die 16 Meter breiten Stege, die Christo aus 220.000 Kunststoffwürfeln bauen und mit dahliengelb schimmerndem Polyamid-Gewebe beziehen ließ. Zeitweise mussten sie wegen Überfüllung geschlossen werden.

Viereinhalb Kilometer lang ist Christos gelbes Band im Iseosee, ein Wechsel aus festem und schwankendem Untergrund, denn auch Teile des Ufers sind verhüllt. Die sich im Rhythmus der Wellen wiegenden Würfel und der Stoff sollen das Gefühl geben, man laufe über Wasser. „Das Projekt zu sehen reicht nicht“, hat der 81 Jahre alte Künstler betont, „man muss es spüren“. Und zwar am besten mit nackten Füßen. Die Stege sind bei freiem Eintritt 16 Tage rund um die Uhr geöffnet, außer bei Gewitter.

Sonne, Regen, Wind, Tag, Nacht – all das sei Teil des Werks, sagt Christo. Er wünscht sich, dass es den Leuten Freude bringt. So wie ihm und seiner 2009 verstorbenen Frau Jeanne-Claude, als sie die Idee vor einem halben Jahrhundert entwickelten. Nun erst hat Christo sie umgesetzt, es ist sein erstes Großprojekt seit dem Tod seiner Frau.

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Die 88-jährige Inselbewohnerin Teresa Archetti mit ihrer Tochter Maria Rosa.

Zwar behalten am Eröffnungstag die meisten Besucher ihre Schuhe an. Freude stellt sich dennoch ein. Die Stimmung auf den gelben Stegen ist fröhlich. „Fantastisch, ein umwerfender Anblick“, lauten die Kommentare. „Man spürt so viel positive Energie“, sagt ein Berliner, einer von vielen deutschen Besuchern. Dass es ein ganz unkommerzielles Ereignis sei, mache es noch schöner.

„Es ist wie auf einem Sonnenstrahl zu laufen“

Wie sich das Laufen auf den schwankenden „Floating Piers“ tatsächlich anfühlt, ist schwer zu beschreiben. „Wunderbar“, sagt eine Frau aus Bergamo, „besser, als ich es mir vorgestellt hatte.“ Ihr Mann hat das Gefühl, auf einem Walrücken zu stehen, „oder beim Standup-Paddeln“.

Ganz euphorisch angesichts des im gleißenden Licht hellgelb und orangerot changierenden Stoffes ist eine Deutsche: „Es ist wie auf einem Sonnenstrahl zu laufen“. Damit der Effekt erhalten bleibt, muss das in Deutschland produzierte lichtechte, wasser- und schmutzfeste Gewebe täglich von Algen und Entendreck gereinigt werden, verrät eine Frau aus Christos Team.

Irgendwann gegen Mittag brandet auf den Stegen Beifall auf. Ein Doppeldecker-Boot fährt vorbei, darauf steht zwischen Begleitern ein dünner Mann mit weißen Haaren und roter Windjacke. Es ist Christo. Die Menschen zücken Kameras und Handys. „E´ un genio“, sagt eine Italienerin - er ist ein Genie. Christo wird wohl noch häufiger gesichtet werden, er bleibt bis zum Ende der Installation am Iseosee.

Christo-Projekt fasziniert Menschen auf der ganzen Welt

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Christo lässt Menschen über das Wasser gehen - wenn es zu sonnig wird, muss eben auch mal der Regenschirm her.

Echte Fans sind von weither gekommen. Thomas und Erica etwa, Ärzte aus Kalifornien. Für sie ist es schon das vierte Christo-Projekt. „Seine Kunst ist vorübergehend“, sagt Thomas, „man kann sie nur für kurze Zeit genießen. So wie das Leben, das vergänglich ist.“ Erica fasziniert, dass da einer seine Ideen und Träume mit viel Aufwand wahr macht und das Resultat wieder zerstört.

Der Berliner Matthias Osthaus ist seit der Reichstags-Verhüllung ein Christo-Verehrer. Als er im Internet sah, dass Helfer gesucht werden, meldete er sich. Jetzt gehört er zum Team und verschenkt kleine Stücke des gelben Stoffes an die Leute „Christo verwandelt Realität in Poesie“, sagt der grauhaarige Mann, ein selbstständiger Handwerker. Ein Tourist fragt, ob er gratis arbeite. „Christo nimmt keine Geschenke“, sagt Osthaus, „wir werden bezahlt“.

15 Millionen Euro Kosten - Christo finanzierte selbst

15 Millionen Euro kosten „The Floating Piers“. Der Künstler allein finanziert das, aus dem Verkauf seiner Skizzen und Bilder an Museen und Sammler. Niemand soll an seinen Projekten verdienen, sagt er. Am Iseosee und auf Monte Isola hofft man dennoch darauf. Hotels und Pensionen sind vielerorts ausgebucht, bis zu eine Million Besucher werden erwartet. Der touristisch fast unbekannten Region bringt Christo einen tollen Werbeeffekt.

Bis die Stege nach dem 3. Juli abgebaut werden, können Signora Teresa und ihre Tochter noch von der Küchentür aus bestaunen, wie ein Kunstwerk die Welt auf ihre Insel holt. „Für meine Mutter, die Monte Isola kaum verlassen hat, ist das unglaublich“, sagt Maria Rosa. „Sie hat den Krieg erlebt – und jetzt das.“

Begeisterung im Netz für die „Floating Piers“

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