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ExklusivZurück in Stockhausens Wiege

Lesezeit 7 Minuten

Eigentlich müsste man es als Weltkulturerbe anmelden, das Studio für elektronische Musik des WDR. Nicht nur, weil es weltweit das erste seiner Art war - Hanns Hartmann, der damalige Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks, hatte im Herbst 1951 seine Einrichtung abgesegnet. Auch, weil hier mit Hilfe von Rauschgeneratoren, Ringmodulatoren, Bandschleifen und Oszillatoren am Wallrafplatz die ersten Meisterwerke der elektronischen Musik entstanden, allen voran Karlheinz Stockhausens "Gesang der Jünglinge" (1955-56). György Ligeti, Pierre Boulez, Luigi Nono, Iannis Xenakis und Mauricio Kagel fanden hier neue Klänge für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In den 50er und 60er Jahren galt Köln als Mekka der Neuen Musik. Hier wurde auch die Idee vom Studio als Instrument geboren, die einige Jahre später Phil Spector, die Beatles, die Beach Boys und auch die Kölner Stockhausen-Schüler Can in die populäre Musik übertrugen. Wer heute das Radio anschaltet, ob Chartspop oder Neue Musik, hört mit hoher Wahrscheinlichkeit ein fernes Echo aus dem Studio für elektronische Musik, Kölns Geschenk an die Musikgeschichte.

Doch nun wird das Studio für elektronische Musik mit seinen wuchtigen analogen Gerätschaften die Stadt verlassen und ins Haus Mödrath ziehen, einem frisch restaurierten Herrenhaus aus den 1830er Jahren. Beziehungsweise in ein 1981 errichtetes, zweigeschossiges Nebengebäude, mit über 300 Quadratmeter Grundfläche für das Studio.

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Haus Mödrath, den Einheimischen als Burg Mödrath bekannt, liegt bei Kerpen, in unmittelbarer Nähe des Marienfeldes, auf dem Papst Benedikt XVI. im Jahr 2005 die Abschlussmesse des Weltjugendtages mit mehr als einer Million Gläubigen gefeiert hatte. Zum Dom sind es von dort aus etwa 20 Kilometer Luftlinie. Aber man befindet sich eben doch außerhalb der Stadt, deren beste, innovativste Kräfte das Studio für elektronische Musik repräsentiert. Das könnte man einen Skandal nennen. Tatsächlich aber bedeutet der Umzug die Erweckung des Studios aus seinem langen Dornröschenschlaf.

Der begann, als der WDR im Jahr 1999 die Räume in der Annostraße kündigte, in die das Studio 1987 umgezogen war: Die hier versammelten, hochkomplex verschalteten Geräte galten dem Sender als nicht mehr zeitgemäß, sollten an die Studios der umliegenden Musikhochschulen verschickt, und damit über ganz Nordrhein-Westfalen und weiter verstreut werden. Alles musste raus: Das hätte das Ende der ruhmreichen Einrichtung bedeutet. Karlheinz Stockhausen protestierte mit einem offenen Brief, viele andere folgten.

Auch Karl Karst, der gerade erst sein Amt als Programmchef des Kulturradios WDR 3 angetreten hatte, war besorgt. Karst überzeugte seine Vorgesetzten nicht nur erfolgreich von der kulturellen Bedeutung des Studios, sondern fand auch gemeinsam mit engagierten Fachkollegen des WDR eine neue Unterkunft für den geschichtsträchtigen Maschinenpark: einen großen Lagerraum in Köln-Ossendorf.

Dort rostete das Studio freilich nicht nur vor sich hin, es wurde, mit Hilfe des Toningenieurs Volker Müller voll funktionsfähig wieder aufgebaut. Müller hatte Anfang der 1970er Jahre hier angefangen, er gilt als lebendes Gedächtnis des Studios und betreut es, obwohl längst pensioniert, bis heute. Im Ossendorfer Abseits generierte das Studio zwar keine neue Musik mehr, doch ganz fair ist die Dornröschen-Metapher nicht. Karst nutzte die Zeit, um die Bestände des Studios vollständig zu archivieren, das analoge Bandmaterial zu digitalisieren. "Das ging bis zu den von Stockhausen selbst beschrifteten Rückseiten der Tonbänder", erinnert sich Karst. "Unsere Techniker haben eine kleine Kamera am Tonkopf befestigt und so kurze Videos der Beschriftungen hergestellt."

Nur das Problem, was auf lange Sicht mit der analogen Hardware passieren sollte, blieb ungelöst. Sollte sie museal ausgestellt werden? Dafür war das schwer zugängliche Ossendorfer Industriegebiet kaum der geeignete Ort. Oder sollte sie wieder in Betrieb genommen werden? Immer wieder fragten Komponisten nach Geräten aus dem Bestand, bestimmte Sounds ließen sich einfach nicht digital nachahmen.

Karst schwebte eine Zukunft des Studios als "benutzbare Reliquie" vor. Der Wellenchef nahm Gespräche mit der Stadt Köln auf. Erste Überlegungen sahen eine Unterbringung im Museum für Angewandte Kunst vor. Eine optimale Lösung, waren sich alle Beteiligten einig. Doch bei der Präsentation der ausgearbeiteten Pläne wurden die WDR-Vertreter von der Nachricht überrascht, dass der Förderverein des Museums das Studio auf keinen Fall im Haus haben wollte. Man befürchtete, dass elektronisch erzeugte Schwingungen die Porzellansammlung beschädigen könnten.

Auch alle weiteren Umzugspläne zerschlugen sich, im Gespräch waren unter anderem das Kunsthaus Rhenania, die ehemalige Waggonfabrik Köln-Deutz sowie die nie realisierten Erweiterungsbauten der Musikhochschule und des Stadtmuseums. Zuletzt glaubte man, Quartier im Mediapark gefunden zu haben, im Agfa-Haus. Doch der Stadt drohte Anfang der 10er Jahre eine Haushaltssperre, da wollte man sich nicht auf Jahre hin zusätzliche Mietkosten aufbürden. Auch wenn in anderen Bereichen mit erheblich höheren Beträgen sehr viel lockerer umgegangen wurde.

Inzwischen drängte die Zeit. Der WDR wollte nun auch die Ossendorfer Räume abmieten. Der rettende Anruf erreichte Karst vom ehemaligen Intendanten Fritz Pleitgen. Ob er immer noch eine Unterkunft für das Studio für elektronische Musik suche?, wollte Pleitgen wissen. Die Tochter von Herbert Eimert, dem Gründer und ersten Leiter des Studios, hatte sich an ihn mit dem Angebot eines Mäzens gewandt, der in der Öffentlichkeit ungenannt bleiben wollte. Der hatte gerade Haus Mödrath gekauft und wollte es zu einer Ausstellungsfläche für moderne Kunst umbauen. Keine leeren Worte: Seit April 2017 empfängt das Herrenhaus unter dem Namen "Räume für Kunst" die Öffentlichkeit.

Der anonyme Mäzen hatte herausgefunden, dass seine Neuerwerbung zwischen den Jahren 1925 und 1932 als Wöchnerinnenstation gedient hatte. Am 22. August 1928 hatte eben hier Gertrud Stockhausen ihren ersten Sohn Karlheinz entbunden. Ohne Herbert Eimerts große Verdienste schmälern zu wollen: Mit dem Studio für elektronische Musik kehrt die Wiege der elektronischen Musik an den Geburtsort ihres größten Komponisten zurück. Ein verführerischer Gedanke. Nun bot der Mäzen an, das leerstehende und baulich bestens geeignete Nebengebäude mietfrei zur Verfügung zu stellen.

Karl Karst war angetan - und ging dennoch bedächtig vor. Er gründete im März dieses Jahres einen Projektkreis aus Vertretern von WDR und Haus Mödrath, den Musikhochschulen des Landes, der Kunsthochschule für Medien, der Stadt Köln sowie der Deutschen Gesellschaft für Elektroakustische Musik. "Der Vorschlag stieß auf einhellige Begeisterung", sagt Karst. Es sei eine Mäzenatenleistung nach alter Couleur. Trotzdem habe er sich noch einmal bei allen Experten nach Möglichkeiten erkundigt, das Studio weiterhin in Köln anzusiedeln. Das blieb ohne positiven Bescheid, die dauerhaften Mietkosten bleiben das Hauptproblem.

Könnte die nicht einfach auch der WDR übernehmen? Nein, sagt Karst, denn der Besitz des Studios soll in eine öffentliche gemeinnützige Institution überführt werden, welche die Zukunft des Studios als künstlerischen Aktivposten sichern soll. "Wenn das Studio dauerhaft öffentlich nutzbar gemacht werden soll, etwa für Artists in Residence oder Studenten, kann es nicht den relativ strengen Hausregeln des WDR unterliegen. Der WDR darf zudem auch keine Spenden annehmen", sagt Karst.

Der Aufbau einer gemeinnützigen Einrichtung erfolgt nun parallel zu den Umzugsvorbereitungen. An der sollen sich unter anderem die Institutionen beteiligen, die bereits dem Projektkreis angehören, aber auch nationale und internationale Partner, wie das von Pierre Boulez gegründete IRCAM in Paris und private Sponsoren. Diese Institution wird dann auch festlegen, zu welchen Teilen das Studio Komponisten, Studierenden oder Besuchergruppen zur Verfügung gestellt wird. Den Umzug und Umbau des Studios finanziert allerdings noch der WDR.

Im Erdgeschoss sollen Künstlerateliers und Seminarräume entstehen, das Studio selbst zieht in den ersten Stock, die Räume sind hier fast sieben Meter hoch. Karl Karst ist zuversichtlich: Das Studio für elektronische Musik wird wieder eine lebendige Einrichtung sein, und Köln könnte sich einmal mehr als Metropole der Neuen Musik bezeichnen. Auch wenn sich das Zentrum um ein paar S-Bahnminuten verschoben hat.

Infos

Das Studio für elektronische Musik wurde 1951 gegründet und im WDR-Funkhaus am Wallrafplatz eingerichtet. Erster Leiter war der Komponist Herbert Eimert, ihm folgte 1963 Karlheinz Stockhausen. 2001 wurde das Studio offiziell stillgelegt.

Haus Mödrath ist im April 2017 als privates Kunsthaus neu eröffnet worden. Es ist jeweils am Wochenende von 12-18 Uhr zugänglich. "Räume für Kunst", An Burg Mödrath 1, Kerpen

www.haus-moedrath.de

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