Kommentar zu Demokratie und KriseSchluss mit dem Tunnelblick, Werte wieder herstellen

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Grenze

Grenzübergang nach Tschechien

  • Kontrolle statt Freizügigkeit - Covid 19 bringt all das Faulige wieder zum Vorschein.
  • Der Ausnahmezustand kommt als vernunftgesteuerter Appell daher.
  • Es könnte bald unmoralisch sein, Bevölkerungsgruppen an der Arbeit zu hindern.

Köln – Als das Fernsehen gestern Abend Bilder von der polnisch-deutschen Grenze zeigte und dort Soldaten zu sehen waren, die in schwerer Montur und bewaffnet patrouillierten, entfuhr mir ein spontanes „Oh Gott“. Was derzeit geschieht, wühlt mich in meinem demokratischen Selbstverständnis auf, zu dem essenziell der europäische Gedanke gehört: Nationalstaatlichkeit statt Gemeinschaftssinn, Kontrolle statt Freizügigkeit, autoritäre Ansagen statt Gespräche unter Bürgern.

Covid 19 scheint auf der Welt, scheint ganz besonders aber auch in Europa all das Schlechte, Faulige und Abstoßende wieder hervorzuholen, was wir spätestens mit dem Zusammenbruch der Systemkonkurrenz und dann mit dem Durchbruch der Reisefreiheit im Zuge des Schengener Abkommens als endlich überholt betrachtet haben. Sie merken – das Wort Freiheit kommt in diesen Sätzen häufig vor.

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Das ist natürlich eine emotionale Reaktion. So emotional wie mein anfänglicher Widerwille, mich mit den Konsequenzen der Pandemie, mit den Nachrichten und Warnungen zum Coronavirus auseinanderzusetzen. Wer wird sich von solch einem Virus in die Knie zwingen lassen, und überhaupt: Angst und Panik sind keine guten Ratgeber! Nach und nach wich der Widerstand einer Einsicht, nämlich der Erkenntnis, dass die Vorsichtsmaßnahmen einer rationalen Begründung entspringen – dem Versuch, dem Virus so wenig wie möglich Chancen zu bieten, sich weiter auszubreiten und damit das Risiko eines Kollaps’ des Gesundheitssystems und vermutlich großer Teile der Gesellschaft einzugehen.

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Erstaunliche Konsensbereitschaft

Ähnlich ergeht es mir mit der demokratischen Emotion, wenn ich das mal so nennen darf. Mit einem mulmigen Gefühl verfolgen wir, wie rasant es möglich ist, als selbstverständlich erlebte Rechte außer Kraft zu setzen – das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Versammlungsfreiheit, das auch das Recht auf Demonstration einschließt: Wie kommt es, dass niemand gegen Jens Spahn oder Olaf Scholz demonstriert, und wie kann es sein, dass Vertreter einer Spezialwissenschaft wie der Virologie auf einmal Einfluss auf weitreichende gesellschaftspolitische und ökonomische Entscheidungen nehmen?

Weil – und das ist der zweite, der rationale Schritt, den unsere Gesellschaft in erstaunlicher Konsensbereitschaft tut: weil es gut begründbare Motive für die Handlungen der Politik und die Ratschläge der Virologen gibt. Dagegen lässt sich nicht so leicht mit ebenfalls gut begründbaren Motiven demonstrieren wie etwa gegen die Trägheit der Verantwortungsträger beim Klima. Diese Gründe liegen im Prius der Gesundheit, oder anders ausgedrückt, in der Erhaltung und dem Wert des Lebens an sich, und dies geht allem anderen voraus. Natürlich könnte man den Tod Abertausender in Kauf nehmen, wenn sich dadurch wirtschaftliche Katastrophen vermeiden ließen, aber man tut es zumindest im Augenblick noch nicht. Nicht, weil man es nicht könnte. Wir dürfen es nicht. Es geht um eine moralische Entscheidung.

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Genauso moralisch fundiert ist allerdings die Sorge, dass die Neutralisierung der Bürgerrechte und der im philosophischen Liberalismus des 18. Jahrhunderts begründeten und immer weiter entwickelten demokratischen Praxis den Ausnahmezustand überdauern könnte. Man muss nicht erst nach Ungarn blicken, wo ein Victor Orban sich anschickt, die derzeitige Krise zur unumkehrbaren Ausweitung seiner Machtbefugnisse zu missbrauchen. Auch der polternde Aktionismus eines Markus Söder trägt undemokratische Züge, weil er unterm Schutz des Föderalismus die übrigen Länder umgeht – und sei es nur, weil Söder besonders eifrig sein und sich als Krisenbekämpfungsmusterknabe fürs Kanzleramt empfehlen will.

In der Regel aber kommt der demokratische Ausnahmezustand in Deutschland in der Form abgewogener Besorgnis und vernunftgesteuertem Appell daher. Er sieht aus wie Angela Merkel, neben der Christian Drosten steht. Er ist kommunikativ, wird im Fernsehen erklärt und besitzt einen eigenen Podcast. Das aber erhöht die Gefahr, dass er uns einlullt.

Dabei kommt nun viel darauf an, dass wir an die Zeit nach der Krise denken, dass wir uns schon jetzt darauf gefasst machen, dass es manches zu verteidigen gibt, was im Ausnahmezustand außer Kraft gesetzt wurde. Und es darf nicht verboten sein, schon jetzt darüber nachzudenken, wie sich unsere demokratischen Werte und unsere Wirtschaft möglichst schnell wieder rekonstruieren lassen . Irgendwann könnte der Zeitpunkt kommen, an dem es nicht mehr moralisch geboten ist, alle zur sozialen Isolation zu verdammen. Dann könnte es sogar unmoralisch sein, ganze Bevölkerungsgruppen an der Aufnahme der Arbeit zu hindern, nur, weil sich andere dadurch diskriminiert fühlen könnten.

Trump geht im Ernstfall über Leichen

Unser Liberalismus – das ist nicht parteipolitisch gemeint – ist ein hohes Gut. Nicht der bedingungslose Wirtschaftsliberalismus eines Donald Trump, der im Ernstfall über Leichen geht. Es geht um unsere Freiheit, welche die Freiheit mit einschließt, diese im gebotenen Ausnahmefall zu beschneiden. Der Ausnahmefall aber birgt immer die Gefahr in sich, dass es zum Tunnelblick kommt. Wir müssen uns gerade in einer solchen Zeit die Freiheit nehmen daran zu erinnern, dass der Tunnel ein Ende hat und wir wieder Licht sehen wollen.

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