Kulturwissenschaftlerin Scherbakowa im Interview„Russlands Führung ist unberechenbar“

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Irina Scherbakowa tritt am Mittwoch in Köln auf.

Irina Scherbakowa tritt am Mittwoch in Köln auf.

Frau Scherbakowa, Sie bezeichnen die deutsch-russischen Beziehungen als einen „Scherbenhaufen“. Warum dieses drastische Bild?

Weil tatsächlich fast alles in die Brüche gegangen ist, was seit der Wendezeit in den 1980er Jahren an Vertrauen zwischen den beiden Völkern aufgebaut worden war. Die ehemaligen Kriegsgegner waren sich des Erbes ihrer Geschichte bewusst. In beiden Völkern waren die Erinnerungen an die Tragödie des Krieges und dessen schreckliche Folgen lebendig. Russen und Deutsche waren gleichsam neu vereint in einem „Nie wieder!“ Es hat mir daher sehr eingeleuchtet, dass die Westdeutschen praktisch die Ersten waren, die Michail Gorbatschows Reformkurs in der damaligen Sowjetunion begeistert aufgenommen und unterstützt haben. Heute bestimmt Misstrauen die Beziehungen. Es wird genährt durch das unberechenbare Agieren der russischen Führung.

Was Sie „unberechenbar“ nennen, halten die Unterstützer Wladimir Putins auch hierzulande für verständliche, ja beinahe unausweichliche Reaktionen auf Provokationen und Demütigungen des russischen Nationalstolzes durch den Westen.

Die russische Propaganda zeichnet sehr geschickt das Bild eines belagerten Landes, umzingelt von immer schon feindlich und böswillig gesinnten Mächten. In Wahrheit ist das der Versuch, das eigene Versagen bei der nie zustande gekommenen Modernisierung Russlands oder beim Aufbau eines Sozialstaats anderen in die Schuhe zu schieben und den Schuldigen für die gegenwärtige ökonomische und soziale Krise in einem Gegner von außen zu finden. Zwar ist Deutschland dafür nicht die erste Adresse, aber als Verbündeter der USA, als Nato- und EU-Mitglied eignet es sich eben doch sehr gut zum Feindbild. Ich halte die angebliche Verletzung der russischen Volksseele für einen Propaganda-Mythos. Wenn überhaupt, dann fühlen die Machthaber im Kreml so, aber nicht die „normalen Leute“ – zumindest solange sie nicht von oben aufgestachelt werden.

Aber haben nicht gerade sie unter den Folgen der vom Westen verhängten Sanktionen zu leiden?

Auch das behauptet die russische Propaganda. In Wahrheit sind es die vom Kreml als Gegenmaßnahmen verhängten Beschränkungen des Handels mit dem Westen, die den Menschen zu schaffen machen: Viele Güter des täglichen Bedarfs sind teurer geworden oder fehlen ganz. Und wenn dann die sogenannten „verbotenen Lebensmittel“ ganz gezielt vernichtet werden, dann ist das wirklich gruselig anzuschauen.

Sie befassen sich intensiv mit den Bildern von der Geschichte als Teil einer kollektiven Bewusstseinsbildung. Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem ständigen Rückgriff Putins auf das Zarenreich und sogar auf die Stalin-Ära?

Die Geschichte ersetzt heute in Russland die verloren gegangene Ideologie. Es gibt in Wirklichkeit keine Zukunftsvision für die russische Gesellschaft. Der Begriff „Demokratie“ wird nicht gebraucht, und die gegenwärtigen autoritären Zustände als solche zu benennen, scheut man sich offiziell. Also konzentriert man sich ausschließlich auf die Vergangenheit, glorifiziert die einstige Größe Russlands und beschwört damit den Patriotismus. Den Stolz auf ihr Land sollen die Russen gerade nicht aus Leistungen der Gegenwart beziehen – etwa aus einer Modernisierung ihres Landes oder verbesserten sozialen Standards. Da gibt es nämlich nichts, worauf man stolz sein könnte.

Wohl aber in der Geschichte?

Ja, und zwar wird historische Größe mit starker Führung zusammengedacht. Kein Wunder, dass in dieser Kombination auch eine Persönlichkeit wie Stalin eine neue, positive Bewertung erfährt. Er ist die Symbolfigur eines starken Staates.

Aber wie können die Russen dabei von den Menschheitsverbrechen des Diktators Stalin absehen, von denen Unzählige noch aus eigener Erfahrung oder aus den Erzählungen ihrer Angehörigen wissen?

Das fragen wir uns auch. Ich denke, es hat mit dem Ausbleiben einer echten Aufarbeitung der Geschichte zu tun. Sie ist seit den 1960er Jahren, als sich die Sowjetunion unter Leonid Breschnew von der Stalin-Ära abwandte, auf der Strecke geblieben. Es gab eine kurze Phase Ende der 1980er Jahre, als eine ehrliche Vergangenheitsbewältigung für notwendig erachtet wurde. Aber schon in den 1990er Jahren setzte wieder eine Geschichtsnostalgie ein, die zunächst die Spätphase der Sowjetunion in mildes Licht tauchte und inzwischen sogar geneigt ist, über die Verbrechen der Stalin-Ära hinwegzusehen, ja sie als eine historische Notwendigkeit zu deuten. Deshalb spielt auch die verherrlichende Bezugnahme auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ und den Sieg über den Faschismus eine so große Rolle. Das ist ein Rückfall in der historischen Reflexion noch hinter den XX. Parteitag der KPdSU 1956, auf dem Nikita Chruschtschow die Entstalinisierung einleitete. Den Historikern mag ein solcher Rückschlag vollkommen absurd anmuten. Er zeigt aber die ganze Ambivalenz der Stimmungen im Russland des Jahres 2016.

Die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller hat gesagt: Putin macht mich krank. Sie auch?

Ich bemühe mich, mich nicht anzustecken. Es verlangt volle Vitalität, sich den gefährlichen Entwicklungen in Putins Russland zu widersetzen: der fortschreitenden Beschneidung von Meinungs- und Pressefreiheit, dem Druck auf die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft durch immer strengere Gesetze. Dazu kommt der Bruch internationaler Verträge, die Bedrohung des Friedens in Europa, das Heraufziehen des alten Kriegs-Gespensts. Gerade als Historikerin sollte ich nicht vorschnell in Panikstimmung verfallen – aber meine tiefe Besorgnis kann ich nicht verhehlen.

Das Gespräch führte Joachim Frank

Irina Scherbakowa, geb. 1949 in Moskau, ist Germanistin und Kulturwissenschaftlerin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die „Erzählte Geschichte“ (Oral History). (jf)

Über ihr Buch „Russland-Reflex“ spricht sie am Mittwoch um 19 Uhr in der Stadtbibliothek mit Joachim Frank.

Josef-Haubrich-Hof 1, 50676 Köln. Eintritt: 8 Euro (ermäßigt 6).

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