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Leonardo Boff im Interview„Papst Franziskus ist einer von uns“

Lesezeit 9 Minuten

Berlin – Der Brasilianer Leonardo Boff, geboren 1938, ist Sohn italienischer Einwanderer. 1959 trat er dem Franziskanerorden bei und studierte fünf Jahre in Deutschland.

In den 1980er-Jahren geriet Boff als Hauptvertreter der Befreiungstheologie und wegen seiner Kritik an der Amtskirche in Konflikt mit dem Vatikan und dessen oberstem Glaubenswächter Joseph Ratzinger. Nachdem ihm zwei Mal ein Publikationsverbot auferlegt worden war, trat Boff 1992 aus dem Orden aus und legte sein Priesteramt nieder.

Herr Boff, mögen Sie Weihnachtslieder?

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Was glauben Sie wohl? (singt): „Sti-hil-le Nacht, heilige Nacht...“ In jeder Familie, die Weihnachten feiert, wird das gesungen. Bei uns in Brasilien ist das ebenso Tradition wie bei Ihnen in Deutschland.

Kommt Ihnen diese Art von Weihnachten nicht verkitscht und kommerzialisiert vor?

Das ist von Land zu Land verschieden. Natürlich ist Weihnachten ein großes Geschäft geworden. Aber in alledem ist und bleibt doch die Freude lebendig, das Zusammensein mit der Familie, bei vielen auch das Moment des Glaubens. Und wie ich Weihnachten in Deutschland erlebt habe, ist es ein Fest des Herzens, sehr stimmungsvoll, wunderbar.

Wie passt ein Glaube, der zu Weihnachten von einem „Gott des Friedens“ spricht, zum Unfrieden, den wir allerorten erleben?

Das meiste am Glauben ist Verheißung. Ernst Bloch sagt: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden.“ Die Freude der Weihnacht liegt in dieser Verheißung: Die Erde und die Menschen sind nicht dazu verdammt, dass es immer so weiter geht, wie wir es erleben – mit all den Kriegen, der Gewalt, dem Fundamentalismus. Uns ist im Glauben versprochen, dass am Ende alles gut sein wird; dass wir trotz aller Irrtümer, Irrwege und Rückschläge einem guten Ende entgegen gehen. Die eigentliche Bedeutung von Weihnachten liegt nicht darin, dass „Gott Mensch geworden ist“, sondern dass er gekommen ist, um uns zu sagen: „Ihr Menschen gehört zu mir, und wenn ihr einmal sterben werdet, dann kommt ihr nach Hause.“

Weihnachten heißt: Gott kommt, um uns abzuholen?

Ja. Menschwerdung heißt, etwas von uns ist schon göttlich, verewigt. Das Göttliche liegt in uns selbst. In Jesus hat es sich am deutlichsten gezeigt. Aber es ist in allen Menschen. In einer evolutiven Sicht kommt Jesus nicht von außen zur Welt, sondern wächst aus ihr heraus. Jesus ist die Erscheinung des Göttlichen in der Evolution – aber nicht die einzige. Das Göttliche erscheint auch in Buddha, in Mahatma Gandhi und anderen großen Glaubensgestalten.

Das klingt nicht sehr katholisch.

Sagen Sie das nicht. Die ganze franziskanische Theologie des Mittelalters hat Christus als Teil der Schöpfung begriffen – nicht nur als den Erlöser von Schuld und Sünde, der von oben in die Welt kommt. Inkarnation ist auch Erlösung, ja. Aber zuerst und vor allem ist sie eine Verherrlichung, eine Vergöttlichung der Schöpfung. Und noch etwas ist an Weihnachten wichtig. Gott erscheint in Gestalt eines Kinds. Nicht als alter Mann mit weißem Haar und langem weißem Bart…

So wie Sie...

Also, wenn überhaupt, dann ähnele ich doch eher Karl Marx. Worum es mir geht, ist folgendes: Wenn wir uns am Ende unseres Lebens einmal vor dem göttlichen Richter verantworten müssen, dann stehen wir vor einem Kind. Ein Kind aber verurteilt niemanden. Ein Kind will spielen und mit anderen zusammen sein. Diese Seite des Glaubens muss man neu betonen.

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie, zu deren prominentesten Vertretern Sie gehören, ist durch Papst Franziskus zu neuen Ehren gekommen. Eine Rehabilitation auch für Sie persönlich nach den jahrzehntelangen Kämpfen mit Papst Johannes Paul II. und seinem obersten Glaubenswächter Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI?

Franziskus ist einer von uns. Er hat die Befreiungstheologie zum Allgemeingut der Kirche gemacht. Und er hat sie ausgeweitet. Wer von den Armen spricht, muss heute auch von der Erde reden, weil auch sie ausgeplündert und geschändet wird. „Den Schrei der Armen hören“, das bedeutet, den Schrei der Tiere, der Wälder, der ganzen gequälten Schöpfung zu hören. Die ganze Erde schreit. Also, sagt der Papst und zitiert damit den Titel eines meiner Bücher, müssen wir heute zugleich den Schrei der Armen und der Erde hören. Und beide müssen befreit werden. Ich selbst habe mich in jüngerer Zeit sehr mit dieser Ausweitung der Befreiungstheologie beschäftigt. Und das ist auch das grundsätzlich Neue in „Laudato si“…

… der „Öko-Enzyklika“ des Papstes von 2015. Wie viel Leonardo Boff steckt in Jorge Mario Bergoglio?

Die Enzyklika gehört dem Papst. Aber er hat viele Experten konsultiert.

Hat er Ihre Bücher gelesen?

Mehr noch. Er hat mich um für „Laudato si“ um Material gebeten. Ich habe ihm meinen Rat gegeben und einiges von dem geschickt, was ich geschrieben habe. Das hat er auch verwendet. Manche Leute haben mir gesagt, sie hätten beim Lesen gedacht, „das ist doch Boff!“ Übrigens hat Papst Franziskus zu mir gesagt: „Boff, bitte schick die Papiere nicht direkt an mich.“

Wieso das denn nicht?

Er sagte: „Sonst fangen die Sottosegretari (Mitarbeiter in der Vatikanverwaltung, d.Red.) sie ab, und ich bekomme sie nicht. Schick die Sachen lieber dem argentinischen Botschafter, zu dem habe ich einen guten Draht, dann gelangen sie sicher in meine Hände.“ Dazu muss man wissen, dass der derzeitige Vatikan-Botschafter ein alter Bekannter des Papstes aus dessen Zeit in Buenos Aires ist. Sie haben öfters miteinander Mate getrunken. Einen Tag vor der Veröffentlichung der Enzyklika hat der Papst mich dann noch anrufen lassen, um mir seinen Dank für meine Hilfe auszurichten.

Eine persönliche Begegnung mit dem Papst steht aber noch aus?

Er hat die Versöhnung mit den wichtigsten Vertretern der Befreiungstheologie gesucht, mit Gustavo Gutierrez, Jon Sobrino und eben auch mit mir. Ich habe ihm mit Blick auf Papst Benedikt – respektive Joseph Ratzinger – gesagt, „aber der andere lebt doch noch!“. Das hat er nicht gelten lassen. „Nein“, hat er gesagt, „il Papa sono io“ – „der Papst bin ich“. Wir sollten also ruhig kommen. Da sehen Sie seinen Mut und seine Entschiedenheit.

Warum hat es dann noch nicht geklappt mit Ihrem Besuch?

Ich hatte eine Einladung und war sogar schon in Rom gelandet. Doch just an diesem Tag, unmittelbar vor Beginn der Familiensynode 2015, probten 13 Kardinäle – unter ihnen der deutsche Kardinal Gerhard Müller, Präfekt der Glaubenskongregation – den Aufstand gegen den Papst mit einem an ihn gerichteten Brief , der dann aber auch – o Wunder! – in der Zeitung stand. Der Papst war wütend und sagte zu mir: „Boff, ich habe keine Zeit. Ich muss vor der Synode für Ruhe sorgen. Wir sehen uns ein andermal.“

Auch das mit der Ruhe hat nicht wirklich hingehauen, oder?

Der Papst spürt die Schärfe des Gegenwinds aus den eigenen Reihen, besonders aus den USA. Dieser Kardinal Burke, Leo Burke, der jetzt – zusammen mit Ihrem Kölner Alt-Kardinal Meisner – schon wieder einen Brief geschrieben hat, ist der Donald Trump der katholischen Kirche. (lacht) Aber anders als Trump, ist Burke in der Kurie jetzt kaltgestellt. Gott sei Dank. Diese Leute glauben tatsächlich, sie müssten den Papst korrigieren. Als ob sie über dem Papst stünden. So etwas ist ungewöhnlich, wenn nicht beispiellos in der Kirchengeschichte. Man kann den Papst kritisieren, mit ihm diskutieren. Das habe ich auch oft genug getan. Aber dass Kardinäle den Papst öffentlich der Verbreitung von theologischen Fehlern oder gar Irrlehren bezichtigen, das – meine ich – ist zu viel. Das ist ein Affront, den der Papst sich nicht gefallen lassen kann. Der Papst kann nicht verurteilt werden, das ist Lehre der Kirche.

Bei all Ihrer Begeisterung für den Papst – was ist mit den Kirchenreformen, die sich viele Katholiken von Franziskus erhofft hatten, wo aber faktisch noch nicht so viel passiert ist?

Wissen Sie, soweit ich ihn verstehe, ist das Zentrum seines Interesses gar nicht mehr die Kirche, schon gar nicht der innerkirchliche Betrieb, sondern das Überleben der Menschheit, die Zukunft der Erde. Beides ist in Gefahr, und man muss fragen, ob das Christentum einen Beitrag leisten kann, diese große Krise zu überwinden, an der die Menschheit zugrunde zu gehen droht.

Franziskus kümmert sich um die Umwelt, und derweil fährt seine Kirche vor die Wand?

Ich glaube, es gibt für ihn eine Hierarchie der Probleme. Wenn die Erde zugrunde geht, haben sich alle anderen Probleme auch erledigt. Aber was die innerkirchlichen Fragen angeht, warten Sie’s mal ab! Erst neulich hat Kardinal Walter Kasper, ein enger Vertrauter des Papstes gesagt, es werde demnächst große Überraschungen geben.

Was erwarten Sie?

Wer weiß? Vielleicht doch den Diakonat der Frau. Oder die Möglichkeit, dass verheiratete Priester wieder in der Seelsorge eingesetzt werden können. Das ist eine ausdrückliche Bitte der brasilianischen Bischöfe an den Papst, besonders seines Freundes, des emeritierten brasilianischen Kurienkardinals Claudio Hummes. Ich hörte, der Papst wolle dieser Bitte – zunächst für eine Experimentierphase in Brasilien – entsprechen. Dieses Land mit seinen 140 Millionen Katholiken sollte wenigstens 100000 Priester haben. Es gibt aber nur 18000. Institutionell gesehen, ist das eine Katastrophe. Kein Wunder, dass die Gläubigen in Scharen zu den Evangelikalen und den Pfingstlern überlaufen, die das personelle Vakuum füllen. Wenn nun die vielen Tausend verheirateten Priester ihr Amt wieder ausüben dürften, wäre das ein erster Schritt zur Besserung der Lage – und zugleich ein Impuls, dass die katholische Kirche die Fessel des Pflichtzölibats löst.

Wenn der Papst in diesem Sinne entscheiden würde – würden Sie als ehemaliger Franziskanerpater auch selber wieder priesterliche Aufgaben übernehmen?

Ich persönlich brauche eine solche Entscheidung nicht. Sie würde für mich nichts ändern, weil ich bis heute das tue, was ich immer getan habe: Ich taufe, ich beerdige, und wenn ich in eine Gemeinde ohne Priester komme, dann feiere ich zusammen mit den Leuten auch die Messe.

Ist es sehr „deutsch“, zu fragen: Dürfen Sie das denn?

Bisher hat kein Bischof, den ich kenne, das je beanstandet oder gar verboten. Die Bischöfe freuen sich sogar und sagen mir: „Das Volk hat ein Recht auf die Eucharistie. Mach also ruhig weiter!“ Mein theologischer Lehrer, der leider vor wenigen Tagen verstorbene Kardinal Paulo Evaristo Arns, zum Beispiel war da von ganz großer Offenheit. Er ging so weit, dass er verheiratete Priester, die er während der Messe in der Bank sitzen sah, zu sich nach vorne an den Altar holte und gemeinsam mit ihnen die Eucharistiefeier zelebrierte. Das hat er oft gemacht und gesagt. „Sie sind doch immer noch Priester – und Sie bleiben es!“

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