lit.Cologne„Im Kibbuz habe ich alles gelernt“

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Amos Oz stellt am Freitag sein Buch auf der lit.Cologne vor.

Amos Oz stellt am Freitag sein Buch auf der lit.Cologne vor.

Herr Oz, sehnen Sie sich heute noch nach dem Kibbuz?

AMOS OZ: Nach gewissen Momenten schon. Meine Familie und ich haben den Kibbuz Hulda vor 25 Jahren verlassen. Aber in meine Träume kehrt er noch immer zurück.

Der Kibbuz war keine Idylle?

OZ: Die Kibbuz-Bewegung ist einem übergroßen Traum entsprungen, anspruchsvoller als alle anderen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Gründer hofften, nicht nur das soziale System, die Klassengesellschaft zu verändern. Sie wollten die menschliche Natur revolutionieren. Sie glaubten, wenn sie eine Gemeinschaft schaffen, wo jeder das Gleiche isst, sich gleich kleidet, gleichermaßen Arbeit verrichtet und den gleichen Lebensstandard teilt, dass dann Selbstsucht und Egoismus verschwinden und ein neuer Mensch entsteht. Das hat sich als falscher Gedanke erwiesen. Als sich die Ideale nicht erfüllten, kamen interne Konflikte und Reibereien auf, verursacht auch durch die enge Nähe zueinander. Es gab Missverständnisse, böses Blut und Klatsch.

Dabei hat die Kibbuz-Bewegung Menschen weltweit inspiriert, nicht nur Sozialisten, auch die alternative Szene.

OZ: Unter den revolutionären Konzepten war die Kibbuz-Revolution die einzige, die ohne Erschießungskommandos, Gulags oder Konzentrationslager auskam. Im Kibbuz gab es nicht mal Polizisten. Der Kibbuz war am Ende nicht erfolgreich, aber er hat auch nicht versagt. Denken Sie an den Schuhmacher in der letzten Erzählung. Er ist ein Idealist, Internationalist und Pazifist, ein Weltreformer bis zum letzten Atemzug. Er hat keine Frau, keine Familie, niemanden. In einer großen Stadt würde er sterben wie ein Hund, im Kibbuz führt er ein beschütztes Leben. Aber die menschliche Natur verändert sich eben nicht. Auch in der Liebe hat sich seit den Tagen von König Salomon bis heute nichts geändert - höchstens die Zigarette danach, sonst nichts.

Amos Oz, 1939 in Jerusalem geboren, lebte viele Jahre im Kibbuz Hulda. Sein neues Buch "Unter Freunden" handelt von Menschen im Kibbuz, die hin- und hergerissen sind zwischen Individualität und Kollektiv. Oz ist Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Der Autor tritt am Freitag um 20 Uhr im WDR-Sendesaal auf. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" präsentiert diese Veranstaltung im Rahmen der lit.Cologne.

Amos Oz: "Unter Freunden", Deutsch von Mirjam Pressler, Suhrkamp, 216 S., 17,95 Euro. (ksta)

Wie real sind die Charaktere im Buch?

OZ: Als es in Israel erschien, haben alle in meinem alten Kibbuz Hulda schnell nachgeschaut, ob sie sich oder andere Bewohner darin erkennen. Sie haben niemanden entdeckt. Ein Kibbuz-Nachbar hat mir mal erzählt, er kämme sich immer die Haare, ehe er an meinem Studierzimmer vorbeilaufe, damit er nicht ungekämmt in einer Geschichte vorkomme. Die Figuren im Buch sind erfunden, aber basieren auf meinen Erfahrungen. Für mich war der Kibbuz die bestmögliche Universität. Ich habe dort mehr über die menschliche Natur gelernt, als wenn ich zehnmal um die Welt gereist wäre. Es war eine kleine Welt von 500 Leuten, Männer, Frauen, Kinder, Alte. Ich kannte sie alle. Ich wusste, wer was hinter wessen Rücken macht. Sie wussten ebenso alles über mich. In Tel Aviv, Berlin oder Köln wäre das unmöglich.

Haben Sie es genossen, beim Schreiben in Erinnerungen aus dem Kibbuz einzutauchen?

OZ: Jeder Autor zehrt von der Erinnerung. Schriftsteller sind verrückte Kreaturen. Ihr Hals und Kopf sind rückwärts gerichtet, eine Art Monster. Aber natürlich erfinden sie auch viel. Literatur ist eine Kombination aus Erfahrung, Erinnerung, Vorstellungsvermögen, Fantasie, Traum, Spekulation. Von allem etwas.

In Israels frühen Jahren standen die Kibbuzim im Zentrum der Gesellschaft. Inzwischen ist ihre Bedeutung marginal. Erinnert Sie noch etwas in der heutigen israelischen Gesellschaft an den Kibbuz?

OZ: Oh ja! Es gibt noch immer ein mächtiges Kibbuz-Gen, abzulesen am Hang der Israelis zu Anarchismus, an Streit- und Diskussionslust, diesem Niemand-soll-mir-sagen-was-zu-tun-ist. Jeder weiß es besser, jeder ist sozial gleich. Das alles kommt vom Kibbuz. Eine kleine Anekdote: Stanley Fischer, Direktor der Israel-Bank, wollte mit seiner Frau eine Woche Urlaub auf Zypern machen. Und so steht der Israel-Bankdirektor nach der Landung an der Gepäckausgabe und wartet auf seinen Koffer, als ihn ein israelischer Passagier anspricht: "Entschuldigen Sie, sind Sie nicht der Bankdirektor. Ist es günstiger, mein Geld hier am Flughafen zu tauschen oder lieber morgen in der Stadt?"

Ist das Chuzpe?

OZ: Chuzpe trifft die Sache nicht ganz. Der Mann war ja nur direkt und sah den Bankdirektor als Gleichgestellten. Das ist das Kibbuz-Gen. Ich mag es sehr. Erlauben Sie mir ein Geständnis: Ich liebe Israel selbst in Zeiten, wenn ich es nicht mag. Sollte ich je auf der Straße kollabieren, würde ich vorziehen, das nirgendwo anders als in Israel zu tun. Weil hier die Passanten sich sofort um mich kümmern würden.

Früher galten die Kibbuzniks als Israels stolze Pioniere. Heute gebärden sich die Siedler im Westjordanland so. Schmerzt Sie das?

OZ: Der Unterschied zwischen Kibbuzniks und Siedlern ist wie Tag und Nacht. Die Kibbuzniks haben sich mit Absicht in abgeschiedener Wildheit niedergelassen, wo es keine andere Bevölkerung gab. Das Gegenteil unternehmen die Siedler. Sie zielen darauf ab, den Palästinensern das Land wegzunehmen.

Der politische Einfluss der Siedlerlobby ist enorm. Was macht sie zu einer solch dynamischen Kraft?

OZ: Sie sind in unserem politischen System überrepräsentiert, weil sie ständig Druck machen. Aber sie sind eine Minderheit. Die Fanatiker haben die jüngsten Wahlen verloren. Die Koalition der Siedler, Ultraorthodoxen und Russen hat ausgedient. Die nächste Regierung wird eine der Rechten und der Mitte sein statt einer Regierung der Rechten und Ultrarechten. Das ist nicht mein Ideal, aber eine Verbesserung.

Ein Schritt zur Rückkehr der politischen Vernunft?

OZ: Wenn man die Israelis fragt, was wird sein, sagen 70 Prozent, am Ende laufe es auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinaus. Die breite jüdische Mehrheit hat der Westbank Goodbye gesagt.

Sie haben Premier Benjamin Netanjahu einen Feigling genannt. Trauen Sie ihm zu, sich mit den Siedlern anzulegen?

OZ: Ich bin mir nicht sicher. Aber Netanjahu hat derzeit mehr Angst vor der Weltmeinung als vor den Siedlern. Seine Feigheit könnte in beiden Richtungen funktionieren.

Das Gespräch führte Inge Günther

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