Interview mit Kerstin Gier„Die Texte bringen mich zum Heulen“

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Kinder- und Jugendbuchautorin Kerstin Gier

Frau Gier, Sie haben als Jurorin zum dritten Mal den Care-Schreibwettbewerb für Nachwuchsautoren betreut. Dieses Mal sollten junge Leute etwas zum Thema „Schäm dich“ schreiben. Was hätten Sie eingereicht?

Ich glaube, ich hätte ausgesetzt, so wenig ist mir dazu eingefallen. Glücklicherweise war das bei den Wettbewerbsteilnehmern anders.

Wobei – sowohl Ihrer Protagonistin Liv aus den Silber-Büchern als auch Gwendolyn aus der Rubinrot-Reihe passieren ständig peinliche Sachen. Und dann schämen sie sich.

Es gibt einen Unterschied zwischen Peinlichkeit und echter Scham. Scham ist für mich etwas sehr Ernstes, nicht so ein kurzes, humorvolles „Uuuupps, was hab ich denn da wieder gemacht?“. Ich weiß auch gar nicht, wann ich mich das letzte Mal geschämt habe.

Vielleicht in so Momenten, in denen ich über das Ziel hinaus geschossen bin: Wenn ich das Gefühl habe, das Opfer zu sein, dann teile ich manchmal zu stark aus. Und im Nachhinein gibt es so einen kurzen Moment, in dem ich denke: Oh, du warst zwar im Recht, aber das hättest du dir verkneifen sollen. Dann schäme ich mich manchmal. Aber im Großen und Ganzen wäre mir das Thema zu privat, deswegen hätte ich nicht mitgemacht.

Themen wie Mobbing, Obdachlosigkeit, Vergewaltigung

Was haben die Jugendlichen denn eingereicht?

Das waren sehr unterschiedliche Texte, die sich dem Thema von verschiedenen Seiten genähert haben. Müssen wir uns schämen, weil wir arm sind oder weil wir neben der Armut in Wohlstand leben? Warum schämt sich das Opfer, nicht der Täter? Und wer bestimmt eigentlich, für was wir uns schämen müssen und für was nicht?

Die Jugendlichen haben Themen wie Mobbing, Obdachlosigkeit, Vergewaltigung und Anders-Sein verarbeitet, und das in ganz unterschiedlichen Textformen, zum Beispiel Songtexte, eine Art Rap, fingierte Zeitungsartikel oder ein Minitheaterstück – das ist ja das Schöne an diesem Wettbewerb, es gibt keine Vorgaben, wie genau man das Thema in Worte umsetzen muss. Hauptsache, kreativ.

Was war Ihre Motivation, als Jurorin wieder mitzumachen?

Ach, für mich ist das einfach nur erfreulich – und ich bin jedes Mal überrascht: Die Texte sind zum Teil sehr kurz, aber so extrem emotional. Ich weine höchst selten beim Lesen, auch weil ich traurige Bücher eher vermeide. Aber bei diesen kurzen Texten schaffen die Jugendlichen es immer wieder, mich zum Heulen zu bringen. Vor allem letztes Jahr, da war das Thema „Heimat“, und viele haben über Flüchtlinge geschrieben, und ich saß da und hab Rotz und Wasser geheult.

Die ganze Zeit dachte ich: Das gibt’s doch nicht – wie machen die das? Ich glaube, die Jugendlichen schaffen das, weil sie sich noch mit Leichtigkeit in andere reinversetzen können – und sich trauen, das in der ganzen Bandbreite aufzuschreiben. Wir erwachsenen Schreiber denken immer gleich: „Nee, das ist jetzt übertrieben gefühlvoll“ oder „Da muss ich lieber nochmal nachrecherchieren“. Deshalb bin ich immer begeistert, wie grandios die Wettbewerbsteilnehmer Emotionen in den Texten ausdrücken können.

Finalisten dürfen auf der lit.Cologne lesen

Die Finalisten des Wettbewerbs dürfen auf der lit.Cologne lesen. Wie wichtig ist das Lesefest? Sie waren ja selbst auch schon oft da.

Die lit.Cologne ist sehr besonders. Man muss sich das mal vorstellen: In Köln finden im Jahr tausende Lesungen statt. Und der eine Autor, zu dessen Lesung in der Buchhandlung XY neulich nur 25 Leute gekommen sind, hat eine Veranstaltung im Rahmen der lit.Cologne – und die ist nach zehn Minuten ausverkauft. Das ist ein bisschen ungerecht. Aber es zeigt auch, welchen besonderen Stellenwert die lit.Cologne sich erarbeitet hat. Jeder kennt sie, die Leute kommen von weit her. Und natürlich auch die Autoren. Das ist schon toll, dabei zu sein.

Im Care-Wettbewerb geht es darum, Nachwuchsautoren eine Plattform zu geben – wie wichtig ist das heutzutage?

Es müsste so etwas viel öfter geben. Ich bekomme ja sehr viel Fanpost, so etwa 75 Mails pro Woche, und ich würde sagen, dass jede dritte von jemandem ist, der selbst schreibt. Die Jugendlichen möchten Tipps haben oder erzählen, dass sie schon einen ganzen Roman geschrieben haben. Und wie viel Spaß es ihnen macht, sich Geschichten auszudenken. Aber später geben die meisten das Schreiben auf. Es gibt ja auch wenig Anreiz dabeizubleiben – die Geschichten werden höchstens von den Freunden und der Familie gelesen, und von Schriftsteller als Beruf kann man träumen, aber selten Miete zahlen.

„In der Schule wird kreatives Schreiben nicht gefördert“

Ein Schreibwettbewerb ist dagegen ein echter Anreiz. Man tritt auf einer Bühne auf und bekommt einen Preis, das motiviert hoffentlich, das Talent auszubauen. In der Schule wird kreatives Schreiben ja auch nicht gefördert. Ab der siebten Klasse schreibt man nur noch langweilige Analysen. So wichtig das vielleicht für später sein mag, so schade ist es, dass man gerade in diesem spannenden Alter nur noch in seiner Freizeit kreativ schreiben darf.

Wobei kann Schreiben denn helfen?

Schreiben kann sehr dabei helfen, sich darüber klar zu werden, was man fühlt. Ob man jetzt Tagebuch schreibt oder Briefe an eine erfundene Freundin oder eben einen ganzen Roman verfasst, das ist egal. Ich glaube, dass Schreiben generell gut tut, Erwachsenen auch, aber Kindern erst recht. Für mich war Schreiben und Lesen immer etwas Grundschönes, ich habe das so geliebt als Kind. Das hat mich in eine eigene Welt gebracht und in Sicherheit gewiegt.

Mit meinem Mitteilungsbedürfnis später als Jugendliche hätte ich meine Familie garantiert in den Wahnsinn getrieben, wenn ich nicht alles mit meinem Tagebuch diskutieren hätte können. Gott sei Dank kann man heute nicht mehr lesen, weil meine Schrift so krakelig war. Aber damals war das wie Therapie. Und gerade in dieser kurzlebigen Socialmedia-dominierten Zeit, ist es noch so hübsch altmodisch, sich hinzusetzen und seine Gedanken in ordentlichen Sätzen zu formulieren. Aber ganz ehrlich, ich habe nicht das Gefühl, dass Schreiben im Aussterben begriffen ist, ganz im Gegenteil. Von dem, was ich mitbekomme, ist Schreiben und auch damit verbundene Berufswünsche wie Journalist oder Autor hoch im Kurs.

Das nächste Buch wird „Wolkenschloss“ heißen

Wie war das damals bei Ihnen? Wie haben Sie weitergemacht und es geschafft, erfolgreich zu werden?

Tatsächlich hatte ich das Schreiben im Alter zwischen 14 und 25 komplett ad acta gelegt. Ich dachte immer: Du schreibst zwar gerne, aber für was? Ich hab dann ja auch was völlig anderes studiert und sogar das Tagebuch-Schreiben hat mit der Zeit massiv nachgelassen. Ich hatte irgendwie die Verbindung verloren. Ich bin erst nach dem Studium mit 26 oder 27 wieder zum Schreiben gekommen. Da hatte ich sehr viel freie Zeit auf der Arbeit, und da stand ein Computer und auf dem hab ich meinen ersten Roman geschrieben. So habe ich wieder zum Schreiben zurückgefunden. Ich hätte mir bestimmt den Umweg mit dem Studium sparen können – wenn ich Ehrgeiz oder ein Ziel gehabt hätte.

„Mein erstes Jugendbuch war ein Herzensprojekt“

Sie haben am Anfang für erwachsene Frauen geschrieben und sind dann erst später auf Jugendbücher umgestiegen. Wie kam der Wechsel?

Eigentlich wollte ich schon immer Jugendbücher schreiben, aber in der Zeit als ich beruflich eingestiegen bin, waren diese Frauenromane ziemlich gefragt. Und weil ich wusste, dass ich das auch kann, hab ich das eben geschrieben. Aber es hat gedauert, bis das auch wirklich zu meinem Thema wurde, eigentlich erst bei den Müttermafia-Romanen. Mein erstes Jugendbuch war dann ein richtiges Herzensprojekt, und da bin ich dann geblieben. Wobei ich auch bestimmt noch mal einen Erwachsenen-Roman schreiben werde.

Ihre Fans warten sehnsüchtig – wann kommt von Ihnen etwas Neues?

Im Oktober. Aber das ist noch nicht fertig.

Fanny ist eine Schulabbrecherin aus Deutschland

Können Sie denn schon ein bisschen verraten?

Wir haben einen Titel: Das Buch wird „Wolkenschloss“ heißen. Es ist ein Jugendbuch und spielt in einem alten Grandhotel in den Schweizer Alpen in der Jetzt-Zeit. Das ist so ein leicht heruntergekommenes Luxushotel mit einer ganz stolzen Geschichte und vielen Legenden, aber es gibt wirtschaftliche Probleme, von denen die Gäste nichts ahnen. Meine Protagonistin Fanny ist eine Schulabbrecherin aus Deutschland, die dort ein Praktikum macht und über die Weihnachtsferien ein ziemlich aufregendes Abenteuer erlebt. Wenn ich es mir recht überlege, ist es auch ein Krimi. Aber das sind alles noch ganz geheime Informationen, die ich nur Ihnen verrate.

Wird das denn auch eine Trilogie?

Nein, Wolkenschloss wird ein Einzelband. Obwohl ich gerade denke: Warum? Denn nach dem Buch muss ich mich ja wieder trennen. Das tut mir schon jetzt ein bisschen leid, weil das so eine schöne Welt ist, die ich da aufgebaut habe. Ich wünschte, das Wolkenschloss gäbe es wirklich.

lit.Cologne-Veranstaltung mit Kerstin Gier und Sabine Heinrich am 11.3. um 18 Uhr im Brunosaal

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