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LiteraturBoualem Sansal fingiert eine islamistische Weltdiktatur

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Boualem Sansal

Boualem Sansal

Köln – Boualem Sansal hat seinen Humor nicht verloren. Auch nicht nach all den Todesdrohungen, die der algerische Autor und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels erhalten hat und immer noch erhält. So sagt er mit spitzbübischem Augenwinkern: „Meine Strategie ist besser als die von Salman Rushdie.“ Der Kollege habe in seinem Roman „Die satanischen Verse“ so vieles beim Namen genannt, dass ihm sofort Gotteslästerung vorgeworfen wurde. Was wiederum zu der Fatwa führte, der offiziellen Aufforderung also, ihn umzubringen. Danach sprach alle Welt nur noch über die Lebensgefahr für den Autor – aber nicht mehr über seinen Roman.

Sansal also will nicht in diese Falle tappen. Daher kommt die Vokabel „Islam“ in seinem neuen Roman „2084 – Das Ende der Welt“ nicht vor. Gleichwohl ist nichts anderes gemeint als eine islamistische Weltdiktatur: „Yölah ist groß und Abi ist sein treuer Entsandter“. In Köln stellte er die Novität nun im „Institut français“ vor, mit der Buchhandlung Bittner als Veranstaltungspartner sowie Josef Tratnik als Sprecher und Carine Debrabandère als Moderatorin.

Kritischer Umgang mit Religionen

Sansal lässt keinen Zweifel daran, dass er Religionen kritisch gegenübersteht. Dies auch aus der konkreten algerischen Erfahrung. Als die Islamisten ins Land kamen – die „pieds verts“, die grünen Füße, nach den „pieds noirs“ (Schwarzfüße) der französischen Kolonialisten und den ihnen folgenden „pieds rouges“ (Rotfüße) der Sozialismus-Träumer – als also die religiösen Eiferer kamen, um die Algerier zu „retten“, seien selbst manche Intellektuelle innerhalb weniger Tage konvertiert. Sansal hat dann ein Experiment gewagt und sich in eine Moschee begeben. Hätte er sich das drei Tage länger angehört, sagt er im ausverkauften Saal, wäre er wohl „gehirnlos“ geworden,

Wer eine Diktatur etablieren wolle, der dürfe nicht nur die Herrschaft ausüben, meint der Autor. Vielmehr gehe es dann auch darum, in die Tiefe vorzudringen – in den Alltag, in die Sprache. Das habe er bei der Armee gelernt: „Innerhalb von 45 Tagen kann aus einem freien Geist ein Idiot gemacht werden.“ Er muss nur beständig mit wenigen Vokabeln versorgt werden. Wie ein Muskel erlahme, wenn er keine Nahrung bekomme, erschlaffe auch das Gehirn, wenn es nicht gefordert werde.

Zu Person und Buch

Boualem Sansal , 1949 in Algerien geboren, erhielt 2011 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Autor hat zahlreiche Romane veröffentlicht. Mit dem Islamismus befasst sich sein Essay „Allahs Narren“, der 2013 erschienen ist.

Der Roman „2084 – Das Ende der Welt“ ist von Vincent von Wroblewsky übersetzt worden und erscheint im Merlin-Verlag (288 Seiten, 24 Euro).

Im Staate Abistan, den Sansal in seinem Roman „2084“ entworfen hat, ist der Wortschatz aus diesem Grunde halbiert worden – denn „Gott ist groß, er braucht vollkommen ergebene Getreue“. Jeder Ansatz von Freiheit ist verboten. Als der zum Zweifel neigende Romanheld Ati einmal von Freiheit träumt, treibt ihn die Sorge um, dass dies jemand bemerkt haben könnte. Alles ist in dieser Science-Fiction-Welt „bestens geregelt und streng kontrolliert“.

Neunmal am Tag muss gebetet werden, und „nur Pilgern war es erlaubt, sich im Land zu bewegen, nicht frei, sondern nach genau festgelegten Terminen.“ Abi ist der Name des Herrschers, der alles unter Kontrolle hat – und so unsichtbar zu sein scheint wie der amtierende algerische Präsident Abd al-Aziz Bouteflika. Abi wird auch „Bigaye“ genannt, was selbstverständlich ein Hinweis ist auf totale Überwachung und George Orwells „Big Brother“.

Orwells „1984“ als Ratgeber

Tatsächlich ist Sansals Roman aus dem Geist von Orwells apokalyptischer Utopie entstanden. In Algerien habe er diesen Klassiker immer wieder zurate gezogen, wenn es darum ging, die Kniffe der Diktatur zu erkennen, sagt er. Das sei sehr lange gut gegangen. Bis zu jenem Zeitpunkt, als die Islamisten aus der Nachbarschaft gekommen seien – aus Saudi Arabien, dem Yemen oder Ägypten. Da habe er gemerkt, dass in Orwells „Weißbuch“ von 1949 dieser Aspekt fehle. Mit einer Variante des Gottesstaates hatte der britische Autor offenbar nicht gerechnet.

Die liefert nun Sansal in seiner beklemmend-satirischen Utopie. Sie ist eine radikale Fantasie, aber hat viele Aspekte, die in die Gegenwart des „Islamischen Staates“ verweisen: „Die Todesmaschinen liefen Tag und Nacht, man fand tausenderlei Arten, sie zu verbessern, doch selbst Sechsunddreißigstundentage hätten nicht gereicht, um den täglichen Betrieb zu sichern.“ Die Vokabeln „Holocaust“ und „Ghetto“ kommen auch vor. Wo Michel Houellebecq in seinem großen Roman „Unterwerfung“ den Weg aus der Demokratie in einen islamischen Staat erzählt, liefert Sansal nun das Szenario vom Ende aller Tage.

Ob er Angst habe, wird Sansal an diesem Kölner Abend gleich zu Anfang gefragt. Da lächelt er nur und antwortet etwas ausweichend: „Es ist ganz einfach: Ich will in meinem Land kämpfen.“ Es tue ihm weh zu sehen, dass Iraker und Syrer ihr Land verlassen müssen. „Ich denke: Was kann man sonst tun, als für sein Land zu kämpfen.“ Wenn das nicht mehr möglich sei, dann sterbe man. Er also kämpft in Algerien für Freiheit, Vielfalt und Demokratie. Auch mit diesem Roman.

Und bislang gehe es – wie gesagt – gut aus: „Ich habe noch keine Fatwa bekommen.“ Dann der Nachsatz. „Mal gucken.“

Sansals „Vorwarnung“ in seinem Roman „2084“

„Der Leser möge sich davon hüten, diese Geschichte für wahr zu

halten oder zu glauben, sie stütze sich auf irgendeine bekannte

Wirklichkeit. Nein, es ist tatsächlich alles erfunden, die Personen,

die Fakten und das Übrige, was dadurch bewiesen ist, dass die

Erzählung sich in einer fernen Zukunft und in einer fernen Welt

abspielt, die in nichts der unseren gleicht.

Die Welt von Bigaye, die ich auf diesen Seiten beschreibe, ist ein Werk reiner Erfindung, sie existiert nicht, und es gibt keinen

Grund dafür, dass sie in Zukunft existieren wird, so wenig wie die

von Meister Orwell vorgestellte Welt des Big Brother, von der er so wunderbar in seinem Weißbuch 1984 erzählt hat, zu seiner Zeit existierte, in unserer existiert und wirklich keinen Grund hat, in

Zukunft zu existieren.

Schlaft ruhig, brave Leute, alles ist völlig falsch, und der Rest ist unter Kontrolle.“

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