LiteraturprojektZukunft in der Flaschenpost

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Flaschenpost

Dogan Akhanli wirft seine Flaschenpost in den Manzanares in Madrid.

Köln – Einen Zukunftsgedanken per Flaschenpost aufzugeben, die Idee gefiel Dogan Akhanli schon, bevor er am 19. August in Spanien verhaftet wurde. „Es hat etwas Widerständiges, Dringendes, das finde ich gut“, sagte er am Ufer des Rheins im Kölner Stadtteil Mülheim. Dort warf er Ende Juni probehalber eine Flaschenpost für ein Projekt in den Fluss, das „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Berliner Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ an diesem Samstag starten.

Autoren aus vielen Ländern  schreiben, was sie hoffen und befürchten. Zum Auftakt hat der in Spanien festsitzende Akhanli eine Botschaft in Madrid abgesetzt.  Nora Bossong, Hannah O’Brien und Burhan Sönmez gaben ihre Flaschen in Berlin, Köln und Istanbul auf.

In regelmäßiger Folge werden Schriftsteller irgendwo auf der Welt eine handschriftliche Botschaft auf die Reise ins Unbekannte schicken. Ihre Texte erscheinen in den Feuilletons der Zeitungen. Die Flaschenpost-Botschaften sind Plädoyers gegen eine rein zweckbestimmte, automatisierte Kommunikation und gegen das Denken in Grenzen und Schranken; Plädoyers für die Freiheit des Wortes, für Literatur, für so etwas vermeintlich Altmodisches wie das Handgeschriebene und für die Neugier auf Unbekanntes. Die Sätze der Literaten können Dialoge anstoßen, auch wenn sie nie ein Ufer erreichen sollten.

Am Ufer des Manzanares

Am 1. September steht Dogan Akhanli am Flussufer des Manzanares in Madrid. Ein schmächtiger Mann mit Hornbrille und krauser Stirn, der in Spanien gestrandet ist und dort vorerst nicht weg darf. 40 Werktage hat die türkische Justiz Zeit, ihren spanischen Kollegen zu begründen, warum sie Akhanli ausliefern sollen. Der türkischstämmige Autor mit deutschem Pass war im Urlaub in Granada verhaftet worden, wegen einer Interpol-Notiz, von der bislang niemand weiß, wie sie zustande kommen konnte.

Leise lächelnd wirft Akhanli eine Milchflasche mit einem Brief in den Fluss. Er fragt darin, ob wir zu dumm seien, um aus der Erfahrung mit Despoten lernen zu können. „Wir müssen an die Magie des Widerstandes glauben, um die Bedrohung noch rechtzeitig abzuwenden.“

Reisen, die viele Jahre dauern können

Eine Flaschenpost kann schnell zerschellen oder untergehen. Sie kann aber auch fernste Strände erreichen. Wie die Weinflasche, die 1993 bei Hennef in die Sieg geworfen und drei Jahre später in Falmouth (Maine, USA) am Ufer des Atlantik gefunden wurde.

Eine Flaschenpost kann mehr als 100 Jahre unterwegs sein. Wie die Nachricht einer Nordpolexpedition von 1874, die 1978 gefunden wurde. Die Wissenschaft nutzte 1802 erstmals die Flaschenpost, um die Geschwindigkeit der Meeresströmung zu erforschen. Dafür wurden die Flaschen mit einem Vermerk zur geografischen Lage des Ortes versehen, an dem sie zu Wasser gelassen wurden. Ihre Wege trugen die Wissenschaftler in „Flaschenkarten“ ein. So fanden sie heraus, dass eine im Bereich des Äquatorialstroms eingeworfene Flasche in 154 Tagen 2700 Seemeilen zurückgelegt hatte.

Gebrauchsanweisung inliegend

Im kleinen Maßstab soll so auch in den Zeitungen mit den Autorenbotschaften verfahren werden, die nach und nach auf die Reise gehen. Jede Flasche enthält eine „Gebrauchsanweisung“, damit etwaige Finder Kontakt zu den Projekt-Verantwortlichen oder den Autoren aufnehmen können. Alle Absende- und Fundorte werden nach und nach auf einer digitalen Karte eingezeichnet.

Flaschenpost bei Verne und Poe 

Die Welt retten, wie in Jules Vernes „Die Erfindung des Verderbens“, das werden unsere Flaschenpost-Botschaften kaum. In dem 1896 erschienenen Roman hat ein Erfinder einen Sprengstoff mit riesiger Zerstörungskraft entwickelt, der in die falschen Hände gerät – nur dank einer gefundenen Flaschenpost werden die Pläne des Bösen durchkreuzt.

Sehr wohl hingegen vermögen unsere Botschaften – wie jede Flaschenpost – die Fantasie anzuregen. In Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „Die Flaschenpost“ aus dem Jahr 1833 inspiriert eine am Strand gefundene Nachricht den Autor, wieder mit dem Schreiben zu beginnen.

Theodor W. Adorno nutzte die Flaschenpost als Metapher für seine Theorie, die auf verständige Adressaten wartete. Der von Adorno vor mehr als 50 Jahren beschriebene Rückfall der Zivilisation in die Barbarei der Massenkultur, die „intellektuelle Abklärung“ sowohl von sogenannten Künstlern wie von kritiklosen Konsumenten, hat sich im Zeitalter der Digitalisierung womöglich beschleunigt.

Das Internet befeuert die Aufklärung, es stellt Wissen für jeden bereit und hilft Menschen, sich zu vernetzen. Gleichzeitig beschleunigt es die „Abklärung“, weil sich viele in der Informations- und Unterhaltungsflut eher verlieren und logarithmengenerierte Vorschläge zur Musik-, Lektüre- oder Partnerwahl die Chance auf echte Neuentdeckungen eher verringern.

Archaischer Versandweg

Ein Post, ein Chat, eine SMS oder E-Mail sind oft im nächsten Moment schon wieder vergessen. Was aus den Botschaften in unserer „Flaschenpost“ wird, das werden die am Projekt beteiligten Zeitungen zu bewahren suchen – analog wie digital. Die Texte überhaupt auf diesem archaischen Weg zu versenden – das mag als naiv, unnütz oder überflüssig erscheinen: ein paar Glasflaschen mehr in ohnehin vermüllten Flüssen und Meeren.

So unnütz wie schön

Aber gerade das Unnütze ist oft das Schöne, das Überflüssige oft das wahrhaft Wichtige. Und ist so manche gängige Form unserer Kommunikation nicht mindestens so nutzlos oder gar absurd? Im Stundentakt zu twittern oder auf Facebook zu posten, wie supertoll doch wieder der Urlaub auf Mallorca ist. Fotos ins Netz zu stellen, auf denen man so unglaublich gut und jung aussieht. Und immerzu auf Likes zu hoffen...

Forscher aus Cambridge und Stanford haben festgestellt, dass Facebook unsere Vorlieben inzwischen besser kennt als unsere eigene Familie. Vielleicht ist all das ähnlich absurd und kafkaesk wie die Tatsache, dass Dogan Akhanli voraussichtlich zwei Monate in Spanien ausharren muss, weil die Türkei ihn für angebliche Verbrechen belangen will, mit denen Akhanli nachweislich nichts zu tun hat. Absurdität sollte jedenfalls kein Grund sein, gleichgültig zu werden. Im Gegenteil.

Hilferuf als Akt des Widerstands

Zum Auftakt des Projekts „Flaschenpost“ hat der türkische Dichter Burhan Sönmez seine Frage, die wie ein Hilferuf klingt, am Dienstag in den Bosporus geworfen. Groteskerweise ist das inzwischen mutig: Als Akhanli den Journalisten Ismail Saymaz im Juni in Köln fragte, ob er eine Flasche in Istanbul einwerfen wolle, hatte der abgesagt: „Sobald ich die Flaschenpost in den Bosporus werfe, wird man sie wieder herausfischen. Sie wird der Grund dafür sein, dass man mich foltern wird.“

Die Berliner Schriftstellerin Nora Bossong hat ihre Botschaft am Mittwoch der Spree anvertraut. Die Kölner Krimiautorin Hannah O’Brien alias Hannelore Hippe ihre dem Rhein. Das Projekt ist keine Solidaritätsaktion für Akhanli im strengen Sinne. Eine Flaschenpost ins Irgendwo – das passt allerdings zu Akhanlis Situation wie zu seinem Leben, in dem er nun zum vierten Mal unschuldig verhaftet worden ist.

Falsche Vorwürfe

1975 kam er in türkische U-Haft, weil er eine kommunistische Zeitung gekauft hatte. Zur Zeit der Militärherrschaft Mitte der 1980er Jahre saß er 30 Monate im Gefängnis. Akhanli soll Terrorist gewesen sein, tatsächlich war er bloß Regimekritiker. Als er 2010, 19 Jahre nach seiner Flucht ins deutsche Exil, seinen todkranken Vater in der Türkei besuchen wollte, wurde er wieder festgenommen. Man warf ihm Beteiligung an einem Raubmord vor. Die Beschuldigung war eine Farce. Die Richter sprachen Akhanli frei. Das Urteil indes wurde 2013 aufgehoben. Die alten Vorwürfe haben Akhanli jetzt neu erreicht.

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