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Nachruf auf Kölner Germanist Walter HinckEin Leben für die lebendige Literatur

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Walter Hinck

Walter Hinck

Viele Germanisten erforschen bevorzugt die Literatur verstorbener Dichter – gegenüber lebenden haben sie eigenartige Berührungsängste. Walter Hinck, von 1964 bis zu seiner Emeritierung 1987 Professor für deutsche Literatur an der Kölner Uni, gehörte dezidiert nicht zu dieser Spezies.

So luzide und engagiert er über Goethe, Heine und Brecht, über Poetologie und Dramentheorie zu schreiben und zu sprechen wusste – genauso war Hinck ein hellwacher Repräsentant wie Beobachter und Beförderer des aktuellen Literaturbetriebs, dem er als vielbeschäftigter Rezensent und Juror immer wieder Impulse zu geben vermochte.

Kölner Uni-Seminare

Legendär sind seine Kölner Uni-Seminare zu schriftstellerischen Versuchen von Studenten, und noch wenige Wochen vor seinem Tod, der den 93-jährigen am vergangenen Freitag in seinem Wohnort Landau/Pfalz ereilte, war er in der FAZ zu lesen gewesen.

Für die hatte er Jahrzehnte lang als Kritiker gearbeitet – Ausweis einer agil-nimmermüden geistigen Aktivität bis buchstäblich an den Rand des Grabes. Lesern des „Kölner Stadt-Anzeigers“ ist er bekannt durch die Rezensionen der Romane seines verstorbenen Verlegers Alfred Neven DuMont.

Ein Leben zwischen Literaturwissenschaft und Literaturproduktion. Diese Zwischenstellung bezeugte die freundschaftliche Verbundenheit mit vielen Autoren – aus dem Kölner Raum seien diesbezüglich Heinrich Böll und Jürgen Becker genannt. Auch Ulla Hahn war Hincks Studentin gewesen. Vor allem aber: Hinck, der schon früh neben dem akademischen Hauptberuf geschriftstellert hatte, kam auf seine ganz späten Jahre noch selbst als Autor von Erzählungen und Gedichten mehr als nur achtbar heraus.

Interesse an den Außenseitern und Vertriebenen der Literatur

Vor kurzem erschienen unter dem Titel „Wenn aus Liebesversen Elegien werden“ gesammelte ältere und neuere Novellen, die meist um ein Thema kreisen: Die späte Begegnung von Menschen mit einer unbewältigten frühen Lebensphase, mit der sie sich in welcher Form auch immer auseinandersetzen müssen. Oft liefern Nazi-Diktatur und Krieg den Rahmen, der Biografien Verwerfungen aussetzt und individuelles Glück zerstört.

Tatsächlich wird man in einschlägigen Erfahrungen, in der fortwirkenden Erkenntnis, früh verführt und missbraucht worden zu sein, und in dem Willen, selbst alles dafür zu tun, um eine Wiederholung zu verhindern, auch ein zentrales Lebensmotiv des Handwerkersohnes aus dem niedersächsischen Selsingen wie ein Motiv für seine Arbeit als Wissenschaftler zu sehen haben.

Für sein beharrliches Interesse an den Außenseitern und Vertriebenen der Literatur, den Widerspenstigen und sich dem approbierten Mainstream Verweigernden. In seiner Autobiografie „Im Wechsel der Zeiten“ gab er auch über den hohen Preis Auskunft, den er für seinen eigenen Reifungsprozess zu zahlen hatte: Fünf Jahre Zwangsarbeit als Kriegsgefangener in Jugoslawien, weil er es abgelehnt hatte, mit Titos Geheimdienst zusammenzuarbeiten.

Konzise, stoffreiche und quellennahe Analysen

1950 in die gerade konstituierte Bundesrepublik heimkehrend, hatte Hinck viel nachzuholen. 1956 wurde er in Göttingen mit einer bahnbrechenden Arbeit über den späten Brecht promoviert. Allein die Themenwahl war ein bemerkenswertes Signal zu einer Zeit, da Brecht, den Hinck bei seiner Theaterarbeit am Schiffbauerdamm persönlich kennengelernt hatte, in Westdeutschland noch regierungsamtlich als Agitator vom Schlage eines Horst Wessel diffamiert wurde.

1964 folgte dann in Kiel – bei seinem späteren Kölner Kollegen Karl Otto Conrady – die Habilitation mit einer Studie über den Einfluss der Commedia dell’arte auf das deutsche Schauspiel der Barock- und Aufklärungszeit. Der Münchner Kollege Walter Müller-Seidel bezeichnete sie als eines jener Bücher, „die jeder Germanist einmal gelesen haben sollte“.

Diese Arbeiten – konzise, stoffreiche und quellennahe Analysen, die bereits damals wohltuend den elitären Jargon der Eingeweihten vermieden – etablierten Hinck nicht nur als einen der führenden Vertreter seines Fachs, sondern bezeichneten auch das Terrain, dem seit jeher seine persönliche Leidenschaft galt: das Theater. In Hincks Kölner Zeit gab es kaum eine Schauspielpremiere, auf der man ihn nicht antreffen konnte. Auch Jürgen Flimm, der nachmalige Kölner Intendant, zählte zu seinen Schülern.

Sternstunde der Germanistik

Nach seiner Emeritierung nahm Hincks wissenschaftlich-essayistische Produktivität noch einmal staunenswert zu: Unter anderem entstanden das Buch über Heine und den Antisemitismus sowie eine Geschichte der deutschen Lyrik in 100 Einzelinterpretationen – sie wird man ob der sensibel-genauen Lektüre der Texte und ihrer Einbettung in weitläufige Zusammenhänge als Sternstunde der Germanistik bezeichnen dürfen.

Über all dies hinaus bleibt Hinck den vielen, die ihn kannten, als lebhaft-liebenswürdiger, stets zur Diskussion wie zum Feiern aufgelegter, als neugieriger und von weltoffener Liberalität beflügelter Zeitgenosse in Erinnerung.

Einmal wurde ihm freilich seine jeder starren Weltanschauungsdogmatik abholde Toleranz zum Verhängnis: Hinck unterhielt ausgezeichnete Beziehungen zu zwei Antipoden des Literaturbetriebs, die ihrerseits einander nicht ausstehen konnten: Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki. Nichts Böses ahnend oder gar wollend, hatte Hinck sie zu einer Party in seinem Haus in Rösrath-Hoffnungsthal eingeladen. Der Zufall wollte es, dass in der riesigen Schar der Gäste ausgerechnet diese beiden einander über den Weg liefen. Es kam zum Eklat – mit Austausch von Beleidigungen und wutschnaubendem Verlassen der Location.

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