NachrufDie Erotik des Geräusches

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Pierre Henry pflegte ein erotisches Verhältnis zu Klängen, ob zu Musik oder Geräuschen - buchstäblich. Allein in seinem Pariser Studio, umgeben von Tonbandmaschinen und allerhand elektronischem Zubehör, so erzählte er einmal, lege er gern die Kleider ab. Ein Mann, der sich schutz- und hüllenlos in den Kosmos seiner Töne warf.

Gemeinsam mit seinem Landsmann Pierre Schaeffer gehörte Henry zu den Pionieren der Musique Concrète, jenem sehr modernen Genre, dass die Musik aus der Sphäre des Konzertsaals und der Andacht hinein in den Alltag zerrte - voller Straßengeräusche und Stimmen, angereichert mit dem Stampfen des industrialisierten Schwermetalls von der Lokomotive bis zum Walzwerk. Walter Ruttmann hatte es in den 20er Jahren vorgemacht, mit seinem revolutionären Film "Weekend" über ein Wochenende in Berlin, der auf der Tonspur eine nie gehörte Montage aus ineinander verschränkten Geräuschen und Stimmen bot. Hier war sie zu hören, die "Sinfonie einer Großstadt", die vom nationalsozialistischen Banditentum mit seiner Bauernidyllik hinweggefegt wurde und nach dem Krieg in den Pariser Experimentallabors von Henry und Schaefer wieder zum Leben erwachte.

1927 wurde Henry in Frankreichs Hauptstadt geboren, und dort studierte er am Konservatorium Komposition, bei Nadia Boulanger, Felix Passerone und Olivier Messiaen. Schon als Student war er der Moderne zugewandt, und radikal verabschiedete er sich erst recht von der Tradition, als er 1949 Schaeffer kennenlernte. Dieser hatte beim französischen Rundfunk ein eigenes Studio eingerichtet, den "Club d'Essai", ein Pilgerziel für Neutöner aus aller Welt und Vorbild für ähnlich bahnbrechende Einrichtungen wie später Karlheinz Stockhausens Studio für Elektronische Musik beim Westdeutschen Rundfunk.

Für den WDR produzierte auch Henry zahlreiche Hörstücke. Sein Anker war hier das Studio Akustische Kunst des furchtlosen Klaus Schöning, der aus der Hörspielabteilung heraus Komponisten wie John Cage und viele Franzosen nach Köln holte. Dass man Henry wegen seiner pulsierenden, eben erotisch aufgeladenen Klangkunst später zum Großvater des Techno adelte, hat ihm zurecht nie gefallen. Zu diffizil war seine Kunst - im Alter von 89 Jahren ist dieser große Klangmeister des 20 Jahrhunderts gestorben.

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