NetflixFilm „To the Bone“ über Magersucht sorgt für Diskussionen

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Lily Collins spielt die an Magersucht leidende Ellen.

Lily Collins spielt die an Magersucht leidende Ellen.

Man hat sich in den Vorstandsetagen von Netflix sicherlich nicht sonderlich darüber gegrämt, dass die neueste große Eigenproduktion des Streamingdienstes wieder einmal eine Welle der Entrüstung ausgelöst hat. Kontroverse, das weiß jeder Marketingpraktikant, ist gut für das Geschäft. Mit ein wenig Zynismus könnte man Netflix gar unterstellen, die Firma hätte es mit dem am vergangenen Freitag frei geschalteten Original „To the Bone“ auf leidenschaftliche Proteste angelegt. Schließlich ist man damit in der jüngeren Vergangenheit gar nicht so schlecht gefahren.

Erst in diesem Frühjahr nahmen die Diskussionen über die Netflix-Serie „13 Reasons Why“ ans Hysterische grenzende Ausmaße an. Das Ergebnis war für Netflix erquicklich. Der Dienst enthüllt zwar keine Zuschauerzahlen, doch mehr als drei Millionen Tweets über die Serie alleine in der ersten Woche sprachen dafür, dass „13 Reasons Why“ eine der am meisten beachteten Produktionen der Saison war.

Thema sorgt für viel Aufmerksamkeit und Zuschauer

Insofern zögerte man im Silicon Valley gewiss nicht, das Rezept zu wiederholen. Man nehme ein überaus sensibles Thema für Teenager und junge Erwachsene – eine besonders attraktive Zielgruppe – und stelle es in drastischer Deutlichkeit dar. Viele Erwachsene werden schockiert sein, die Jugendlichen werden es erst recht schauen und sich darüber unterhalten. Buzz heißt das im PR-Englisch. Das Thema von „13 Reasons Why“ war Selbstmord – die Serie ein düsteres High School Drama um den Tod einer Schülerin. Der Aufschrei war vorhersehbar – die Serie, so hieß es, romantisiere den Selbstmord und drohe, labile junge Zuschauer über die Klippe zu stoßen. Freundlichere Stimmen hielten dagegen, in dem sie die Offenheit lobten, mit dem das Thema angepackt wurde.

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Ähnlich verlaufen die Fronten in der Diskussion um den neuen Netflix-Film „To the Bone“. Nur, dass es diesmal um ein anderes Problemfeld geht, mit dem nicht nur aber doch besonders junge Frauen zu kämpfen haben: Magersucht. Hauptfigur des Films ist die 20 Jahre alte Ellen, gerade noch jung genug, um der immer stärker in den Blick der Werbewirtschaft rückenden Generation Z anzugehören. Über beinahe zwei Stunden begleiten wir sie bei ihrem Kampf gegen die Anorexia Nervosa, untergraben von einer dysfunktionalen und überaus ignoranten Patchwork-Familie.

Unterstützt wird sie von ihrer Therapiegruppe, einer Ansammlung ähnlich gefährdeter junger Frauen sowie einem Quotenmann, die je ihren eigenen zähen Kampf mit der tödlichen Krankheit führen. Betreut werden sie von Keanu Reeves, der einen furchtbar hölzernen Guru gibt. Menschen, die noch nie persönlich mit der Krankheit zu tun hatten, lernen in „To the Bone“ viel über die Magersucht. Man bekommt einen Eindruck davon, welche Panik ein Teller voll Essen bei den Betroffenen auslöst. Man bekommt mit selbstironischer Distanz pathologische Verhaltensweisen wie das obsessive Kalorienzählen näher gebracht. Und man lernt in der Person von Ellens Stiefmutter, wie man sich gegenüber jemandem, der unter Magersucht leidet, auf keinen Fall verhalten sollte. Vor allem aber erzählt der Film, wie ernst und wie grausam dieses Leiden ist.

Film glorifiziere die Magersucht

Kritiker wenden unterdessen ein, dass der Film die Krankheit glorifiziere. Ellen und ihre Therapiegenossen seien zu hübsch, zu cool und zu gut angezogen, der Soundtrack zu sorgsam ausgewählt. Unter dieser Ästhetisierung gehe die Brutalität des Leidens verloren. Zudem zeige der Film Bilder, wie die des knochigen Körpers von Ellen, die bei Anorexia-Erkrankten Suchtverhalten auslösen könnten.

In der Tat sind dies die Probleme, mit denen eine solche Produktion zwangsläufig ringt. Ein Thema wie die Anorexie in seiner ganzen Schwere in einem unterhaltsamen Spielfilm darzustellen fordert einen Drahtseilakt zwischen Schock und Weichzeichnung. Doch insofern man den Kontext einer Unterhaltungsproduktion akzeptiert, ist Regisseurin Marti Noxon, selbst eine Betroffene, dieser Akt recht gut geglückt.

Dem Film gelingt fraglos das, was die Netflix-Strategen sich von ihm versprochen haben: Wie schon „13 Reasons Why“ stellt er mittels eines Schockthemas ein Massenpublikum unter der ebenso attraktiven wie labilen Zielgruppe der bis 20-Jährigen her. Die Altersgruppe in den USA, die konventionelles Fernsehen praktisch nicht mehr kennt, und 65 Prozent Ihres Unterhaltungsbedarfs durch Netflix deckt, ist eine überaus wichtige Klientel für den Dienst. Mit Produktionen wie „13 Reasons Why“ und „To the Bone“ versucht Netflix zu demonstrieren, dass sie diese Altersgruppe verstehen. Es sind die Art von Sendungen, mit deren Hilfe psychisch aufgewühlte Teenager sich untereinander verständigen und ihren Eltern zeigen können: „Schau her, so ist meine Realität.“

In einem Klima der Hypersensitivität gegenüber Trauma-Auslösern mag das viele zart besaitete Liberale provozieren. Tatsächlich ist es jedoch nicht mehr als das Comeback des guten alten Problemfilms. Und der Bedarf danach als Gegengewicht zu seichtem Eskapismus ist offenkundig auch im digitalen Zeitalter und in der Generation der um 2000 Geborenen ungebrochen.

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