Abo

Schauspiel „Ein Volksfeind“Millionen-Bauten und die „Lügenpresse“ als Theaterstück

Lesezeit 4 Minuten
Katharina Schmalenberg und Paul Herwig in Roger Vontobels Inszenierung von „Ein Volksfeind“.

Katharina Schmalenberg und Paul Herwig in Roger Vontobels Inszenierung von „Ein Volksfeind“.

Köln – „Also wenn jemand ein Bierchen will oder ein Würstchen, einfach nur melden, wir bringen das dann!“ Bei Stockmanns wird Gartenparty gefeiert. Tanzende Kinder, Flamenco-Gitarren, Smoothies mit Schuss. Und alle feiern mit. Der Zuschauertribüne im Depot 1 stehen noch zwei kleinere, im stumpfen Winkel zueinander angeordnete Tribünen gegenüber, verbunden durch eine bunte Lichterkette.

Selten begann Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ so überschwänglich. Dass die einen ihre Partylaune nur spielen, während die anderen von dieser überfallen werden, ist freilich Teil von Roger Vontobels Kölner Inszenierung. Das Publikum darf nicht nur mittrinken, schon wird es zum Tanzen und Mitsingen genötigt. Und Thomas Stockmann (Paul Herwig), der Badearzt des beschaulichen Kurortes, zu dessen Einwohnern sich die Theatergänger nun zählen dürfen, gibt auf seinem Schlagzeug den Takt vor. Alle im Gleichschritt, in Harmonie und die Aussichten sind rosig. Bald kommen die Gäste und mit ihnen das Geld. Nur Peter Stockmann (Bruno Cathomas), der Bürgermeister, will nicht richtig mitfeiern und warnt seinen übereifrigen Bruder vor Eigenmächtigkeiten.

Doch dessen Begeisterung lässt sich noch nicht einmal vom Ergebnis seiner Wasseruntersuchungen bremsen: Die angebliche Heilquelle ist ein einziger Seuchenherd. Keime, Bakterien, Schwermetalle, das Gift kommt aus den alten Gerbereien. Jetzt ist Thomas Stockmann sogar noch ein wenig euphorischer. Er wird das Heilbad retten, die Bevölkerung warnen, die Wasserleitung muss nur höher am Berg verlegt werden. Sein Enthusiasmus steckt an. Hovstad (Robert Dölle), Chefredakteur der Lokalzeitung, sieht hier seine Chance, große Politik zu machen, den Sumpf der Korruption trockenzulegen. Und selbst der vorsichtige Aslaksen (Jörg Ratjen), Vorsitzender des Hauseigentümervereins, sieht die Stunde des kleinen Mannes gekommen.

Stückbrief

Regie: Roger Vontobel

Bühne: Claudia Rohner

Kostüme: Tina Kloempken

Musik: Keith O'Brien

Mit: Paul Herwig, Katharina Schmalenberg, Bruno Cathomas, Robert Dölle, Thomas Brandt, Jörg Ratjen, Paul Faßnacht

Termine: 22., 28. Mai; 8., 26., 28. Juni; 3. Juli, Depot 1, 120 Minuten

Populisten und Pragmatiker buhlen um das Publikum

Die Zuschauer sind Mitverschwörer. Der Bürgermeister sieht nicht die Rettung, sondern den drohenden Ruin. Der Neubau der Wasserleitungen würde Millionen verschlingen, hält er seinen Bruder vor, mindestens drei Jahre in Anspruch nehmen, „und du weißt ja, wie lange Bauten sich verzögern können!“. Herzhaftes Lachen im Publikum.

Das Spiel wird immer mehr zum Townhall Meeting, in dem Populisten und Pragmatiker, Prinzipienreiter und Wendehälse um die Gunst des Publikums buhlen. Redakteur und Funktionär feiern in einem Moment den Aufrührer als Held der Zivilgesellschaft, lassen sich gleich im nächsten mit etwas Druck des Bürgermeisters vom Gegenteil überzeugen. Prompt wird der Badearzt, der sich gerade noch Paraden zu seinen Ehren ausgemalt hat, zum Volksfeind erklärt. Immerhin, so Hovstad, sei es die Pflicht des Redakteurs mit seinen Lesern übereinzustimmen. Was die Frau des Badearztes (Katharina Schmalenberg) mit „Lügenpresse“ quittiert. Da müssten die Sympathien des Publikums eigentlich klar verteilt sein. Doch dann klagt der klüngelnde Bürgermeister, dass es früher auf Argumente Gegenargumente gab, man sich schließlich irgendwo in der Mitte traft. Und heute? Will man sich gleich prügeln! Sein Bruder antwortet mit Trommelschlägen, äfft seine Gegner nach, steigert sich in eine Hassrede hinein – gegen die bürgerliche Gesellschaft, gegen die liberale Trottel-Mehrheit, mit der er auch auf AfD-Parteitagen reüssieren könnte.

Das 130 Jahre alte Drama „Ein Volksfeind“ ist das Stück der Stunde. Wenn die Tribünen an die Seiten geschoben werden, der Volksfeind in einer letzten zynischen Wendung von seinem Schwiegervater (Paul Faßnacht), dem Gerbermeister (vielleicht der ursächliche Brunnenvergifter), zum Spekulanten gemacht wird, hat man genug gesehen. In dieser beherzten Strichfassung wirkt der fünfte Akt eher wie ein Anhang, der Volksfeind ist ja längst entzaubert. Aber was hat man bis dahin gesehen! Einen herrlich windigen Robert Dölle, einen fies-kriecherischen Jörg Ratjen, Katharina Schmalenberg, die sich stellvertretend fürs Publikum entrüstet und vor allem Paul Herwig und Bruno Cathomas, die sich als ungleiches, nicht unähnliches Brüderpaar zu Höchstleistungen antreiben.

Wie Herwig Beflissenheit in Demagogie kippen lässt, wie Cathomas geifert, droht und doch im Schatten seines jüngeren Bruders steht – das allein rechtfertigt den Besuch. Vor allem jedoch hat Roger Vontobel hier in vorbildlicher Klarheit gezeigt, was das überhaupt bedeutet, Stadttheater. Bravi für Ensemble und Regisseur.

KStA abonnieren