Zum 90. GeburtstagDie zehn Jahrzehnte des Martin Walser

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Die 1920er Jahre: Wasserburg

„Mein schönstes Jahr“, sagte Martin Walser einmal im Gespräch, „war mein erstes.“ In Wasserburg am Bodensee wird er am 24. März 1927 geboren. Das Restaurant mit Außenterrasse, das seine Mutter Augusta betreibt, liegt gegenüber dem Bahnhof. Später wird Walser kein Fortbewegungsmittel so oft nutzen wie den Zug, um hinaus zu fahren in die wilde deutsche Welt und dann alsbald heimzukehren in den Schutzraum Bodensee.

Die Familie muss sich strecken, um über die Runden zu kommen. Im autobiografischen Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) heißt es: „Das war das oberste Benehmensgebot überhaupt: sich immer so aufzuführen, dass niemand im Dorf Anlass fände, sich bei der Mutter zu beschweren.“ Der Blick auf die Konkurrenz im Ort war stets geschärft. Anpassung, um bestehen zu können, gehörte zum Alltag. Ein nie versiegender Quell für das literarische Werk.

Die 1930er Jahre: das Wareneingangsbuch

Die Walsers führen neben der Gastwirtschaft auch noch einen Kohlen- und Obsthandel. Da muss der Junge mit anpacken. Das Wareneingangsbuch – „es waren ja nicht immer alle 17 Spalten belegt“ – nutzt er fürs frühe Schreiben. Der Vater, ein Freund theosophischer Schriften in einem ansonsten streng katholischen Umfeld, stirbt, als Martin Walser zehn Jahre alt ist.

Die 1940er Jahre: Käthe

Kurz vor Kriegsende kommt Walser zu den Gebirgsjägern und dann als 18-Jähriger in amerikanische Gefangenschaft nach Garmisch. Ins Wohnhaus der Walsers zieht die Familie Neuner-Jehle ein, die in Friedrichshafen ausgebombt worden ist. Martin Walser verliebt sich in Katharina Neuner-Jehle, Käthe genannt.

Die beiden heiraten 1950, werden erst in Stuttgart, dann in Friedrichshafen, schließlich in Nußdorf wohnen und vier Töchter bekommen: Franziska, Johanna, Alissa und Theresia. Einen Sohn aus anderer Beziehung hat Walser auch noch: Jakob Augstein.

Die 1950er Jahre: Philippsburg

Franz Kafka, über den er seine Doktorarbeit schreibt, wird zu einem der literarischen Säulenheiligen – neben Hölderlin und Robert Walser. Es folgen erste Hörspiele und Erzählungen – und dann der Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957). Walser widmet ihn der Mutter und schenkt ihr das Geld, das ihm der Hermann-Hesse-Preis für das Manuskript eingebracht hat.

Das ist die Startbahn zum Kosmos der typischen Walser-Helden mit ihren Seelennöten in wirtschaftlichen, erotischen und gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen. In den „Ehen“ im Mittelpunkt: Hans Beumann, der im Wirtschaftswunderland durch Anpassung zum Aufsteiger wird.

Eine schöne Altklugheit in diesem Frühwerk geht so: „Ich habe immer gedacht: das Leben beginnt später. Irgendwann einmal, stelle ich mir vor, werde ich aufspringen, werde nichts durch Zögern verderben, sondern hinausrennen und das Leben wie einen Hasen jagen.“

Die 1960er Jahre: Auschwitz und Vietnam

Das Jahrzehnt beginnt mit der sprachkraftstrotzenden „Halbzeit“, dem ersten Roman der Anselm-Kristlein-Trilogie: „Erzählen, so viel wie zugeben, dabei aber heiter machende Distanz vorschützen ... So tun, als könne man sich ändern.“

Auch tritt jetzt der politische Zeitgenosse in aller Deutlichkeit hervor: 1965 schildert er, als vermutlich erster Schriftsteller, seine Eindrücke vom Auschwitz-Prozess im Frankfurter Landgericht. Sein Artikel trägt die Überschrift: „Unser Auschwitz“. Wohlgemerkt: Unser.

Das deutsche Verbrechen am jüdischen Volk bleibt ein Lebensthema. In den 70ern – da greifen wir jetzt mal vor – eröffnet Walser eine Ausstellung mit Zeichnungen von KZ-Häftlingen. Seine Worte: „Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen. Es gibt eine Zeitrechnung, in der man nicht diskutieren muss, ob Verbrechen verjähren oder nicht. Das ist die Zeitrechnung, die man Geschichte nennt.“

Auch der Vietnamkrieg fordert ihn jetzt heraus: „Seit Amerika in Vietnam seinen Menschenjagd-Krieg offen betreibt“, schreibt er 1967 im Kursbuch, „seitdem spreche ich auf die Rechtfertigungsdrogen nicht mehr an ... Für mich ist der Protest so notwendig geworden wie für die Kriegsführenden ihr Krieg.“ Seine Kritik führt dazu, dass er von einigen als Kommunist betrachtet wird. Eine Zuschreibung, die von der nächsten konterkariert wird.

Die 1970er Jahre: Deutschland

Jetzt er ist nicht mehr der Linksaußen, sondern der Rechtsaußen, weil er sich nicht abfinden will mit der deutschen „Teilungskatastrophe“. Er plädiert dafür, „dass man die Wunde namens Deutschland offen halten sollte.“ Damit habe er, erzählt er, „in den engsten Freundesbeziehungen nur Kopfschütteln bewirkt.“ Doch noch härter trifft ihn der Totalverriss seines Romans „Jenseits der Liebe“ durch Marcel Reich-Ranicki: „Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“

Walser geht so weit, das Jahr 1976 als „das schlimmste“ zu bezeichnen, das er erlebt hat. Schlimmer noch als die Jahre der „Skandalzeit“ in den kommenden Jahrzehnten. Ende des Jahrzehnts erscheint die Novelle „Ein fliehendes Pferd“ – womöglich sein größter Erfolg bei Presse und Publikum.

Reich-Ranicki glaubt nun, mit seiner 76er Kritik dazu beigetragen zu haben, und spricht von einem „Glanzstück deutscher Prosa dieser Jahre“. Walsers Sehnsucht, unabhängig zu sein von Erwartungen und Anfechtungen, ist groß und unerfüllbar. Am liebsten möchte er sich verbergen und tritt doch immer wieder ins Rampenlicht. Einer seiner Mantra-Sätze: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“

Die 1980er Jahre: Sanfte Revolution

Guter Anfang, gutes Ende. 1981 bekommt er den Büchnerpreis. Und am 11. November 1989, zwei Tage nach der Maueröffnung, schreibt er: „Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert, dass deutsche Geschichte gut verläuft. Zum ersten Mal, dass eine deutsche Revolution gelingt. Die Deutschen in der DDR haben eine Revolution geschaffen, die in der Geschichte der Revolutionen wirklich neu ist: die sanfte Revolution.“

Die 1990er Jahre: Sonntagsrede

Walsers „Sonntagsrede“, gehalten 1998 bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, wirkt weiter nach. Die aus dem Text herausgefrästen Vokabeln „Moralkeule“ und „Instrumentalisierung“ lösen immer noch reflexartige Empörung aus. Eine Schlussstrich-Mentalität wurde dem Autor vorgeworfen. Doch in seiner Rede geht es um das Gegenteil: „Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen.“

Und dann: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ Dies zielt auf Intellektuelle, die mit dem Hinweis auf Auschwitz etwa die deutsche Vereinigung hatten infrage stellen wollen. Mit Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, führt er ein qualvolles Streitgespräch. Es sind dies die Tage des Zorns, der Schärfe und des Trotzes.

Damals das Versöhnungsangebot von Ignatz Bubis nicht angenommen zu haben bedauert Walser heute sehr – sein Verhalten führt er auf eine innere Verkrampfung zurück.

Die 2000er Jahre: Tod eines Kritikers

Noch so eine Streitzeit. Walser veröffentlicht den Roman, an dem er angeblich seit 1976 gearbeitet hat, seit jenem „schlimmsten Jahr“: „Tod eines Kritikers“ (2002) wird gelesen als Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki. „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher beeilt sich, dem Roman um den Großkritiker André Ehrl-König noch vor der Veröffentlichung „ein Spiel mit antisemitischen Klischees“ vorzuwerfen – womit der Ton gesetzt ist.

Suhrkamp bringt das Werk in der wohl lieblosesten Aufmachung der Verlagsgeschichte in den Handel. Doch Hype und Hysterie katapultieren diese Satire auf den real existierenden Literaturbetrieb an die Bestsellerspitze. Eine Konsequenz: Nach dem Tod seines langjährigen Freundes Siegfried Unseld wechselt Walser 2004 zum Rowohlt-Verlag. Es ist die Scheidung des Literaturjahres.

Die 2010er Jahre: Jahrestage

Martin Walser veröffentlicht weiter in kurzer Taktung. In diesem Jahrzehnt bislang elf neue Bücher, zuletzt „Statt etwas oder Der letze Rank“ als eine Art Summe seines Denkens und Dichtens. Hinzu kommen anlässlich des 90. Geburtstags einige Sonderausgaben (in je einem Band politische Schriften, die Meßmer-Bände, zwei späte Romane: „Ein liebender Mann“ und „Ein sterbender Mann“).

Leben ist Schreiben und Schreiben ist Leben. Dabei vertrauend auf Erfahrung und Empfindung. Anselm Kristlein hat sich einst nicht vorstellen können, wie einer 60 wird. Mittlerweile kennt sich sein Autor aus. Einschlägige Nachfragen beantwortet Martin Walser gerne mit einem Zitat aus „Ohne einander“ (1993): „Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung.“

Lesung in Köln

Martin Walser liest auf Einladung des Kölner Literaturhauses am kommenden Mittwoch, 29. März, in der Comedia (Vondelstraße 4–8) aus seinem neuen Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Moderation: Denis Scheck.

„Ewig aktuell – Aus gegebenem Anlass“ bietet Aufsätze zu zeitgeschichtlichen Ereignissen zwischen 1958 und 2016 (hrsg. von Thekla Chabbi, Rowohlt, 638 Seiten, 24,95 Euro).

Sonderausgaben in je einem Band gibt es von den drei Meßmer-Bänden und den beiden Romanen „Ein liebender Mann“ und „Ein sterbender Mann“.

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