Nelson MandelaDas Gewissen einer Nation

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Mandela 2007 bei einer Rede anlässlich des Begräbnisses von Adelaide Tambo

Mandela 2007 bei einer Rede anlässlich des Begräbnisses von Adelaide Tambo

Nein, eine religiöse Figur war Nelson Mandela nicht. Und doch behandelte man ihn als eine Ikone, einen Heiligen. Seine Verehrung hatte Ausmaße angenommen, die nur wenigen der „Guten“ unter den politischen Führern des 20. Jahrhunderts zuteilgeworden ist: Mahatma Gandhi, Martin Luther King und vielleicht noch John F. Kennedy. Nelson Mandela, schwarzer Widerstandskämpfer gegen die Apartheid, Denkmal, Vater der „Regenbogennation“ Südafrika, ist am Donnerstag im Alter von 95 Jahren an den Folgen seines Lungenleidens gestorben. Seit Monaten wurde er mehr oder weniger künstlich am Leben gehalten – dennoch: Das ganze Land ist in tiefer Trauer. Nicht nur das Land, nein: Mandela hatte Freunde und Verehrer weltweit.

Jeder kennt die Biografie, die schon ihren festen Platz in den Geschichtsbüchern hat: Geboren am 18. Juli 1918 in einem Dorf nahe Umtata in der Transkei, der ärmsten Region Südafrikas am östlichen Kap; eine naturverbundene Kindheit als Hirtenjunge. Die methodistische Lehrerin konnte mit seinem Xhosa-Stammesnamen Rolihlahla (etwa „der Unruhestifter“) nichts anfangen und nannte ihn „Nelson“. Jurastudium und Weitung des politischen Horizonts als Schwarzer im Südafrika der Rassentrennung. Bürgerrechtler, Aktivist und Anführer im Afrikanischen Nationalkongress ANC und seinem bewaffneten Arm, dem „Speer der Nation“; abgeurteilt wegen Terrorismus und Landesverrats und im Jahr 1964 für lebenslänglich ins Gefängnis eingesperrt.

Als Nummer 46664 „berühmtester Häftling der Welt“ auf der Gefängnisinsel Robben Island vor Kapstadt; insgesamt 27 Jahre in Haft, unbeugsam und ungebrochen. Triumphale Freilassung 1990; Protagonist eines gewaltfreien Endes der Apartheid und der Versöhnung statt der Rache; der Friedensprozess auf Messers Schneide; Friedensnobelpreisträger 1993, gemeinsam mit dem einstigen Rassenfeind Frederik de Clerk und daraufhin erster schwarzer Staatspräsident Südafrikas von 1994 bis 1999.

Zum Millenniumswechsel zog sich Mandela aus der aktiven Politik ins Privatleben zurück. Und blieb doch immer da: als Gewissen der Nation, als Übervater, Elder Statesman. 2007 gehörte er zu den Gründern einer Gruppe von Staatsmännern und -frauen namens „The Elders“. Mit dabei Namen wie Kofi Annan, Desmond Tutu oder Jimmy Carter, die noch nicht zum alten Eisen zählen wollten. Das lose Gremium, eine Art Ältestenrat, will seine Erfahrung und Unabhängigkeit einbringen, wo sie in vielen Teilen der Welt nützlich sein kann.

„Ich bin nicht mit dem Hunger nach Freiheit geboren worden. Ich bin frei geboren worden - frei auf jede Weise, die ich kennen konnte. Frei auf die Felder nahe der Hütte meiner Mutter zu laufen, frei, in dem klaren Fluss zu schwimmen, der durch mein Dorf floss, frei, Mealies unter den Sternen zu rösten und auf dem breiten Rücken langsam dahin trottender Büffel zu reiten. (...) Erst als ich begriff, dass die Freiheit meiner Kindheit nur eine Illusion war, dass man mich bereits meiner Freiheit beraubt hatte, begann ich Hunger nach ihr zu haben.“

„Ich habe gegen die weiße Vorherrschaft gekämpft und ich habe gegen die schwarze Vorherrschaft gekämpft. Mein teuerstes Ideal ist eine freie und demokratische Gesellschaft, in der alle in Harmonie mit gleichen Chancen leben können. Ich hoffe, lange genug zu leben, um dies zu erreichen. Doch wenn dies notwendig ist, ist dies ein Ideal, für das ich zu sterben bereit bin.“

„Ich habe das Gefühl, dass alle Teile meines Körpers, Fleisch, Blut, Knochen und Seele nichts mehr als Galle sind, so sehr verbittert mich die völlige Unfähigkeit, Dir zu Hilfe zu kommen in diesen schrecklichen Momenten, die Du durchlebst.“

„Ich beschloss, niemandem zu sagen, was ich dabei war zu tun. (...) Es gibt Momente, in denen ein Führer seiner Herde vorausgehen muss, in eine neue Richtung aufbrechen, mit dem Vertrauen, dass er sein Volk auf den richtigen Weg führt.“

„Ich stehe hier vor Euch nicht als Prophet, sondern als demütiger Diener, von Euch dem Volk. Erst Eure unermüdlichen und heroischen Opfer haben meine Präsenz hier heute ermöglicht. Ich lege daher die verbleibenden Jahre meines Lebens in Eure Hände.“

„Wir werden eine Gesellschaft errichten, in der alle Südafrikaner, Schwarze und Weiße, aufrecht gehen können, ohne Angst in ihren Herzen, in der Gewissheit ihres unveräußerlichen Rechtes der Menschenwürde - eine Regenbogennation im Frieden mit sich selbst und mit der ganzen Welt.“

„Ich wusste ganz klar, dass der Unterdrücker ebenso frei sein muss wie der Unterdrückte. Ein Mensch, der einen anderen Menschen seiner Freiheit beraubt ist Gefangener seines Hasses, er ist eingesperrt hinter den Gittern seiner Vorurteile und seiner Engstirnigkeit. (... ) Als ich die Türen des Gefängnisses durchschritt, war dies meine Mission: Zugleich den Unterdrückten und den Unterdrücker befreien.“

„Eines der Probleme, die mich im Gefängnis zutiefst beschäftigten, war das falsche Bild, das ich ungewollt in der Welt verbreitet hatte: Man betrachtete mich als Heiligen. Doch ich war dies nicht, selbst wenn man auf die bodenständige Definition zurückgreift, wonach ein Heiliger ein Sünder ist, der sich zu bessern sucht.“

„Alle Bestandteile der Nation arbeiten, unser Land aufzubauen und daraus ein Wunder zu machen. Das lässt mich hoffen, wenn ich mich schlafen lege. Ich zweifele keinen einzigen Augenblick, dass wenn ich in die Ewigkeit eingehe, ich ein Lächeln auf den Lippen haben werde.“

Doch selbst vor Mandelas Haustür, in Südafrika, liegt immer mehr im Argen: Schon Thabo Mbeki, sein Nachfolger als Staatspräsident (1999-2008), konnte nicht mehr sein als ein fahler Schatten seines charismatischen Vorgängers: ein Technokrat im Maßanzug, dem der wirtschaftliche Anschluss Südafrikas an die Länder des Nordens nicht gelang. Die Regenbogennation – das gemeinsame Südafrika von Schwarz, Weiß und „Coloured“ – geriet in die Sackgasse.

Dass es unter dem aktuellen Staatsoberhaupt Jacob Zuma besser würde am Kap, konnte niemand ernsthaft hoffen: Zumas schillernder Politikstil, seine politische Biografie und Auftritte sind eher dazu angetan, jene Vorbehalte zu bekräftigen, die das „neue Südafrika“ eigentlich vergessen machen wollte. Gewalt, Kriminalität, Korruption, Diskriminierung und Auswanderung der ehemaligen weißen Führungsschicht: nur einige Schlaglichter auf die wachsenden Probleme einer Nation, in der viele schon ein Erfolgsmodell für den ganzen afrikanischen schlechthin sahen.

Immer wieder wurde Mandela in den vergangenen Monaten wegen einer Lungeninfektion ins Krankenhaus gebracht; das Land konnte sich allmählich in das unvermeidliche Loslassen fügen. Im April sorgte eine umstrittene TV-Schaltung für Grusel und Proteste, die den Greis apathisch inmitten fröhlicher selbst ernannter politischer Erben zeigte. Die Familie zerstritt sich öffentlich in kaum verhohlenem Zerren um den besten Platz an der Sonne des Namens Mandela.

Keiner kann die Zeit anhalten. 95 Jahre sind ein langes Leben. Und dennoch hätte die Nation der 1000 Denkmäler ihren „Madiba“ , ihren Vater, so dringend weiter gebraucht: den echten – keinen überlebensgroßen auf einem Bronzesockel. (kna)

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