Düsseldorfer Magreb-ViertelDas Zusammenleben in „Klein-Marokko“ hat Schaden genommen

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Bei Streetworker Franco Clemens  treffen Jugendliche aller Herren Länder aufeinander – und kommen ins Gespräch.

Düsseldorf – Marokkanisches Leben in Deutschland“ heißt eine Gruppe auf Facebook. Zu Karneval postete dort der deutsch-marokkanische Kabarettist Abdelkarim ein Selfie. Jeckes Hütchen auf dem Kopf, dazu den Kommentar: „Heute schaue ich mir den Rosenmontagszug in Köln an. Mein Nachbar hat mir gesagt: Nimm ein Fernglas mit, als Marokkaner kommst du nur bis zum Hauptbahnhof. Ich glaube, er irrt sich. Ich gehe nämlich als Deeskalations-Nafri.“

Wer wissen möchte, wie die (deutsch-)marokkanische Community tickt und warum es hakt im gegenseitigen Verständnis, findet hier eine gute Quelle. Betrieben wird die Seite von Nabil Kissani. 2003 zum Studieren nach Deutschland gekommen, Festanstellung als Sozialarbeiter, seit sechs Jahren Deutscher – eine Erfolgsgeschichte. Aber: Fühlt er sich integriert? „Ich stehe in der Mitte“, sagt er. „Ich kann die Ängste der Deutschen verstehen, aber auch die Enttäuschung der Marokkaner, die teilweise schon lange hier leben.

Der 35-Jährige trinkt keinen Alkohol und isst kein Schweinefleisch, geht regelmäßig beten und fastet während des Ramadan. „Allein durch meine Religion ist es für mich schwierig, einen Draht zu den Deutschen zu bekommen, weil sie oft denken, ich bin extrem.“

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Für 90 Prozent der Marokkaner stehe die Religion an erster Stelle. Für viele Deutsche aber ist der Islam zum Schreckgespenst mutiert. „Der Graben zwischen uns ist tiefer geworden.“

Ortstermin im sogenannten Maghreb-Viertel der Landeshauptstadt, der Gegend hinter dem Düsseldorfer Hauptbahnhof also, die nach Silvester zur Chiffre für die Kriminalität junger Nordafrikaner wurde — oft in einem Atemzug genannt mit Köln.

Frühmorgens duftet es verführerisch aus den offenen Türen der Bäckereien, wo Honig- und Mandelgebäck aufgetürmt ist. Männer sitzen bei Tee oder Saft vor den Cafés.

Bewohner nennen die Straßenzüge „Klein-Marokko“

„Oberbilk ist wie eine kleine Heimat für mich. Die kleinen versteckten Geschäfte sind wie Kopien aus Marokko“, sagt Nabil Kissani, der wie viele seiner Landsleute gerne zum Einkaufen kommt. Mehrmals in der Woche starten Busse nach Tanger oder Marrakesch und transportieren von der kompletten Schlafzimmer-Einrichtung bis zum Rollstuhl alles, was die teils seit Jahrzehnten in NRW lebenden Marokkaner ihren Verwandten in der alten Heimat zugute kommen lassen möchten. Von hier aus ist es einfacher, einen Herd nach Casablanca zu verschicken als in die Eifel: ein Kühlschrank für 150 Euro, ein Staubsauger für 35 Euro Fracht. 

Die Bewohner selbst nennen die paar Straßenzüge um die Ellerstraße in Oberbilk seit eh und je „Klein-Marokko“. „Maghreb-Viertel“ dagegen war der Begriff, den die Polizei für den internen Dienstgebrauch prägte und der von zahlreichen Medien aufgegriffen wurde. Maghreb-Viertel, das klingt nach „Nafri“, sexuellen Übergriffen, Kriminalitäts-Schwerpunkt. Die Bewohner fühlten sich dadurch  in Sippenhaft genommen und unter Generalverdacht gestellt.

Was haben sie denn, fragen sie, mit den jungen nordafrikanischen Intensivtätern zu tun, die ihr Viertel in Beschlag genommen hatten? „Wegen ein paar faulen Kartoffeln ist doch nicht gleich der ganze Sack dreckig“, sagt Badr Haddad. Der Restaurant-Besitzer will mit seinem Lokal „La Grilladine“ ein „schöneres Bild von Marokko“ vermitteln. Dieses Silvester wäre er beinah zum Kölner Hauptbahnhof gefahren – „um Rosen zu verteilen“. Doch dann ist ihm etwas dazwischengekommen.

Analyseprojekt „Casablanca“ hat Wirkung gezeigt

Das Viertel ist mittlerweile wieder zur Ruhe gekommen – zumindest an der Oberfläche. Die Razzien und Personenkontrollen im Rahmen des Analyseprojekts „Casablanca“, die stetige Präsenz der Polizei, die Tag und Nacht Streife fährt, haben Wirkung gezeigt. Restaurant-Besitzer Haddad bleibt aber skeptisch:  „Was passiert, wenn die Täter, die im Moment im Knast sitzen, wieder rauskommen?“ Er befürchtet, dass sich die Lage dann wieder verschärft.

Noch 2016 hatte sich sein Lokal geradezu im Belagerungszustand befunden. Gruppen junger Männer — „Desperados, die nichts zu verlieren haben und gnadenlos sind“, wie Haddad sagt — lungerten vor seiner Tür  herum, verkauften Drogen, verschreckten die Gäste. Haddad hat ihnen trotzdem immer wieder belegte Sandwiches nach draußen gebracht — umsonst. „Die haben mir auch ein bisschen leidgetan. Immerhin sind es meine Landsleute“, sagt der 33-Jährige. Aber er habe ihnen auch sehr deutlich gemacht, dass sie nach Hause zurückkehren sollen.

„Diese Leute wollen nicht arbeiten. Sie kennen die Kultur hier nicht. Sie sehen auf der Straße ein Paar, das sich küsst, und glauben, es gibt keine Grenzen. Wenn sie dann noch Alkohol trinken, den sie nicht gewöhnt sind, werden sie aggressiv.“

Haddad und andere marokkanische Geschäftsleute haben damals selbst die Polizei informiert. Die hatte bereits Mitte 2014 das „Analyseprojekt Casablanca“ ins Leben gerufen, nachdem immer deutlicher wurde, dass sich eine Szene junger Krimineller aus Nordafrika, die nach dem arabischen Frühling des Jahres 2011 nach Europa gekommen waren, „Klein-Marokko“ als Rückzugsort ausgesucht hatte.

2016 wurden knapp 4000 Straftaten registriert

Dass nach der unkontrollierten Öffnung der Grenzen im Herbst 2015 aus verwaltungstechnischen Gründen zeitweise 80 Prozent aller nach Deutschland gekommenen Migranten aus Marokko, Algerien und Tunesien in NRW konzentriert wurden, verschärfte die Situation zusätzlich.

Die Polizei wollte das kriminelle Geflecht im Viertel durchleuchten. Allein 2016 wurden im Rahmen von großangelegten Razzien und Personenkontrollen rund 2500 Tatverdächtige mit knapp 4000 Straftaten — von Raub über Drogendelikte bis hin zu Körperverletzungen und einigen wenigen Sexualstraftaten — registriert.

Mittlerweile ist das Analyseprojekt beendet. „Die Straftaten sind deutlich zurückgegangen“, so die Bilanz von Dietmar Kneib, Chef der Kriminalinspektion Organisierte Kriminalität im Polizeipräsidium Düsseldorf und zuständig für das Projekt. „Künftig werden wir uns auf die Verfolgung der etwa 25 Intensivtäter konzentrieren, die wir im Rahmen des Projekts identifizieren konnten.“ Die großen Razzien, die auch in der alteingesessenen Bevölkerung für Unruhe sorgten, wurden zurückgefahren.

Der Lessingplatz ist eine von Bäumen gesäumte Oase im dicht bebauten Oberbilk. Bei schönem Wetter kommen inzwischen wieder die Eltern mit ihren Kleinkindern auf den Spielplatz, auf dem Bolzplatz kicken Jugendliche. An einer Ecke stehen ein paar Alkoholabhängige. Seit der Kölner Jugendträger „Rheinflanke“ mit einem Projekt das bunt gestrichene Häuschen auf dem Platz bezogen hat, ist Leben auf „den Lessing“ zurückgekehrt.

Vor der Bude liegen Hanteln in allen Größen aufgereiht, ein Boxsack hängt vom Dachvorsprung, drinnen gibt es eine Playstation zum Daddeln. Der Streetworker Franco Clemens, in Köln lange in Finkenberg und auf dem Kölnberg tätig, und sein Kollege Rudolph Meyer haben hier ein Angebot aufgebaut: viel Sport, aber auch Beratung für Schulabbrecher oder straffällig gewordene Jugendliche.

Ihre Hütte ist ein beliebter Treffpunkt, im Laufe des Tages schaut jeder mal vorbei, Flüchtlinge und Hiesige, Marokkaner, Griechen, Albaner, Deutsche. So wie der Betreuer, der eine  junge Straffällige sucht, die nicht zum vereinbarten Termin erschienen ist. Franco Clemens bittet einen der Jugendlichen, per WhatsApp nach dem Mädchen zu fahnden. Eine Viertelstunde später taucht sie auf dem Platz auf.

Gerade Ältere waren von den Kontrollen empört

Die Streetworker kennen die Geschichten der Lessingplatz-Besucher und vor allem: Sie bleiben im Gespräch auch mit jenen, die sich aufgrund ihrer Migrationsgeschichte immer weniger mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft identifizieren, selbst wenn sie hier geboren sind.

Als die Polizei im vergangenen Jahr bei einer groß angelegten Razzia die Straßen des Viertels abriegelte und Hunderte Männer aus den Cafés und Shisha-Bars holte, drohte die anfängliche Unterstützung für die Polizei zu kippen.

Gerade die Älteren, die schon lange hier leben und sich nie etwas zuschulden haben kommen lassen, waren empört. Ähnliche Reaktionen hat auch Franco Clemens bei seinen Jugendlichen festgestellt, die teilweise mehrfach täglich kontrolliert wurden.

„Casablanca war wichtig“, meint Clemens im Rückblick, „aber man muss jetzt aufpassen, dass das Ganze nicht nach hinten losgeht.“ Er befürchtet „Kollateralschäden“ für das Zusammenleben, wenn sich Einwanderer der zweiten und dritten Generation vom gesellschaftlichen Konsens verabschieden, weil sie sich diskriminiert fühlen. Und das, obwohl sie hier geboren wurden und Deutsche sind.

Das Misstrauen, das ist in Gesprächen zu spüren, sitzt schon jetzt tief. Husaian Fannoua sitzt in seinem Reisebüro hinter dem Schreibtisch, ein bedächtiger alter Herr, der seinen Lebensunterhalt mit Pilgerreisen, Bustransporten und Flügen nach Marokko verdient.

Vor 57 Jahren ist er aus Nador nach Deutschland gekommen. Er saß im Ausländerbeirat der Stadt Düsseldorf, ist Mitglied im Zentralrat der Marokkaner in Deutschland – ein Brückenbauer. Viele Jahre hat er sich um das gegenseitige Verständnis bemüht. Jetzt schweigt er und überlässt seinem Sohn das Reden.

Der BWL-Student, der anonym bleiben möchte, macht keinen Hehl daraus, dass er vieles anders sieht als „die Deutschen“. „Was hat es mit Religionsfreiheit zu tun, wenn in Klassenzimmern ein Kreuz hängt? Warum dürfen Juden Tiere ihrer Religion gemäß schächten und Muslime nicht? Warum wird die zwölfjährige Tochter meines Freundes von der Klassenlehrerin gefragt, ob sie ihr Kopftuch freiwillig trägt?“

Er findet, die Schule treibe damit einen Keil zwischen Vater und Tochter. Der 28-Jährige ist in Düsseldorf geboren, hat in Oberbilk ein Gymnasium besucht, besitzt einen deutschen Pass.

„Für mich ist die Integration ein Totalschaden“

Er sagt von sich: „Ich komme hier mit Sicherheit besser klar als in Marokko. Pünktlichkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, das schätze ich sehr.“ Aber es ärgert ihn, dass er immer noch gefragt wird, woher er ursprünglich kommt. Dass diese Frage in der Regel arglos gestellt sein und Interesse bekunden könnte, lässt er nicht gelten. Er will als Deutscher gesehen werden – und nimmt sich selbst nicht als solcher wahr.  

Sein Freund Kalil (Name geändert), auch er in Oberbilk geboren, formuliert es noch drastischer. „Für mich ist die Integration ein Totalschaden. Ölauge bleibt Ölauge, das war schon vor Silvester so.“ Was er über alltägliche Diskriminierung zu berichten hat, lässt sich nicht so einfach beiseite wischen. Warum, so fragt er, werde er in einer Kneipe aus heiterem Himmel von einem Unbekannten gefragt, ob er Salafist sei.

„Seit Silvester 2015 werden alle Muslime unter Generalverdacht gestellt. Der Islam ist schuld. Aber wenn an Karneval Frauen begrapscht werden, ist das  okay.“ Es habe Zeiten gegeben, da habe er abends nicht durch den Hauptbahnhof gehen können, ohne kontrolliert zu werden. Einmal musste er eine Nacht in einer Polizeizelle verbringen, weil er seinen Pass nicht dabeihatte. Wenn ihm das nicht passe, könne er ja dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist. „Was soll ich da sagen als Düsseldorfer?“

Die Frage, die dahintersteckt, stellt er gleich hinterher:  „Was ist denn ein Deutscher? Ein Deutscher heißt heutzutage eben auch Ali und hat braune Augen und dunkle, lockige Haare. Aber das haben viele noch nicht kapiert.“

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